Zurück in den Armen des Highlanders

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Wunderschön, adlig, mit einer stattlichen Mitgift: Auf jedem Ball steht Lady Ainsley Matthews im Mittelpunkt, wird gefeiert und umschwärmt. Sie genießt es – bis ihr ein grausamer Verehrer Gewalt antut! Voller Angst vor den Konsequenzen flieht die gefallene Lady auf das Anwesen ihrer Tante nach Schottland, in die Heimat von Highlander Royal Kendrick. Einst hat der breitschultrige Schotte sie zärtlich umarmt, heiß geküsst und ihr seine Liebe gestanden. Dass er sie noch immer begehrt, erkennt Ainsley bei ihrem ersten Wiedersehen sofort. Doch wie wird Royal reagieren, wenn sie ihm ihr Geheimnis verrät und ihn anfleht, sie zu retten?


  • Erscheinungstag 20.07.2021
  • Bandnummer 368
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500906
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London,

Februar 1816

Im matten Licht des Wintermondes war sie so betörend schön, dass selbst die tiefsten Winkel seiner ramponierten Seele auf sie reagierten. Royal Kendrick sah sie an, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder lebendig.

Dabei war Lady Ainsley Matthews nicht nur schön, sie verfügte auch über einen messerscharfen Verstand. Wenn sie von ihm Gebrauch machte, so hieß es, schlichen sich am Ende selbst die arrogantesten Gecken gedemütigt davon. Für Royal war sie wie ein spannendes Buch oder wie ein anspruchsvolles Musikstück. Für ihn war sie, mit einem Wort, vollkommen. So vollkommen, dass er nicht einmal zu hoffen gewagt hatte. Er hatte höchstens von ihr geträumt – und befürchtet, dass die Beachtung, die sie ihm schenkte, aus Mitleid geboren war.

Ein paar Stunden früher an diesem Abend hatte das Schicksal sie zusammengeführt; an der Dinnertafel im Rahmen einer extravaganten Massenveranstaltung, bei der es so laut zuging, dass es sich fast intim angefühlt hatte, nebeneinanderzusitzen. Eine ältliche, nahezu taube Matrone war Royals Tischnachbarin zur Linken gewesen, der Gast zu Ainsleys Rechter ein korpulenter Vielfraß, der sich nur für seinen vollen Teller interessierte. Sich selbst überlassen, hatten Royal und Ainsley über Gott und die Welt geplaudert und die seltene Gelegenheit genossen, sich ausnahmsweise einmal nur auf den jeweils anderen konzentrieren zu können.

Als Royal den Vorschlag gemacht hatte, den überheizten Ballsaal zu verlassen und ein wenig durch den menschenleeren, spärlich beleuchteten Korridor zu bummeln, hatte sie ohne zu zögern eingewilligt und ihn mit einem festen Blick wissen lassen, dass sie den gemeinsamen Moment genauso wollte wie er.

Doch Royal wollte mehr als den kurzen Moment. Er wollte die helle, glatte Haut, das glänzende obsidianschwarze Haar, die dunklen, dramatisch geschwungenen Brauen, die die unglaublichsten Augen der Welt überwölbten, veilchenblau, samtig und so lebhaft, dass es ihn nicht erstaunt hätte, ein Leuchten in ihnen zu entdecken. Allein Ainsleys lebenssprühende Schönheit in sich aufzunehmen verursachte ihm eine dumpfe Pein in der Herzgegend, die stärker war als alle Schmerzen in seinem Bein. Was schlechterdings an ein Wunder grenzte, zumal sein verdammtes Bein ihn seit jenem entsetzlichen Tag bei Waterloo mehr oder weniger umzubringen versuchte.

Ein anderer Teil seines Körpers peinigte ihn ebenfalls, und zwar mit unziemlicher Intensität, die sein sorgfältig drapierter Kilt jedoch glücklicherweise verbarg. Es grenzte an Irrsinn, dass Royal die am meisten umschwärmte Debütantin des ton begehrte, sie mehr begehrte als alles andere auf der Welt; mehr als ein wiederhergestelltes Bein, mehr als die Erholung seiner emotional ausgelaugten Familie, mehr als ein von Krieg und Zerstörung unbeeinträchtigtes Leben. Doch sein Verlangen nach Ainsley war aussichtslos, weil es keine gemeinsame Zukunft mit ihr geben konnte.

Sie erwiderte seinen Blick mit nachdenklich gerunzelter Stirn.

Er legte den Kopf leicht schräg. „Was ist?“

„Wir könnten in der Nische dort drüben Platz nehmen, Sir, wenn Sie Ihr Bein schonen möchten.“

Wann immer er Ainsleys Stimme hörte, stiegen Bilder einer Wiese voller Stiefmütterchen in der Farbe ihrer Augen in ihm auf, vernebelten ihm das Hirn, machten es unmöglich, zu denken.

Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Sie sehen aus, als würden Sie gleich zusammenbrechen. Was unangenehm für uns beide wäre, besonders, wenn Sie in meine Richtung fallen.“

Das war Ainsley, wie sie leibte und lebte. Was in aller Welt zog ihn nur so unwiderstehlich zu dieser verflixten Frau hin? Manch einer würde trocken behaupten, sein Begehren, aber es war mehr als körperliche Anziehungskraft, und Royal wusste es.

„Es ist nicht nötig, mich zu verhätscheln wie einen Säugling, Mylady.“ Nicht dass er oder irgendjemand sonst sich Ainsley beim Verhätscheln von Babys hätte vorstellen können.

„Dann hören Sie bitte auf, sich wie einer zu benehmen“, erwiderte sie unbeeindruckt. „Sie hinken heute schlimmer als sonst, und Sie sind ziemlich blass.“

Es gefiel ihm, dass ihr solche Einzelheiten an ihm auffielen. Was ihm nicht gefiel, war, dass diese Einzelheiten ihn wie einen Invaliden erscheinen ließen.

Du bist ein Invalide, du Narr.

Sie nahm die Angelegenheit in die Hand, führte ihn zu der Nische mit der Bank im italienischen Stil. „Setzen Sie sich, ehe Sie umkippen.“

Royal warf einen Blick in die eine, dann in die andere Richtung des Korridors. Er lag verlassen da, doch es konnten jederzeit Bedienstete oder sogar Gäste erscheinen. Ainsley und er hatten den Anstand bis jetzt tadellos gewahrt, doch das hieß nicht, dass sich das nicht rasch änderte, wenn sie halb verborgen von schweren Brokatvorhängen in dem abgeschiedenen Alkoven beisammensaßen. Aber auch wenn ihn sein eigener Ruf nicht das Geringste scherte, ihrer sollte ihm etwas bedeuten.

Sie krauste ihre hübsche Nase, fast wie ein Kaninchen, und er musste lachen.

„Mr. Kendrick, wünschen Sie zum Ballsaal zurückzukehren?“, fragte sie knapp.

„Um Gottes willen, nein. Er ist gerammelt voll mit Hohlköpfen, wie Sie selbst vorhin ganz richtig bemerkten.“

„Nun, dass Sie nicht gerade begeistert waren, sich mit mir hierherzusetzen, lässt in mir den Verdacht aufkommen, dass Sie meine Gesellschaft nicht eben anregend finden.“

„Es ist unübersehbar, dass Ihre Vermutung jeder Grundlage entbehrt.“

„Unübersehbar. Warum setzen Sie sich dann nicht?“

„Weil Sie sich nicht setzen. Ich kann nicht behaupten, dass ich ein Paradebeispiel an guten Manieren wäre, aber ich weiß, dass ein Gentleman wartet, bis die Dame Platz genommen hat.“

„Sie sind Schotte“, erwiderte sie spöttisch. „Sie wissen doch gar nicht, was gute Manieren sind.“

„Sie tun mir und meinen Landsleuten Unrecht, Sassenach.“ Er legte sich dramatisch die Hand aufs Herz. „Einen formvollendeteren Mann als einen verliebten Highlander kann es gar nicht geben.“

Sie musterte ihn schweigend, dann fragte sie vorsichtig: „Mr. Kendrick, flirten Sie etwa mit mir?“

Ja sicher. Dumm nur, dass sie es genau wissen wollte.

„Wird es Sie dazu bringen, sich endlich zu setzen, wenn ich Ihre Frage mit Ja beantworte?“ Sein Bein tat höllisch weh, der Teufel sollte es holen.

Fast schwebend, sank Ainsley auf die Bank, ordnete mit einer fließenden Bewegung ihre Röcke. „Sie hätten mich nur bitten müssen.“

„Ich dachte, das hätte ich getan.“

„Ganz sicher nicht.“

Er schüttelte den Kopf. „Und wenn schon. Ich war ein wenig durcheinander.“

„Was zweifellos an meiner überwältigenden Gegenwart liegt. Das geht allen Männern so, es muss Ihnen also nicht peinlich sein.“

Ainsley rückte ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen, und er ließ sich vorsichtig neben ihr nieder. Die Bank war so eng, dass sie dicht nebeneinandersaßen.

„Nein, es liegt an Ihren etwas überladenen Denkvorgängen“, widersprach er streitlustig.

Sie ließ ihren Fächer zuschnappen und gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Können Sie nicht wenigstens so tun, als wären Sie charmant? Alle meine anderen Bewunderer versuchen es zumindest.“

Es gelang ihm, nicht zu grinsen bei der Vorstellung, dass sie ihn als einen ihrer Bewunderer betrachtete. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich niemals vorgebe, charmant zu sein.“

„Immerhin ist es eine nette Abwechslung“, räumte sie mit einem schiefen Lächeln ein. „Denn ehrlich gesagt widert es mich an, ausschließlich von Gentlemen umlagert zu sein, die sich darin überschlagen, mir zu schmeicheln. Zumal, da ich nie sicher sein kann, ob die Komplimente mir oder meinem Vermögen gelten.“

Ihr verdammtes, riesiges Vermögen stand zwischen ihnen wie der Hadrianswall.

Denk nicht daran.

„Arme Lady Ainsley.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Ich werde mir Mühe geben, wenigstens einmal am Tag unhöflich zu Ihnen zu sein, nur um Ihnen die schreckliche Belastung ein wenig zu erleichtern.“

„Ich glaube, Sie müssen sich keine Mühe geben. Die Grobheit liegt Ihnen gewissermaßen im Blut.“

„Ich betrachte sie als einen meiner größten Vorzüge.“

„Die Londoner Gastgeberinnen könnten anderer Meinung sein. Fragen Sie zum Beispiel Lady Bassett. Wir hatten noch nicht an der Dinnertafel Platz genommen, da war es Ihnen bereits gelungen, sie zu beleidigen.“

Royal hatte nicht vorgehabt, die Gastgeberin zu brüskieren, die eine absolut vernünftige Frau zu sein schien. Er hatte sich suchend nach Ainsley umgeblickt und nicht bemerkt, dass ihre Ladyschaft mit ihm redete.

„Ich habe mich entschuldigt.“ Er zog die Brauen hoch. „Zählt das gar nicht?“

Ainsley zuckte mit den Schultern, und ein paar kleine seidige Haarsträhnen lösten sich aus ihrer Frisur. Nur mit Mühe unterdrückte Royal den Drang, sie fortzustreichen und seine Lippen auf die glatte Haut ihres anmutig geschwungenen Nackens zu pressen.

„Es spielt keine Rolle, wie unhöflich Sie sind“, sagte sie in seine Gedanken hinein. „Als reicher Earl ist Ihr Bruder ein begehrter Gast, auch wenn er Schotte ist, und wenn die Damen der guten Gesellschaft wollen, dass Lord Arnprior sich auf ihren Soireen blicken lässt, müssen sie sich mit Ihrer Anwesenheit abfinden. Denn wie es scheint, taucht seine Lordschaft nirgendwo ohne Sie auf.“

In diesem Punkt hatte sie recht. Nick erwies sich als unbeugsamer Tyrann, wenn es darum ging, ihn zurück in die Gesellschaft zu zwingen. Royal wäre froh gewesen, seine Abende in dem gemieteten Stadthaus in Mayfair verbringen zu können, in Gesellschaft eines guten Buchs, doch der große Bruder hatte beschlossen, dass es Zeit für ihn war, wieder ins Leben zurückzukehren. Royal hatte lautstark protestiert, dass das Leben für ihn nicht darin bestand, langweilige Partys zu besuchen und impertinente Fragen über den Krieg abzuwehren. Schließlich konnte er sich nicht einmal damit ablenken, dass er ein hübsches Mädchen übers Parkett wirbelte.

Er hatte das Gefühl, dass er dem Schlachtfeld von Waterloo nur entronnen war, um in der guten Gesellschaft an tiefster Langeweile zu sterben.

Erneut gab Ainsley ihm einen Klaps mit ihrem verflixten Fächer. „Sie blicken schon wieder so finster drein, und da wir beide wissen, dass unmöglich ich der Anlass sein kann, muss es etwas anderes sein, das Sie beschäftigt.“

Ihre gebieterische Haltung brachte ihn zum Lächeln. „Sie können unglaublich enervierend sein, Mylady.“

„Sie beschreiben sich selbst. An mir ist alles perfekt. Wenn Sie nicht so ein Dickkopf wären, würden Sie das erkennen.“

Oh, und ob er es erkannte. Einer schöneren, mit mehr Selbstsicherheit gesegneten jungen Dame hätte er in London erst noch begegnen müssen. Von ihrer Familie wurde Ainsley verwöhnt wie eine Prinzessin, und ihre Bewunderer lagen ihr zu Füßen wie schwachsinnige Narren. Glücklicherweise nahm sie sich nicht sonderlich ernst, und die Legion ihrer Verehrer noch weniger. Die ungewöhnliche Kombination von Überheblichkeit und Selbstironie verlieh ihr in seinen Augen einen enormen Reiz.

„Ich bin überzeugt, die Themse würde in zwei entgegengesetzte Richtungen fließen, wenn Sie mit der Hand wedeln wie seinerzeit Moses, als er das Rote Meer teilte.“ Royal lächelte.

Sie krauste die Nase. „Danke, aber ich würde es vorziehen, übers Wasser zu laufen. Allein schon, um all die ekligen Dinge, die auf dem Grund liegen, nicht sehen zu müssen.“

Er musste lachen, verstummte jedoch abrupt und verkniff sich eine derbe Verwünschung, als sich ein Muskel in seinem Oberschenkel ausgerechnet in diesem Moment schmerzhaft zusammenkrampfte.

„Ihr Bein macht Ihnen Probleme.“ Sie legte besorgt die Stirn in Falten. „Wir sollten in den Ballsaal zurückkehren. Wahrscheinlich ist es hier im Korridor zu kalt für Sie.“

Royal lächelte unter Schmerzen. „Ist Ihnen kalt? Weil bei dem dünnen Kleid eigentlich Sie diejenige sein müssten, die friert.“

Sie trug ein lächerlich zartes Fähnchen von einer Abendrobe, mit winzigen Flügelärmeln, die ihr bei der geringsten Bewegung von der Schulter glitten. Der schleierartige Stoff war modisch gesehen der letzte Schrei, aber als Kleid der reinste Wahnsinn mitten im Winter.

„Mir ist nie kalt. Sie dagegen sind noch nicht wieder vollkommen genesen und sollten sich nicht in zugigen Korridoren herumtreiben. Ich weiß auch nicht, warum ich mich habe überreden lassen, mit Ihnen hierherzukommen.“

Sie machte Anstalten, sich zu erheben, doch Royal umfasste ihr Handgelenk und zog sie zurück auf ihren Platz. „Wie ich mich erinnere, waren Sie es, die mich überredete, den Ballsaal zu verlassen.“

„Unsinn. Und es gibt keinen Grund, mich zu misshandeln, Sir.“ Sie klang ein ganz kleines bisschen außer Atem.

„Das nennen Sie misshandeln?“, fragte er erstaunt.

„Absolut. Sie scheinen nicht zu wissen, wie stark Sie sind.“

Doch, das wusste er, auch wenn er sich neuerdings oft wie ein blasser Abklatsch seines früheren Selbst fühlte und manchmal befürchtete, sich in ein Nichts aufzulösen, wenn er sich nur zur Seite drehte.

„Falls ich Ihnen wehgetan habe, tut es mir leid, und ich bitte Sie um Entschuldigung.“

„Ach was. Ihnen tut gar nichts leid.“

„Wenn man mit sechs Brüdern aufwächst, spielen gesellschaftliche Nettigkeiten und Entschuldigungen keine allzu große Rolle.“

„Besonders wenn man aus dem schottischen Hochland stammt, möchte ich meinen. Meine Großmutter mütterlicherseits kommt aus Inveraray, und sie wusste viel von den wilden Männern ihres Clans zu erzählen.“

Royal horchte auf. „Kein Wunder, dass Sie mich so bezaubern. Sie haben schottische Wurzeln, und zwar in dem Teil der Highlands, aus dem ich stamme.“

Sie schien ein wenig überrumpelt von seiner Offenheit, schenkte ihm jedoch ein spöttisches Lächeln. „Ich bin nur zu einem Viertel Schottin, und ich verberge es, wo ich kann. Aber Granny Baynes war eine wunderbare Frau. Sie kannte die unglaublichsten Märchen und Legenden.“

„Wir Schotten haben einen Sinn für Dramatik, zumal wenn es um die eigene Familiengeschichte geht. Aber meine Brüder und ich waren oft genug in Abenteuer verwickelt, als wir aufwuchsen.“

Sie drehte sich in seine Richtung, um ihn anzusehen, und ihr reizvoll fester Schenkel strich an seinem gesunden Bein entlang. Das Bein und andere Teile von ihm waren sehr einverstanden.

„Sind Sie oft in Schwierigkeiten geraten, Mr. Kendrick?“

„Regelmäßig. Ich erinnere mich an einen Vorfall, bei dem der örtliche Pfarrer und der Abendmahlswein eine zentrale Rolle spielten. Die Sache hat uns mindestens zehn Jahre Fegefeuer eingebracht.“ Er lachte reumütig. „Ich weiß nicht, wie unsere Mutter das alles ausgehalten hat. Wir waren eine furchtbare Rasselbande, um es höflich auszudrücken.“

Sie lächelte aufreizend. „Für mich hört es sich an, als hätten Sie viel Spaß gehabt.“

„Den hatten wir.“

Bis ihre Eltern gestorben waren und alles furchtbar schiefgelaufen war. Royal veränderte seine Haltung auf der harten Bank, als die hässlichen Erinnerungen ihn zu überwältigen drohten.

Ainsley warf ihm einen besorgten Blick zu. „Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verkühlen?“

Zum Donnerwetter! Als Nächstes würde sie ihn noch fragen, ob er eine Flanellweste und einen heißen Grog haben wollte.

„Liebe Miss Matthews, ich bin in einem zugigen alten Schloss in den Highlands aufgewachsen. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie keine Ahnung haben, was Kälte bedeutet.“

Wieder kräuselte sie die Nase, was anscheinend ein Zeichen von Verärgerung war. „Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie rechthaberisch werden.“

„Und genauso wenig, dass Sie mich bemitleiden.“

Sie musterten einander mit einem langen finsteren Blick, dann stach Ainsley ihm mit dem Zeigefinger in die Brust.

„Erstens, ich bemitleide Sie nicht.“ Sie stach ihm mit zwei Fingern in die Brust. „Zweitens, Sie haben ganz offensichtlich Schmerzen – so offensichtlich, dass es einem Schwachsinnigen auffallen würde, und ich bin nicht schwachsinnig. Meinem Eindruck nach würden Sie, selbst wenn Sie Höllenqualen leiden, dennoch darauf beharren, dass es Ihnen gut geht.“

„Höllenqualen habe ich hinter mir. Wenn man sie einmal erlitten hat, erscheint einem alles andere als harmlos im Vergleich.“

„Und drittens“, sie machte eine Pause und atmete tief durch, „lege ich keinen Wert darauf, schuld an einem Rückfall zu sein. Ihr Bruder würde mich vermutlich mit seinem Dolch oder einer ähnlich schrecklichen schottischen Waffe erstechen.“

Royal schaffte es zu lächeln, hatte jedoch den Verdacht, dass es mehr wie eine Grimasse aussah. „Wenn es dazu kommt, stelle ich Ihnen eine unanfechtbare Urkunde aus, die Sie von allen Verantwortlichkeiten entbindet.“

Sie betrachtete ihn schweigend.

„Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen“, setzte er in beruhigendem Ton hinzu.

„Darum geht es nicht“, sagte sie nachdenklich.

„Sondern?“

„Sie haben starke Schmerzen, nicht wahr? Obwohl Sie es leugnen.“

Er zögerte. „Ja.“

„Und ich sehe, dass die Schmerzen stärker sind als sonst.“

„Woran erkennen Sie das?“, fragte er verblüfft.

Selbst wenn seine Schmerzen kaum noch erträglich waren, bemühte er sich um eine gleichmütige Miene und zwang sich, nicht zu hinken. Was Letzteres anging, so halfen ihm die neuen Übungen. Im Unterschied zu den teuren Quacksalbern, bei denen er vorher gewesen war, schien der neue Arzt, den Nick vor Kurzem aufgetan hatte, sein Handwerk zu beherrschen. Im Gegensatz zu dem ersten Kurpfuscher, bei dem er nach seiner Ankunft in London gewesen war. Der Kerl hatte nur missmutig den Kopf geschüttelt und einen robusten Gehstock sowie die lebenslängliche Verabreichung von Laudanum empfohlen. Der zweite hatte tatsächlich die Chuzpe besessen, Royal den Vorschlag zu machen, das Bein amputieren zu lassen.

Dieser spezielle Arztbesuch hatte kein gutes Ende genommen.

„Wenn Ihre Schmerzen zunehmen, werden Sie weiß um den Mund“, erwiderte Ainsley in seine Gedanken hinein. „Und Ihr rechtes Augenlid beginnt zu zucken.“

Royal starrte sie offenen Mundes an. Er wusste, dass er oft weiß wurde wie ein Leichentuch, wenn die Schmerzen ihn zu überwältigen drohten. Insofern war ihre Beobachtung nicht überraschend. Aber dass sie das Zucken seines Augenlids bemerkt hatte? Niemand war es je aufgefallen, außer seinem Großvater. Nicht einmal Nick, der ihn mit Argusaugen zu beobachten pflegte.

Sie schüttelte den Kopf. „Was mich erstaunt, ist, dass Sie sich nie beklagen.“

„Es hätte wenig Sinn, weil es nichts ändert“, entgegnete er barsch.

Bedächtig klappte Ainsley ihren Fächer auf, betrachtete die Zeichnung mit den Nymphen, die sich in einer antiken Ruine vergnügten. „Sie prahlen auch nicht damit“, sagte sie gedankenvoll. „Die meisten Männer würden das tun. Und Sie sind immerhin ein echter Kriegsheld.“

„Nur ein verdammter Spinner würde mit etwas angeben, das ihn beinahe umgebracht hat.“

Sie warf ihm einen irritierten Blick zu. „Ich rede nicht von Ihrer Verwundung, Sie Dummkopf. Sondern von den Opfern, die Sie für Ihr Land gebracht haben.“

Er ließ ein verächtliches Schnauben hören. „Opfer, die mir und all den anderen armen Idioten nur Schmerzen und Leiden eingebracht haben. Wenn man auf dem Schlachtfeld verblutet, spielt es nicht die geringste Rolle, wofür man gekämpft hat. Das Blut, das vergossen wird, ist in jedem Fall rot, ob man Engländer ist oder Franzose.“

Er hatte Ströme von Blut gesehen, einschließlich sein eigenes, wie es in den Morast des Schlachtfeldes gesickert war. In der Nacht vor der Schlacht hatte es geregnet, Royal konnte immer noch spüren, wie er in den grässlich stinkenden Matsch eingesunken war. Zu schwach, um sich auch nur herumzurollen, war er in den Pfützen beinahe ertrunken, ehe ein Infanterist ihn aus dem Graben gezogen und hinter die britischen Linien gebracht hatte.

Ainsley starrte ins Leere. „Es war ein Fehler“, sagte sie ausdruckslos.

Sein Herz krampfte sich zusammen, doch er brachte ein sarkastisches Lächeln zustande. „Mir ist klar, dass mittellose, verkrüppelte Veteranen normalerweise nicht Ihr Stil sind.“

Sie schoss ihm einen bösen Blick zu. „Sie können bemerkenswert unangenehm werden, Mr. Kendrick.“

„Ich weiß.“ Und er hasste sich dafür, hasste den Zorn und die Bitterkeit, die außer der Verzweiflung seine einzigen noch verbliebenen Waffen waren.

Sie kam auf die Füße. „Brauchen Sie Hilfe beim Aufstehen?“, fragte sie halb abgewandt.

„Ich bin nicht hilflos“, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen und stieß sich von der Bank hoch. „Sie haben Ihre Pflicht an dem armen Kriegsversehrten getan, Mylady, und können, nachdem die gute Tat vollbracht ist, mit reinem Gewissen zu Ihren Freunden zurückkehren.“

Ainsley zuckte zusammen. Er sah ihr an, dass sie sich am liebsten in den hell erleuchteten, von Stimmengewirr und Lachen erfüllten Ballsaal geflüchtet hätte. Sie wollte es, und ein Teil von ihm wollte es auch. Vielleicht nur, um die unvermeidliche Zurückweisung hinter sich zu haben und zu vergessen, wie sehr er sie anbetete.

Stattdessen straffte sie die Schultern wie ein Grenadier, und Royal wappnete sich gegen die schneidende Bemerkung, die ihr im nächsten Moment über die schön geschwungenen Lippen kommen würde und die er weiß Gott verdient hatte.

Dann sah er die glitzernden Tränen in ihren Augen, und sein Herz zog sich zusammen vor Scham.

„Sie haben es ganz falsch verstanden“, sagte sie erstickt. „Ich bemitleide Sie nicht. Ich bewundere Sie.“

Er hörte sich verblüfft auflachen. Seine Kehle war eng. „Weshalb, um Himmels willen? Ich bin ein schlecht gelaunter Narr ohne einen Funken Höflichkeit. Sie sollten eine Vase nehmen und sie mir über den Schädel hauen.“

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Locken flogen. „Sie ersparen sich Ihre Schmerzen nicht, und Sie machen auch kein großes Aufhebens darum. Sie … leben einfach damit, als machten sie Ihnen nichts aus. Ich glaube nicht, dass ich jemals so tapfer sein könnte.“

Oh doch, sie machten ihm etwas aus. Die Schmerzen waren der Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Und dass er einfach damit lebte? Welch andere Wahl hatte er? Nick hatte seinen vorgesetzten Offizieren die Stirn geboten und sein eigenes Leben und seine Karriere riskiert, um Royal vor dem sicheren Tod zu bewahren. Natürlich lebte er weiter. Um ihrer beider willen.

Ainsley würde das nie verstehen. Weshalb interessierte es sie überhaupt?

„Mylady, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.“

Sie schluckte schwer. „Ich … ich mag Sie, das ist alles. Wenn Sie es mir sagen können, warum sollte ich es nicht auch tun?“

Royal schüttelte den Kopf, außerstande sich vorzustellen, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte.

„Abgesehen davon versuche ich freundlich zu sein“, setzte sie missmutig hinzu. Unerklärlicherweise war es dieser Ton, der die Anspannung in seiner Brust löste. „Ich kann nämlich freundlich sein, wissen Sie, trotz allem, was die Leute über mich sagen. Und ich hatte mich entschieden, freundlich zu Ihnen zu sein, Sie schrecklicher Mann.“

Er trat einen Schritt auf sie zu, und Ainsley wich nicht zurück. Sie begegnete seinem Blick mit einem Ausdruck von Trotz und Verletzlichkeit.

Und Lady Ainsley Matthews war nie verletzlich.

Sacht legte er die Hand auf den lächerlich kleinen Puffärmel ihres Kleides. Er sehnte sich danach, die glatte nackte Haut unter der spitzenbesetzten Seide zu berühren, doch das traute er sich nicht. Sie kannten einander kaum, auch wenn er die Verbindung zwischen ihnen bis in seinen Brustkorb und direkt in seinem Herzen spüren konnte.

Als sie sich seiner Berührung nicht entzog, sagte er: „Es ist auch nicht nötig, dass Sie freundlich zu mir sind.“

Sie blickte zu ihm hoch. Ihre veilchenfarbenen Augen waren leicht geweitet. Verletzlichkeit und Sehnsucht standen in ihnen. Sehnsucht nach ihm? Das erschien ihm ausgeschlossen.

„Was soll das heißen?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er nahm seine Hand von ihrem Ärmel, strich über die weiche Haut ihrer Schulter und umfasste ihren Nacken.

„Das.“ Er senkte seinen Mund auf ihre leicht geöffneten Lippen.

Er schwebte in einem Nebel, einem Raunen der Leidenschaft, das die Verheißung von mehr enthielt. Ihre Lippen berührten sich kaum, doch ihre Atemzüge wurden zu einem, wurden zu einem sanften Fächeln seidiger Hitze zwischen einem Herzschlag und dem nächsten.

Es waren Momente, von denen er wusste, dass sie ihn für alle Zeit verwandeln würden, gleichgültig, was als Nächstes passierte.

Er atmete tief durch, gab sie zögernd frei und richtete sich auf, um ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen. Gemessen an den Regeln des Anstands standen sie immer noch viel zu nah beieinander. Ihre Brüste – ihre herrlichen Brüste – berührten beinahe die Vorderseite seines Abendfracks.

Er hörte Ainsley leise seufzen und hätte schwören können, dass es ein Ausdruck von Bedauern war, dann öffnete sie ihre Lider. Er wartete, dass sie zu sprechen anfing oder sich losriss und ihm eine Ohrfeige gab, doch stattdessen schenkte sie ihm ein verträumtes, süßes Lächeln. Es war so untypisch für sie, dass er beinahe gelacht hätte. Oder fast zusammengebrochen wäre vor lauter Freude.

Erstaunen durchflutete ihn, und er rang um einen sicheren Stand in dem emotionalen Erdbeben, das ihn ereilt hatte. „Lady Ainsley, sollten Sie sich nicht entschuldigen dafür, dass Sie mich ausgenutzt haben? Ich bin einigermaßen schockiert, wie ich gestehen muss.“

Sie blinzelte und ihr Lächeln verblasste. Ihre Miene wurde ausdruckslos.

Er war ein Schwachkopf sondergleichen, sich über ihren ersten Kuss lustig zu machen – noch dazu auf eine so unfassbar dumme Art und Weise.

Dann kicherte sie, ein zauberhaftes, perlendes Lachen, das an ihm vorbeitrieb wie Schmetterlinge in einer sommerlichen Brise. Alles an ihr war magisch. Sie verwandelte die Luft, die er atmete, und machte ihn schwindelig.

Spielerisch klopfte sie ihm auf die Schulter. „Mr. Kendrick, wenn Sie glauben …“

„Was zum Teufel geht hier vor?“, bellte eine empörte Männerstimme hinter ihnen.

Ainsley machte einen Satz rückwärts, stieß mit den Kniekehlen an die Bank. Royals Arm schoss vor, um sie zu stützen, doch sein verdammtes Bein entschied sich ausgerechnet in diesem Moment, unter ihm nachzugeben, und er drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten. Sie stemmte beide Hände gegen seine Brust und bewahrte ihn vor einem demütigenden Sturz.

„Sind Sie in Ordnung?“

„Ja“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und warf dem hochgewachsenen Mann, der auf sie zugestürmt kam wie ein wilder Eber, einen Blick zu. „Wer zur Hölle ist das?“

„Der Marquess of Cringlewood.“ Ihre Stimme klang angespannt.

„Nie von ihm gehört.“

Sie warf ihm einen grimmigen Blick zu. „Das wird sich gleich ändern, fürchte ich. Und bitte, Mr. Kendrick, lassen Sie mich mit ihm reden.“

Ainsley trat vor, wie um ihn zu schützen. Obwohl Royal nichts lieber getan hätte, als sie hinter sich in Sicherheit zu bringen, brauchte er alle Kraft, um sich auf den Beinen zu halten.

„Was für eine Überraschung, Mylord“, begrüßte Ainsley den Eindringling, als er sie erreichte. „Ich hatte nicht so bald mit Ihrer Rückkehr gerechnet.“

Ihre unterkühlte, wohlerzogene Gewandtheit wirkte wie ein Schutzschild. In der Haltung ihrer Schultern jedoch zeigte sich ihre Anspannung. Royal konnte sie sehen und fühlen. Wenn ihn nicht alles täuschte, war Ainsley mehr als verlegen. Sie war regelrecht schockiert.

„Lady Ainsley, was machen Sie hier draußen?“ Cringlewood verzog das Gesicht wie ein Bühnenschurke. „Und wer zum Teufel ist dieser Mensch?“

Royal trat an Ainsleys Seite und ergriff ihren Arm. Sie zuckte erschrocken zusammen.

„Nehmen Sie Ihre Hand fort, Sie Flegel.“

Es fehlte nicht viel, und Royal hätte die Augen verdreht angesichts der Theatralik des Mannes.

„Mylord, es besteht kein Anlass zur Aufregung.“ Ainsley machte sich los. „Mr. Kendrick bot mir lediglich an, mich in den Korridor zu begleiten, wo es etwas kühler ist als in dem stickend heißen Ballsaal.“

Der Marquess musterte sie missbilligend. „Ohne Chaperone? Ihre Eltern würden es sicher nicht gutheißen, wenn sie Sie ohne Begleitung erwischen würden. Ich genauso wenig, wie ich hinzufügen möchte.“

Royal schenkte ihm ein Lächeln, das hauptsächlich ein Entblößen der Zähne war. „Ihre Ladyschaft hat eine Begleitung. Mich.“

Cringlewood ignorierte ihn. „Ihre Mutter wartet auf Sie, Ainsley. Sie ist beunruhigt, weil Sie verschwunden sind.“

Der aristokratische Angeber nannte sie beim Vornamen. Es war eine schmerzliche Entdeckung für Royal, zumal sein Rivale hochgewachsen und attraktiv war und teure elegante Abendgarderobe trug, auf die er selbst niemals hoffen konnte. Schlimmer noch, der Kerl schien körperlich vollkommen unversehrt.

Als Ainsley einen Seufzer ausstieß und resigniert nickte, runzelte Royal die Stirn. Seit wann ordnete sie sich einem anderen Mann als ihrem Vater, dem Earl of Aldridge, unter?

Sacht legte er ihr die Hand auf den Arm. Verwundert sah sie zu ihm auf und schüttelte im nächsten Moment kaum merklich den Kopf, wie um ihn zu warnen.

Warnen wovor?

„Vielleicht stellen Sie mich Ihrem Bekannten offiziell vor, Mylady.“ Er schlug einen ruhigen Ton an. „Er scheint ein sehr liebenswürdiger Gentleman zu sein.“

Flüchtig malte sich Verblüffung in ihren Zügen, dann hatte sie die Kontrolle zurückgewonnen.

„Selbstverständlich, Mr. Kendrick, es ist mir ein Vergnügen, Sie mit dem Marquess of Cringlewood bekannt machen zu dürfen.“ Sie schenkte dem Marquess ein unverbindliches Lächeln. „Mr. Kendrick ist der Bruder des Earl of Arnprior.“

Der Mann rang sich ein knappes Nicken ab, dann hielt er Ainsley gebieterisch den Arm hin.

Widerlicher Aufschneider. Selbst sein Name war lächerlich.

„Ich bin über die Maßen entzückt.“ Royals Stimme troff vor Ironie. „Und da wir die Nettigkeiten nun hinter uns haben, darf ich Ihnen anbieten, Sie zurück in den Ballsaal zu eskortieren, Lady Ainsley.“ Er wandte sich zu Cringlewood um und hob eine Braue. „Ihre Dienste werden nicht mehr gebraucht, Sir.“

„Danke, das ist nicht nötig, Mr. Kendrick“, schaltete Ainsley sich hastig ein. „Lord Cringlewood wird so freundlich sein, mich zu begleiten.“

Sie wirkte alles andere als glücklich. Im Gegenteil, sie sah aus, als bekäme sie jeden Moment einen nervlich bedingten Hautausschlag.

„Sind Sie sicher?“ Royal musterte sie prüfend. „Wenn Sie sich unbehaglich mit ihm fühlen, begleite ich Sie zu Ihrer Mutter.“

Erneut malte sich Empörung in Cringlewoods Miene. „Lady Ainsley ist meine zukünftige Frau. Sie fühlt sich nicht unbehaglich in meiner Gegenwart.“

Der Fußboden unter Royals Füßen schwankte. Anscheinend drohte er erneut aus dem Gleichgewicht zu geraten, denn Ainsley umgriff seinen Ellbogen, um ihn zu stützen.

„Seien Sie vorsichtig“, sagte sie leise.

„Ist es wahr?“

„Natürlich ist es wahr“, bellte der Marquess aufgebracht. „Wenn die Saison vorbei ist, heiraten wir, wie jedem in dieser Stadt, der seine fünf Sinne beisammen hat, bekannt sein dürfte.“

„Nicht so vorschnell, Mylord“, wandte Ainsley kühl ein. „Es gibt bisher keine offizielle Ankündigung, wie Sie sehr wohl wissen.“

In Royals Brust schien etwas zu explodieren. Er hätte geschworen, dass er, wenn er an sich hinabblickte, dort, wo sein Herz gewesen war, eine klaffende Wunde entdecken würde.

Er trat einen Schritt von Ainsley fort. Es fühlte sich an wie ein Rückzug in die Dunkelheit.

„Dann sind Sie also verlobt.“ Er zwang sich zu einer knappen Verbeugung. „Gestatten Sie mir, Ihnen zu gratulieren.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich meine …“ Sie warf einen hilflosen Blick in Richtung des Marquess und verstummte.

„Ich verlange Aufklärung über das, was hier vorgeht“, blaffte Cringlewood wütend dazwischen.

Da Ainsley in angespanntem Schweigen verharrte, zuckte Royal mit den Schultern. „Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Mylord, aber Ihre Verlobte ist ein Flittchen, das nichts Besseres zu tun hat, als arglose Zeitgenossen wie mich zum Narren zu halten. Wie jeder in dieser Stadt, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiß.“

Ainsley schnappte nach Luft, doch er weigerte sich, ihr noch einen Blick zu gönnen, und humpelte davon, so schnell sein verdammtes Bein es zuließ.

1. KAPITEL

Kinglas Castle, Schottland,

April 1817

Anscheinend war er nicht einmal in der Bibliothek seines Bruders sicher.

Seufzend sah Royal von dem Buch auf, in dem er gelesen hatte. Seine Schwägerin stand im Türrahmen. Obwohl die ehemalige Victoria Knight inzwischen Countess of Arnprior und mit dem Oberhaupt des Clan Kendrick verheiratet war, ließ ihre Haltung noch immer die Gouvernante erkennen, und im Augenblick sah sie aus, als hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt.

Royal hob eine Braue. „Kann ich irgendetwas für Sie tun, Mylady?“

Als Antwort hob sie ebenfalls eine Braue. Nun, vielleicht konnten sie diese höchstwahrscheinlich unangenehme Unterhaltung auch als Mienenspiel durchführen.

Fehlanzeige. Gebieterisch hob Victoria den Zeigefinger.

„Das kannst du wirklich. Ich möchte, dass du aufhörst, ständig mit dieser Leichenbittermiene herumzulaufen. Den ganzen Winter geht das nun schon so, und langsam wird es lächerlich.“

Sie war nicht die Sorte Frau, die ihre Worte auf die Goldwaage legte oder vor einer unangenehmen Situation zurückschreckte. Und nun, da sie seine Brüder nicht mehr herumkommandieren konnte, hatte sie ihn zu ihrem besonderen Schützling auserkoren.

„Ich laufe nicht mit einer Leichenbittermiene herum. Und ich lese ein außerordentlich gutes Buch.“

Victoria warf einen Blick auf den Ledereinband, nahm ihm das Buch aus der Hand und drehte es um.

Royal wand sich unbehaglich. „Ich wollte meinen Augen nur ein wenig Erholung gönnen.“

„Sicher, was sonst“, entgegnete sie trocken.

Er hatte kaum einen Blick in das Buch geworfen, die Geschichte der Punischen Kriege, das er vor einem Monat bestellt hatte. Nach anfänglicher Begeisterung hatte er rasch das Interesse verloren, und heute war seine Aufmerksamkeit schon nach ein paar wenigen Seiten zu den windgepeitschten schroffen Gipfeln gewandert, die sich hinter dem See in der Nähe von Kinglas erhoben. Aber nicht einmal die dramatische Schönheit der Highlands schien ihn trösten zu können – jedenfalls nicht so wie früher.

Vielleicht hätte er angeln gehen sollen, was er normalerweise genoss, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen.

„Wenigstens könntest du uns bei einer Tasse Tee Gesellschaft leisten.“ Anscheinend hatte Victoria beschlossen, ihre Taktik zu ändern, denn nun schlug sie einen sanfteren Ton an. „Taffy hat Mohnkuchen gebacken, extra für dich. Sie sagte, du hättest dein Frühstück kaum angerührt. Und deinen Lunch auch nicht.“

Royals Blick glitt zum Kamin mit dem niedrigen Tisch davor, der zum Tee eingedeckt war. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Lakai das Teetablett hereingebracht hatte.

Der verständnisvolle Blick seiner Schwägerin und die Tatsache, dass Taffy, die Haushälterin, offenbar glaubte, er müsse verhätschelt werden, riefen eine unerklärliche Gereiztheit in ihm hervor.

„Versuch nicht, mich mit der Aussicht auf Süßigkeiten fügsam zu machen, Victoria. Ich bin keiner deiner Schutzbefohlenen.“

„Du hast recht. Meine Schüler legten ausnahmslos bessere Manieren an den Tag.“

„Wo sie recht hat, hat sie recht, mein Lieber“, mischte sich Nick ein, der hinter einem Stapel Akten an seinem Schreibtisch saß. „Du bist tatsächlich mit einer Jammermiene herumgelaufen. Mehr als sonst jedenfalls. Es wird Zeit, dass du etwas dagegen unternimmst.“

Als Nick und Victoria einen verstohlenen Blick tauschten, unterdrückte Royal ein Stöhnen. Diesen Überfall hatten sie eindeutig geplant.

Er legte das Buch beiseite und warf seinem älteren Bruder einen finsteren Blick zu, der jedoch keine Wirkung haben würde, wie er wusste. Der Earl of Arnprior war an die Aufsässigkeit seiner Geschwister gewöhnt. Immerhin hatte er sie nach dem Tod ihrer Eltern praktisch erzogen. Er war der großzügigste Mensch, den man sich vorstellen konnte, doch wenn es darum ging, zu bestimmen, was das Beste für seine Familie war, erwies er sich als absolut stur. Und wenn er einmal eine Entscheidung gefällt hatte, brauchte es ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz, um sie zu ändern.

„Ich laufe nicht mit einer Jammermiene herum, wie ich noch einmal betonen möchte.“ Royal setzte sich gerade auf. „Und was dich angeht, Nick, hast du nichts anderes zu tun, als dir über mich den Kopf zu zerbrechen?“

Wie gewöhnlich musste Nick mit einem Berg Arbeit, wie sie mit der Verwaltung eines Anwesens einherging, fertig werden, seinen zänkischen Highland-Clan gar nicht zu erwähnen. Jeder normale Mann wäre unter der Last zusammengebrochen, doch Nick wuchs mit der Herausforderung. Und nun, da er mit Victoria verheiratet war, hatte er endlich das Glück gefunden, das er so sehr verdiente.

Royal konnte nicht anders, als ihn um die liebende Gattin und das Gefühl von Sinnhaftigkeit zu beneiden. Zu wissen, dass das eigene Leben Bedeutung hatte, war ein zwingender Grund, morgens aufzuwachen, ein Grund, der ihm selbst seit Langem fehlte.

Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Nick sich sehr auf Royals Unterstützung verlassen. Sowohl bei der Verwaltung des Anwesens als auch bei der Erziehung der jüngeren Brüder. Nun unterstützte ihn Victoria und kümmerte sich darüber hinaus auch noch um Kade, den jüngsten Kendrick. Jahrelang war der Junge gesundheitlich anfällig gewesen, doch bei Victorias liebevoller Pflege wurde er von Tag zu Tag widerstandsfähiger.

Ja, sie war wirklich ein Segen als neue Countess of Arnprior, wenn auch nicht unbedingt für Royal. Wenn es darum ging, etwas in Ordnung zu bringen, das zu Kinglas Castle gehörte, einschließlich seiner Person, konnte seine Schwägerin genauso beharrlich sein wie ihr Gatte.

„Und du musst mich nicht anschauen, als wäre ich ein Dahinsiechender“, erklärte er ihr geduldig. „Mir geht es wirklich gut. Besser als je zuvor, um genau zu sein.“

Anstatt seiner blödsinnigen Behauptung zu widersprechen, lächelte Victoria nur. „Ganz wie du willst, mein Lieber. Aber ich fände es schön, wenn du etwas essen würdest.“

Sie streckte ihm die Hand hin.

Seufzend griff Royal danach und ließ sich auf die Füße ziehen. Heute brauchte er die Hilfe wirklich. Bei windigem, feuchtem Wetter war der Schmerz meist schlimmer als sonst, und es gab Tage, da hatte Royal das Gefühl, seine Genesung mache keinerlei Fortschritte. Er hielt sich genau an den Wechsel von Ruhe und Bewegung, den der Londoner Doktor ihm verordnet hatte, doch wenn ihm das Herz schwer war, schien auch der Schmerz in seinem Bein zuzunehmen.

„Brauchst du Hilfe?“ Nick erhob sich.

Royal versuchte sich auf den Beinen zu halten. „Ich bin kein Krüppel“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Victoria wandte sich zu ihrem Ehemann um. „Nur damit du es weißt, ich bin stärker, als ich aussehe.“

„Ich weiß. Gertenschlank und stark wie ein Ochse.“ Nick grinste.

„Wenn das die Sorte Komplimente ist, mit denen du Victoria umworben hast“, endlich hatte Royal das Gleichgewicht gefunden, „ist es ein Wunder, dass sie dich überhaupt geheiratet hat.“

Victoria lachte. „Gertenschlank und stark sagte mein Großvater immer, wenn ich mich als junges Mädchen in den Stallungen seiner Umspannstation herumtrieb. Ich war gern bei den Pferden.“

„Er hatte recht.“ Royal nickte ernst. „Dafür, dass du so zierlich bist, Sassenach, bist du ganz schön zäh.“

„Das muss ich auch sein, wenn ich unter euch wilden Highlandern überleben will“, erwiderte Victoria fröhlich, während sie gleichzeitig ein Auge auf Royal hatte und darauf achtete, dass er nicht stürzte. „Ja, schon gut, ich weiß, ich bin eine Glucke.“

Als sie sah, dass sein Blick zu den Whiskykaraffen auf dem Sideboard glitt, drohte sie ihm mit dem Finger. „Erst eine Tasse Tee und etwas essen, Royal.“

„Glucke ist eine Untertreibung.“ Er tätschelte ihr die Schulter. „Ist dir klar, dass du nicht alles in Ordnung bringen kannst, auch wenn du es noch so sehr willst?“

„Ich weiß, und ich finde es unerträglich.“ Als er lachte, boxte sie ihm gegen den Arm. „Denk bloß nicht, ich würde aufgeben.“

„Danke, dass du mich warnst.“

Nick gesellte sich zu ihnen an den Teetisch und küsste seine Frau auf den Scheitel, als sie Platz genommen hatte. „Wir setzen dir sicher zu“, sagte er an Royal gewandt. „Du hast großartige Arbeit geleistet, als es darum ging, die Familienangelegenheiten und die Verwaltung des Besitzes zu ordnen, und das angesichts der Tatsache, dass alles in einem ziemlich schlimmen Zustand war.“

„In katastrophaler Unordnung wolltest du sicher sagen.“ Royal lächelte schief.

„Lass das bloß nicht Angus hören. Er hätte mir am liebsten die Haut bei lebendigem Leib abgezogen, als ich ihm die Arbeit abnahm und sie dir übergab.“

„Ich weiß. Mir klingeln immer noch die Ohren.“

Nick lachte. „Abgesehen davon, dass Angus eine Katastrophe ist, wenn es um Papierkram geht, kommt er auch in die Jahre. Er hat es verdient, die Dinge etwas langsamer angehen zu lassen.“

Royal hob eine Braue. „Ich hoffe doch, dass du ihm das nicht gesagt hast.“ Ihr Großvater wäre am Boden zerstört gewesen, hätte er das Gefühl gehabt, dass man ihn in den Ruhestand schicken wollte.

„Da mein Selbsterhaltungstrieb recht gut ausgeprägt ist, habe ich das unterlassen.“ Nick lachte in sich hinein.

In der Zeit, als er und Royal im Krieg gewesen waren, hatte Angus die Verantwortung für Kinglas übernommen, sich um die jüngeren Kendricks gekümmert und das Anwesen verwaltet. Er hatte sein Bestes getan, doch mit gemischten Ergebnissen. Der alte Bursche lehnte alles, was auch nur entfernt nach Modernität roch, rundheraus ab, und das umfasste praktisch sämtliche Neuerungen seit dem letzten Monarchen aus dem Hause Stuart.

„Angus erwähnte, dass du die Unterlagen ganz anständig geordnet hättest.“ Victoria schenkte ihnen Tee ein. „Was aus seinem Mund wahrhaftig ein großes Lob darstellt.“

„Dem schließe ich mich an“, sagte Nick ernst. „Ich kann dir gar nicht genug danken für dein Engagement. Ich weiß, die Umstände waren grauenhaft.“

Royal zuckte mit den Schultern und griff nach einem Stück Mohnkuchen. „Schön, dass ich mich nützlich machen konnte.“

Zu seiner Verwunderung entsprach das der Wahrheit. Sein großer Bruder hatte ihn genötigt, die Aufgabe anzunehmen, damit Royal endlich den Hintern hochbekam, wie er es ausdrückte.

„Du musst einfach akzeptieren, dass du kein Soldat mehr bist.“ Nick legte seine herablassendste Art an den Tag. „Es ist Zeit für dich, herauszufinden, was du mit deinem Leben anfangen willst, und es dann auch wirklich zu tun.“

Das Problem war nur, dass Royal immer noch keine Ahnung hatte, was er eigentlich wollte.

Das Einzige, wozu er zu taugen schien, war, Ainsley Matthews hinterherzutrauern und sich zu fragen, was zwischen ihnen hätte sein können, wäre er nicht so dumm gewesen, sie im Januar zu entführen. Er hatte sie in bester Absicht verschleppt, entschlossen, sie vor einer arrangierten Ehe, die sie nicht wollte, zu retten. Natürlich hätte er ganz nebenbei die einzige Frau, bei der er sich wirklich lebendig fühlte, gewonnen, doch darum ging es nicht. Er hatte es für sie getan, und jeder Nutzen, den er vielleicht daraus gezogen hatte, wäre ein rein zufälliger gewesen.

Und natürlich wusste er, dass es völlig sinnlos war, darüber nachzudenken. Ainsley hatte ihn nicht heiraten wollen, fast genauso wenig wie den Marquess of Cringlewood. Das hatte sie ihm eindrücklich klargemacht – mit so scharfen Worten, dass es an ein Wunder grenzte, dass ihre Tirade ihn nicht verätzt hatte.

Nachdem Ainsley sich auf den Weg zum Landsitz ihrer Großtante gemacht hatte, der ein paar Stunden nördlich von Kinglas lag, war Royal in eine düstere Stimmung verfallen, die nur beachtliche Mengen Whisky zu lindern vermocht hatten. Schließlich war es Nick zu viel geworden, und er hatte seinen Bruder in das verstaubte alte Verwaltungsbüro gesteckt und ihm befohlen, zu arbeiten. Und, Wunder über Wunder, es hatte Royal gefesselt, sich mit der Geschichte seiner Familie und seines Clans zu befassen. Die Chroniken in die richtige Reihenfolge zu bringen, zu verfolgen, wie der Werdegang der Kendricks sich über die Jahrhunderte entwickelte, hatte Royal aufs Neue Respekt vor seinem Erbe eingeflößt. Es waren harte Kämpfe gewesen, mit denen die stolzen Kendricks sich ihren Platz in der Geschichte Schottlands erobert hatten, und ihre Abenteuer waren es wert, daran erinnert zu werden.

Eine Zeit lang hatte der Stolz der Kendricks sogar auf ihn abgefärbt.

„Was immer es mir jetzt nützen mag“, murmelte Royal in seine Teetasse.

Nick reckte den Kopf. „Was meintest du?“

Royal machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wie ich schon sagte, ich habe gern geholfen, zumal du mir dann nicht mehr zusetzen konntest.“

Sein Bruder gab sich pikiert. „Ich setze nie jemandem zu. Ich mache höchstens hier und da einen Vorschlag.“

Victoria verschluckte sich an ihrem Tee.

Nick klopfte ihr sacht auf den Rücken. „Alles in Ordnung, meine Liebe?“

„Irgendein Krümel in der Kehle.“ Sie tauschte einen amüsierten Blick mit Royal. Der Earl of Arnprior hatte für alle seine Angehörigen stets das Beste im Sinn, doch ob die betreffenden Familienmitglieder seine Auffassung davon, was das Beste war, teilten, war eine andere Frage.

Victoria stellte ihre Tasse ab. „Tatsache ist und bleibt, dass Royal seine Aufgaben erledigt hat – es sei denn, wir setzen ihn an die Wäschelisten.“

„Deswegen hast du wieder angefangen zu grübeln, nehme ich an.“ Nick legte die Stirn in Falten. „Weil es nichts gibt, womit du deinen Geist beschäftigst.“

Außer dem Debakel mit Ainsley, lautete die klare Botschaft.

„Bei dir hört es sich an, als hätte ich einen Zeitvertreib daraus gemacht“, erwiderte Royal missmutig.

Victoria nickte lebhaft. „Genauso ist es.“

„Und du bist verdammt gut darin“, setzte Nick ungerührt hinzu.

Royal zuckte kaum merklich zusammen. „Irgendetwas muss es ja geben, in dem ich auch gut bin.“

„Du bist in vielen Dingen gut“, widersprach Victoria sanft. „Nicht nur im Grübeln.“

Royal hob eine Braue.

„Jawohl“, bestätigte Nick mit einem aufmunternden Lächeln. „Du warst ein fähiger Gelehrter, ehe du Soldat wurdest. Und beim Fechten, Reiten und dem Training der Pferde hast du von uns allen immer am besten abgeschnitten. Du konntest Pferde zureiten, denen niemand sonst nahezukommen wagte.“

„Du hast vergessen zu erwähnen, dass ich auch der beste Schwerttänzer im ganzen County war“, fügte Royal sarkastisch hinzu. „Aber mit meinem Bein kann ich diese Kunst nicht mehr ausüben, geschweige denn Pferde trainieren, sodass ich davon leben könnte. Und da ich nicht die Absicht habe, mich für die nächste Zukunft in einer Bibliothek zu vergraben, kommt Gelehrsamkeit ebenfalls nicht infrage.“

Er sah, wie Nick und Victoria einen besorgten Blick tauschten, und seufzte. „Tut mir leid. Ich weiß, ihr versucht nur zu helfen. Es ist nur so, dass …“

„Du musstest das Kriegshandwerk aufgeben, das du so hervorragend beherrscht hast.“ Seine Schwägerin sah ihn ruhig an. „Glaub mir, ich weiß, was das heißt. Als man mich letztes Jahr wegen Mordes anklagte, hatte ich furchtbare Angst, dass ich nie wieder die Gelegenheit haben würde, zu unterrichten.“

Vor ihrer Heirat mit Nick hatte Victoria vorgehabt, eine Schule für junge Damen zu eröffnen.

Royal musterte sie neugierig. „Dir fehlt das Unterrichten?“

„Mitunter schon, obwohl ich ja das Glück habe, Kades Hauslehrerin zu sein.“ Sie schenkte ihrem Ehemann ein Lächeln. „Aber ich habe eine neue Liebe gefunden, die mir noch mehr bedeutet als das Unterrichten.“

Genau wie sie hatte auch Royal geglaubt, eine neue Liebe gefunden zu haben – eine, die sogar wichtiger war als seine militärische Karriere. Schade, dass er sich auch darin geirrt hatte.

Nick hob sich Victorias Hand an die Lippen. „Vielleicht haben wir eines Tages ein Schulzimmer voller Kendrick-Kinder, die du unterrichten kannst.“

Victoria errötete und lächelte scheu.

„Würdet ihr gern allein sein?“, erkundigte Royal sich höflich.

Victoria krauste die Nase. „Wird es dir zu viel?“

„Mir vergeht der Appetit bei eurem Anblick.“

Sie lachte. „Verstanden. Kommen wir also auf dich zurück.“

„Wenn ich es mir recht überlege, wäre es mir vielleicht doch lieber, euch zuzusehen, wie ihr romantische Narren aus euch macht.“ Royal grinste.

„Uns bietet sich genügend Gelegenheit, das zu tun.“ Nick sah ihn an. „Aber das Gespräch über deine Situation haben wir lange genug aufgeschoben.“

Royal betrachtete seinen Bruder mit Widerwillen. „Du gehst mir ganz schön auf die Nerven.“

„Wenn, dann zu deinem eigenen Besten. Jedenfalls wollte ich dir angesichts der hervorragenden Arbeit, die du für mich geleistet hast, einen Vorschlag machen.“

„Nur einen?“

Wie gewöhnlich schnappte Nick nicht nach dem Köder. „Da wir dein Organisationstalent nun entdeckt haben, solltest du dir vielleicht überlegen, für Logan zu arbeiten. Wie du weißt, wäre er begeistert, wenn du ihm helfen würdest.“

Logan, der zweitälteste Bruder, war nach Jahren seines selbst auferlegten Exils in Kanada kürzlich nach Schottland zurückgekehrt. Und zwar als reicher Mann, der eine Handelsgesellschaft für Pelze und Holz besaß. Er war dabei, eine Niederlassung in Glasgow zu gründen, und hatte jedem Familienmitglied, das daran interessiert war, Arbeit versprochen. Nach kurzer Überlegung, ob er das Angebot annehmen sollte, war Royal jedoch zu dem Schluss gelangt, dass er sich eher eine Kugel durch den Kopf jagen würde, als den Rest seines Lebens damit zu verbringen, in einem staubigen Warenlager zu sitzen und Zahlenkolonnen zu addieren.

„Ich habe nicht die Absicht, mein Leben als besserer Schreiber zu verbringen.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Abgesehen davon möchte ich nicht in der Stadt leben. Ein paar Wochen in Glasgow, und ich werde verrückt.“

Das Gefühl hatte sich verschärft, nachdem er aus dem Krieg nach Hause gekommen war. Der Lärm, die vielen Menschen in den Straßen, das Gedränge und die Eile … Manchmal konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Gebäude ihn zu umzingeln begannen.

„Du scheinst mir dieser Tage auch nicht allzu begeistert vom Landleben zu sein“, warf Nick ein.

Royal zuckte unbestimmt mit den Schultern.

„Hast du noch einmal etwas von Lady Ainsley gehört?“ Victoria musterte ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg.

Royal war im Begriff gewesen, sich noch ein Stück Mohnkuchen zu nehmen, doch er stellte den Teller ab und warf seiner Schwägerin einen misstrauischen Blick zu. „Nein. Warum fragst du?“

„Da Glasgow dir anscheinend nicht gefällt, könntest du vielleicht stattdessen nach Cairndow fahren und sie besuchen. Das arme Mädchen war den ganzen Winter in dem kleinen Dorf eingepfercht und hatte nur seine Großtante zur Gesellschaft. Ich bin sicher, sie wäre begeistert, dich zu sehen.“

Royal und Nick starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

„Was ist verkehrt daran, jemandem einen Besuch abzustatten?“ Victoria hob die Schultern. „Immerhin ist es nicht einmal eine Tagesreise bis dorthin. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass wir nicht schon früher auf die Idee gekommen sind.“

„In der Regel wartet man mit Besuchen, bis man eine Einladung erhält“, sagte Royal sarkastisch.

„Wahrscheinlich würde sie dich erschießen, wenn du unangekündigt vor ihrer Tür auftauchst.“ Nick schüttelte den Kopf. „Ihr seid nicht im besten Einvernehmen auseinandergegangen.“

„So schlimm war es nicht“, murmelte Royal halb zu sich selbst. Ja, sie war immer noch wütend auf ihn gewesen wegen der fehlgeschlagenen Flucht, doch zu seiner Verwunderung hatte sie ihn so fest an sich gedrückt, dass es ihn fast schmerzte, um ihn dann von sich zu stoßen und davonzustürmen.

„Und sie hat dir danach auch geschrieben“, rief Victoria ihm in Erinnerung.

Nick warf seinem Bruder einen verblüfften Blick zu. „Tatsächlich? Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie uns alle für Idioten hält, außer Victoria und Kade. Besonders aber dich.“

„Hoffnungsloser Einfaltspinsel lautete ihre genaue Bezeichnung.“

„Also, warum …?“

Die Tür ging auf, und sein Großvater stapfte herein, was es Royal ersparte, Ainsleys rätselhaftes Benehmen zu erklären. Er war nicht sicher, warum sie ihm geschrieben hatte, außer dass sie einsam und gelangweilt klang. Trotzdem ließ ihr Tun keinen Zweifel daran, dass sie einen bleibenden Ärger auf alles hegte, was mit dem Namen Kendrick verbunden war.

„Welche Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?“ Angus setzte sich zu ihnen an den Teetisch. „Nun?“

„Meine geliebte Gattin machte soeben den Vorschlag, dass Royal der schönen Lady Ainsley Matthews einen Besuch abstattet“, antwortete Nick lächelnd. „Damit er seine Melancholie loswird.“

Die buschigen Brauen ihres Großvaters sträubten sich wie die Barthaare eines wütenden Katers. „Was? Diese Frau zieht einem Mann schon das Fell über die Ohren, wenn sie ihn einfach nur ansieht. Sofern sie den armen Kerl nicht vorher erdolcht, heißt das.“

„So schlimm ist sie nun auch wieder nicht“, erwiderte Royal, irritiert von der einigermaßen zutreffenden Einschätzung.

„Dem kann ich nur beipflichten“, sagte Victoria indigniert. „Lady Ainsley ist ein bezauberndes Mädchen.“

„Sie ist ein Hingucker, so viel ist richtig.“ Angus lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Aber habt ihr vergessen, wie sie sich benommen hat, als Royal mit ihr durchgebrannt ist? Ich nicht.“ Er musterte Royal mit finsterem Blick. „Ihre Hochnäsigkeit behandelte uns wie Dreck.“

„Nein, das habe ich nicht vergessen.“ Royal verzog das Gesicht. „Ich war dabei, wie du dich sicher erinnern wirst.“

Die Ereignisse hatten sich mit abscheulicher Deutlichkeit in Royals Gedächtnis eingegraben. Außer mit Ainsley, seinem Großvater und seinen beiden idiotischen Zwillingsbrüdern hatte Royal sich auch noch mit zwei jungen Damen aus Glasgow befassen müssen, denen die Zwillinge ein paar Wochen lang den Hof gemacht hatten. Zu Anfang waren die beiden Mädchen begeisterte Teilnehmerinnen bei der Entführung gewesen.

Ainsley dagegen hatte keinerlei Begeisterung erkennen lassen, und Royal war zu dem Schluss gekommen, dass er sie völlig missverstanden hatte. Nachdem er sie an jenem schicksalhaften Abend hochgehoben und in die Kutsche getragen hatte, war sie zu einer um sich schlagenden Furie geworden und hatte ihn beinahe entmannt. Glücklicherweise war ihr Fuß auf seinem verletzten Bein gelandet, statt eine noch empfindlichere Stelle zu treffen. Royal war angesichts der Schmerzen fast ohnmächtig geworden, was sie wenigstens hatte innehalten lassen.

Sobald er halbwegs zu Atem gekommen war, hatte er der immer noch empörten Ainsley seinen Plan erklärt. Kurz darauf hatte sie sein Angebot, sie zurück nach Glasgow zu bringen, mit der Begründung abgelehnt, dass es ihr lieber war, ruiniert zu sein, als den Marquess of Cringlewood zu heiraten. Von Royal zurückgebracht zu werden, wenn er kurz vorher mit ihr durchgebrannt war, so hatte sie verkündet, produziere nicht die Sorte Skandal, die notwendig war, um Cringlewood von seinen Heiratsplänen abzubringen.

Den Rest der Reise nach Norden hatte sie damit verbracht, seine Familie herumzukommandieren wie eine Bande fauler Bediensteter und sich unausgesetzt mit Angus zu streiten.

„Man kann ihr schwer zur Last legen, dass sie wütend war“, nahm Royal sie in Schutz. „Immerhin hatte ich sie entführt.“

„Um ihr dann drei entsetzliche Tage lang die Pflege einer Burg voller Kranker zuzumuten“, schaltete Victoria sich amüsiert ein. „Es ist ein Wunder, dass sie dich im Gegenzug nicht von der Festungsmauer gestoßen hat.“

Und als Krönung war einer der Zwillinge vom Klapptritt der Kutsche gerutscht und hatte sich ein Bein gebrochen. Nachdem sie endlich in Kinglas eingetroffen waren, hatte sich die halbe Familie samt etlicher Diener mit einer schlimmen Erkältung ins Bett gelegt, und der Haushalt war im Chaos versunken. Aber mit der Hilfe von Royal – und überraschenderweise auch Ainsley, die sich zum Erstaunen aller als fähige Krankenpflegerin erwies – waren Nick und Victoria, die sich ein heißes Rennen mit den Durchgebrannten geliefert hatten, in der Lage gewesen, die Krise erfolgreich zu bewältigen.

„Mein lieber Angus, selbst du musst zugeben, das Lady Ainsley sich gut bewährt hat in der kritischen Situation“, wandte Victoria sich an den Großvater.

„Das streite ich nicht ab“, räumte der alte Mann widerwillig ein. „Sie hat die Sache besser gemacht, als ich erwartet hätte. Trotzdem ist sie eine zänkische Sassenach, und unser Royal sollte sich besser von ihresgleichen fernhalten.“

Victoria schüttelte den Kopf. „Ich mache mir Sorgen um sie. Sie erwähnte ein paar beunruhigende Dinge, als sie hier war, und ich bedaure, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, ihnen genauer nachzugehen.“

„Du warst zu beschäftigt damit, dich wegen Mordes verhaften zu lassen“, warf Royal trocken ein. „Darum bist du entschuldigt.“

Nick runzelte die Stirn. „Je weniger du den Vorfall erwähnst, desto besser. Ich dulde es nicht, dass jemand meine Frau aufregt, indem er sie an diese außerordentlich schreckliche Zeit erinnert.“

„Ja, mein Lieber.“ Victoria schlug einen beschwichtigenden Ton an und tätschelte ihrem Gatten den Arm. „Aber es hat sich ja alles aufgeklärt, also Ende gut, alles gut.“

Es zuckte um Nicks Mundwinkel. „Jetzt behandelst du mich wie ein Kind, meine Liebe.“

„Sie behandelt uns alle wie Kinder, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest.“ Royal grinste. „Was nicht das Schlechteste ist, weil wir mehr Ärger verursachen als die Sache wert ist.“

„Sprich für dich selbst“, ließ Angus sich herablassend vernehmen. „Ich bin ein Ausbund an Tugend, verglichen mit euch.“

„Wenn du ein Ausbund an Tugend bist, bin ich Robert Bruce“, konterte Royal lachend. „Meine Krone habe ich, glaube ich, im Salon liegen lassen. Würdest du sie mir bitte holen, Großvater?“

Vor Entrüstung plusterte Angus sich regelrecht auf. „Jetzt hör mir einmal gut zu, Freundchen …“

Nick setzte dem drohenden Ausbruch seines Großvaters ein Ende. „Wir haben uns ziemlich weit von unserem eigentlichen Thema, nämlich auch Royals Zukunft, entfernt. Er kann nicht den Rest seiner Tage mit Grübeln verbringen. Er muss etwas Nützliches mit seinem Leben anfangen.“

„Dazu kann ich nur sagen, dass ich es nicht schätzen würde, wenn du ihm noch mehr von meiner Arbeit zuteilst“, erwiderte der alte Mann stirnrunzelnd. „Noch gehe ich nicht in den Ruhestand.“

Angus reagierte überempfindlich, wenn er glaubte, man gebe ihm zu verstehen, dass er keinen Beitrag zum Wohlergehen der Familie leistete oder gar eine Last war. Royal wusste genau, wie er sich fühlte.

„Wir haben nur den Eindruck, dass Royal nichts mit sich anzufangen weiß“, schaltete Victoria sich erklärend ein. „Wir versuchen herauszufinden, wie wir am besten damit umgehen.“

„Und habe ich auch ein Wort mitzureden?“, erkundigte Royal sich süffisant.

Die anderen ignorierten ihn.

„Diesem eingebildeten englischen Fräulein nachzulaufen ist jedenfalls das Letzte, was er tun sollte“, entschied Angus knapp. „Ich für meinen Teil glaube ohnehin, dass das Mädchen ihn gar nicht wahrgenommen hat.“

Royal dachte an den Brief, den Ainsley ihm vor ein paar Wochen geschrieben hatte, in dem sie regelrecht traurig klang. „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie etwas gegen einen Besuch einzuwenden hätte.“

Nick stellte seine Teetasse ab und stand auf. „Du entscheidest das natürlich selbst. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du wenigstens in Betracht ziehen würdest, für Logan zu arbeiten.“

„Du wirst den Jungen auch nicht zu einem besseren Schreiber machen“, wandte Angus ein. „Er bleibt hier, auf Kinglas, wo er hingehört.“

Sein Großvater wollte ein Auge auf ihn haben, weil er ständig befürchtete, dass Royal irgendeine Art von Rückfall erleiden könnte.

„Es ist alles in Ordnung, Grandda“, beruhigte er den alten Herrn. „Reg dich nicht auf.“

„Und ob ich mich aufrege“, entgegnete Angus schroff. „Schließlich bist du fast umgekommen, als du für die dämlichen Engländer gekämpft hast.“

„Ahem“, machte Victoria vernehmlich.

Nick legte seinem Großvater die Hand auf die Schulter. „Komm mit, Grandda, ich möchte, dass du dir die Rückwand der Stallungen ansiehst. Wahrscheinlich muss sie erneuert werden, und ich hätte gern deine Meinung.“

„Selbstverständlich, mein Junge.“ Augenblicklich war Angus abgelenkt. „Ich habe auch schon daran gedacht.“

„Dann lass uns die Sache anpacken.“ Nick legte Angus die Hand in den Rücken und schob ihn zur Tür.

„Unternimm nichts, ohne vorher mit mir zu reden“, rief der alte Mann Royal über die Schulter zu, ehe die Tür sich hinter ihm und Nick schloss.

„Gott sei Dank.“ Victoria seufzte. „Ich habe ihn wirklich gern, aber manchmal stellt er mich auf eine harte Geduldsprobe.“

„Du wirst hervorragend mit ihm fertig.“

„Soweit man mit Angus überhaupt fertigwerden kann. Ich muss zugeben, dass ich ihn manchmal am liebsten mit seinem eigenen Dudelsack verprügeln würde.“

Royal lachte, und Victoria seufzte erleichtert. „Die Unterhaltung wurde etwas angespannt, nicht wahr? Es tut mir leid, dass wir so ein Aufhebens gemacht haben. Ich weiß, du magst das nicht.“

„Aufhebens zu machen ist absolut unnötig, das versichere ich dir. Ich bin vollkommen in Ordnung.“

Er hatte den Satz kaum beendet, da stürmte sein jüngster Bruder in den Raum.

„Nick sagte, dass Taffy Mohnkuchen gebacken hat.“ Kade ließ sich neben Victoria auf die Polsterbank plumpsen. „Oh, gut, ihr habt etwas übrig gelassen.“ Er griff sich ein Stück und biss davon ab.

„Kein Grund, so zu schlingen.“ Victoria reichte dem Jungen einen Teller und eine Serviette. „Denk an deine Manieren.“

Royal beugte sich vor und zauste seinem Bruder das Haar. „Wenn du nicht aufpasst, wird man dich noch mit einem der Zwillinge verwechseln.“

„Taffy macht ganz selten Mohnkuchen, also schimpf nicht mit mir. Und Graeme und Grant sind lange nicht mehr so ungezogen wie früher.“ Kade sprach mit vollem Mund.

„Erst herunterschlucken, dann reden“, sagte Victoria sanft.

„Dass die Zwillinge etwas zivilisierter sind, ist dir zu verdanken, Victoria.“ Royal seufzte. „Wir waren Barbaren, bis du kamst.“

Victoria machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, so schlimm wart ihr auch nicht.“

„Und ob.“

Sie grinste. „Es stimmt, Angus und die Zwillinge fand ich am Anfang fürchterlich und dich kaum weniger unangenehm. Ich träume immer noch schlecht von meinen ersten Tagen auf Kinglas. Nur Kade war von Anfang an perfekt.“

Der Junge lehnte sich voller Zuneigung an sie und warf seinem Bruder einen selbstgefälligen Blick zu, der diesen zum Lachen brachte. Es war großartig zu sehen, dass es Kade so gut ging nach all der Zeit, während der er unter seiner angegriffenen Gesundheit gelitten hatte.

„Worüber habt ihr geredet, als ich hereinkam?“ Kade griff nach einem weiteren Stück Kuchen.

Victoria zögerte und warf ihrem Schwager einen unschlüssigen Blick zu.

Der zuckte mit den Schultern.

„Wir haben überlegt, ob dein Bruder Lady Ainsley besuchen sollte.“

Kade musterte Royal mit ernstem Blick. „Warum machst du es nicht?“

Royal wedelte unbestimmt mit der Hand. „Ich bin nicht sicher, ob sie mich sehen möchte.“

„Ich schon.“ Kade biss herzhaft in sein Stück Mohnkuchen.

„Ach ja?“, fragte Royal erstaunt.

Sein Bruder nickte kauend. „Ich glaube, Lady Ainsley hat dich gern. Sehr gern.“

Royals Herz tat einen Satz. Er ging darüber hinweg. „Jedenfalls schimpft sie gern mit mir.“

Kade schüttelte den Kopf. „Das hat sie nicht so gemeint. Es ist ihre Art, mit dir umzugehen. Manchmal kannst du nämlich ganz schön schroff sein, weißt du, und dann wehrt sie sich.“

„Was Kade sagt, ist ziemlich einleuchtend“, meldete Victoria sich zu Wort.

Royal teilte ihre Meinung. Kade war zwar erst fünfzehn, jedoch was seine Auffassungsgabe anging seinem Alter weit voraus und wahrscheinlich reifer als alle anderen männlichen Kendricks zusammen.

„Um ehrlich zu sein“, fuhr der Junge fort, „Ich kann sie gut leiden, weil sie immer genau das sagt, was sie meint. Normalerweise tun Erwachsene das nicht.“

Royal nickte. „Jedenfalls ist sie ehrlich, das muss ich ihr lassen.“

„Ungeachtet der Tatsache, dass deine Beziehung zu Lady Ainsley in der Vergangenheit angespannt war, stimme ich Kade zu. Vielleicht tut sie sich schwer, es zuzugeben, aber meiner Einschätzung nach hat die junge Dame viel für dich übrig.“

Das hatte er auch geglaubt, und wohin hatte es ihn gebracht?

Er bemühte sich um einen neutralen Ton. „Kann sein.“

„Wenn schon sonst nichts, so ist sie dir immerhin freundlich gesonnen“, setzte Victoria lebhaft hinzu. „Und ich glaube, im Augenblick könnte auch sie jemand, der ihr freundlich gesonnen ist, gut gebrauchen.“

„Selbst einen von uns verdammten Kendricks?“

„Einen ganz bestimmten Kendrick“, korrigierte Victoria entschieden.

Endlich gestattete er sich, den Besuch ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Ainsley wiederzusehen würde eine Herausforderung sein. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie zwei kollidierende Kometen waren, die eine Unmenge Hitze, Lärm und Rauch entwickelten. Auch pflegten sie einen Haufen Schutt im Schlepptau zu haben, was für niemanden, der sich innerhalb ihrer Flugbahn befand, angenehm war.

Wenn er ehrlich war, wusste Royal nicht, was sie von ihm wollte. Sie war mehr als einmal auf ihn zugekommen, als brauche sie Trost und Schutz, und hatte ihn anschließend von sich gestoßen mit der Verwünschung, ihn nie wiedersehen zu wollen. Das Mädchen war so rätselhaft für ihn wie die verdammte Sphinx.

Andererseits hatte sie ihm diesen Winter drei Mal geschrieben, oder etwa nicht?

Victoria musterte ihn mit scharfem Blick. „Du wirst nie erfahren, was sie für dich fühlt, wenn du sie nicht unumwunden fragst.“

„Wahrscheinlich wird sie mir ihre Gefühle zeigen, indem sie mir eine Vase auf dem Schädel zerschmettert.“

„Die Möglichkeit besteht.“ Victoria nickte. „Und die Frage, ob sie das Risiko wert ist, kannst nur du beantworten.“

„Meine Stimme hat Lady A.“ Kade grinste. „Egal, was die anderen sagen. Sie ist ein tolles Mädel, wenn du mich fragst.“

Es gab eindeutig einen weiteren Kendrick, den Ainsley Matthews in ihren Bann geschlagen hatte. Und da der Junge der Gescheiteste von ihnen allen war …

„Dann soll es so sein, kleiner Bruder. Ich bin ganz deiner Meinung.“ Royal stemmte sich aus dem Sessel hoch. Eine lange vermisste Kraft durchströmte ihn. „Wenn ihr mich dann entschuldigen würdet, ich muss meine Reisetasche packen.“

„Ah, gut.“ Kade streckte die Hand aus. „Das heißt mehr Kuchen für mich.“

2. KAPITEL

Vor den halb offen stehenden Flügeln des schmiedeeisernen Tors, hinter dem sich die Auffahrt nach Underhill Manor erstreckte, zügelte Royal sein Pferd. Der Anblick hätte beeindruckend gewirkt, wären die Angeln nicht so verrostet gewesen, dass das Tor bereits mit beträchtlicher Schlagseite zwischen den Backsteinmauern hing, die den abgeschiedenen Besitz begrenzten. Auch das Torhaus war heruntergekommen, das Dach eingesunken, mit Wolken von Spinnweben über der Tür. Die Verwahrlosung machte unverkennbar deutlich, dass das Gebäude seit Langem nicht mehr bewohnt war.

Lady Margaret Bairn, Ainsleys exzentrische Großtante, schien genauso abweisend zu sein, wie ihr Ruf es vermuten ließ.

Die Reise nach Cairndow hatte sich als beschwerlich erwiesen. Obwohl es an sich ein unproblematischer Halbtagesritt war, hatte der schlechte Zustand der Straßen Royal gezwungen, Demetrius weite Strecken im Schritttempo gehen zu lassen. Dabei war es schon schlimm genug, einen lahmen Reiter zu haben, ein lahmes Pferd hatte der Sache die Krone aufgesetzt.

Royal legte eine kurze Rast in der Taverne der Ortschaft ein, tränkte seinen Rotschimmel und genehmigte sich selbst einen Krug Ale, während er den Wirt über Lady Bairn auszufragen versuchte. Der Bursche erwies sich jedoch als bemerkenswert schweigsam und ließ sich nur zu der griesgrämigen Bemerkung hinreißen, dass ihre Ladyschaft sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern pflegte, so wie alle, die wussten, was sich gehörte.

Eine ungewöhnliche Reaktion angesichts der Tatsache, dass Klatsch und Tratsch das Lebenselixier kleiner Ortschaften im Hochland waren, zumal, wenn es um die Herrschaften ging, die so viel Einfluss auf das Leben der Einheimischen hatten. Ob der Wirt schlicht und einfach loyal war oder nur gereizt und gleichgültig, vermochte Royal nicht einzuschätzen, und in der Schankstube war auch sonst niemand, der bereit zu sein schien, mit einem Fremden zu sprechen.

Er schnalzte mit der Zunge und stieß Demetrius sacht die Absätze in die Flanken. „Na los, mein Alter. Mit ein bisschen Glück wartet am Ende der Auffahrt eine Schütte Hafer auf dich und vielleicht sogar eine warme Box.“

Demetrius’ Schnauben klang so skeptisch, wie Royal sich fühlte. Wenn der Rest des Besitzes genauso heruntergewirtschaftet war wie das Torhaus, konnte es gut sein, dass sie sich ihr Abendessen im Wald beschaffen mussten. Wie Ainsley freiwillig auch nur eine Woche, geschweige denn einen ganzen Winter an einem so abgelegenen, bedrückenden Ort verbracht hatte, war ihm unvorstellbar. Selbst die von Furchen durchzogene Auffahrt, die sich zwischen den dicht stehenden Buchen und Ulmen und dem wuchernden Unterholz hindurchschlängelte, wirkte beklemmend.

Es stand außer Zweifel, dass Ainsley freiwillig hier war. Trotz ihrer lautstarken Beschwerden, dass ihr Vater sie ins Hochland verbannt hatte, weil sie sich weigerte, Cringlewood zu heiraten, war ihre Erleichterung unübersehbar gewesen. Sie war in einer solchen Eile aus Glasgow aufgebrochen, dass es Royal an eine Flucht erinnert hatte – eine Flucht wie vor einem Wolfsrudel, das ihr auf den Fersen war. Als er sie um eine Erklärung für ihre überstürzte Abreise gebeten hatte, hatte sie ihn aufgefordert, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Ainsley, wie sie leibte und lebte.

Demetrius scheute, als zwei rote Eichhörnchen vor ihm über den mit welkem Laub bedeckten Fahrweg flitzten. Royal brachte das Pferd schnell unter Kontrolle.

„Pass doch auf, du Dummkopf“, wies er sich selbst halblaut zurecht.

Er würde mehr als genug Zeit haben, über Ainsleys merkwürdiges Benehmen nachzudenken, nachdem er auf Underhill Manor eingetroffen war. Andererseits war es durchaus möglich, dass sie sich weigerte, ihn zu empfangen, oder dass ihre überspannte Tante ihn hochkant hinauswarf.

Er schob die Gedanken an derartige Möglichkeiten beiseite, umrundete eine Wegbiegung und ritt eine leichte Anhöhe hinauf. Hinter dem Waldstück erstreckte sich eine ausgedehnte Weide, auf der in bestem Einvernehmen Schafe und zottelige Ponys grasten. Die Auffahrt schlängelte sich einen sanften Hügel hinunter, führte an Hecken und Azaleenbüschen entlang, die in üppiger Blüte standen. Büschel von Osterglocken säumten den Weg und verliehen der Landschaft die Anmutung frühlingshafter Heiterkeit.

Jenseits der Hecken und der fröhlichen Farbtupfer erhob sich Underhill Manor, ein weitläufiges Gebäude, das der Landschaft seinen Stempel aufgedrückt hätte, wären da nicht der See, ein Loch, wie stehende Gewässer in Schottland genannt werden, hinter dem Gebäude und die schroffen Erhebungen am anderen Ufer gewesen. Es war eine typische Landschaft, wie sie in den Highlands zu finden ist, mit Wasser, Bergen und einem weiten Himmel; eine Landschaft, die Royal immer geliebt hatte. Erhaben spartanisch und von herber Schönheit, erschien sie ihm der letzte Ort, an dem die begehrteste Londoner Debütantin der letzten Jahre zu finden sein würde.

Bei dem Gedanken an die baldige Begegnung mit der umschwärmten jungen Dame tat Royals Herz einen Satz, den er zu ignorieren beschloss. Er war gekommen, um eine Freundin zu besuchen und vielleicht sein eigenes Stimmungstief zu überwinden. Wenn es überhaupt etwas gab, das ihn aus seinem verdrießlichen Zustand herauszuholen vermochte, war es Ainsleys berüchtigte Scharfzüngigkeit.

Er zügelte den Rotschimmel und ließ ihn hügelabwärts im Schritt gehen. Nach all der Vernachlässigung, die er bis hierher gesehen hatte, wirkte die Umgebung des Hauses auffällig gepflegt. Die Weidezäune waren in gutem Zustand, die Hecken geschnitten, und die Schafe machten einen hervorragenden Eindruck, gut genährt und gesund, selbst nach dem langen Winter. Eine beachtliche Anzahl Lämmer tummelte sich um die Mutterschafe, und die Ponys, bei denen es sich offenbar um Arbeitspferde handelte, wirkten robust und schienen in guter Verfassung zu sein.

Bei einigen Dingen legte Lady Bairn offenbar keinen Wert auf Äußerlichkeiten, aber es wurde deutlich, dass sie sich um das, was wirklich wichtig war, kümmerte. Die Weiden waren vorbildlich instand gehalten, und das Nutzvieh in ausgezeichnetem Zustand.

Was immer sonst zu kritisieren sein mochte, Ainsley siechte nicht in exzentrischer Armut dahin.

In der streifen Brise, die vom Loch her wehte, zog Royal den Kopf ein und spornte das große Pferd zu einem Galopp an. Ein paar Minuten später lenkte er Demetrius durch eine Lücke in der niedrigen Steinmauer, die die unmittelbare Umgebung des Herrenhauses umgab, und gelangte auf den Vorplatz des Gebäudes. Vor der Eingangstür brachte er Demetrius zum Stehen und sah sich um. Alles wirkte gespenstisch menschenleer, und er runzelte die Stirn. Das Unbehagen, das ihn bereits in dem Waldstück befallen hatte, überkam ihn mit Macht.

Underhill Manor war ein typisches Landgut aus dem siebzehnten Jahrhundert, wehrhaft und massiv. Die Dachlinie war ein unregelmäßiges Zusammenspiel von Treppengiebeln, zinnenbewehrten Verbindungsgängen zwischen den beiden an den Hauptwohnturm angebauten Flügeln und zahlreichen reich verzierten Ecktürmen. Das Mauerwerk war mit den Jahren nachgedunkelt, und die Vorhänge hinter den Fensterscheiben aus rautenförmigem Bleiglas waren zugezogen, wie um den Tag auszusperren. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte angenommen, dass das Haus unbewohnt war.

Die in intensiv leuchtendem Blau gestrichene Eingangstür wollte so gar nicht zu diesem Eindruck passen. Sie bot einen einladenden Anblick in dem ansonsten abweisenden Ensemble. Das einzige Lebenszeichen, das Royal entdecken konnte, war das Unkraut, das aus dem Kies emporspross, und ein paar Amseln, die zwischen den Ecktürmen hin und her schossen.

Royal seufzte, als selbst nach einiger Wartezeit kein Lakai erschien, um ihm sein Pferd abzunehmen. Er schwang sein verletztes Bein über den Pferderücken, zog eine Grimasse, als er aus dem Sattel glitt und versuchte, sein Gewicht, so gut es ging, auf sein gesundes Bein zu verlagern. Demetrius war glücklicherweise an seine ungeschickten Verrenkungen gewöhnt und schüttelte nur seine Mähne, hauptsächlich interessiert an Wasser und Futter.

Royal klopfte ihm auf den Hals. „Ich weiß, alter Junge, wir haben dich gleich untergebracht.“

Als ihm auffiel, dass es keinen Pfosten gab, an dem er sein Pferd hätte anbinden können, ließ er die Zügel einfach fallen. Demetrius war zu wohlerzogen, als dass er fortgelaufen wäre.

Royal ging zur Tür und klopfte, dann spähte er hinauf zu den Fenstern im ersten Stock. Einige Zeit verging, dann bewegte sich ein Vorhang hinter einer der Scheiben. Er wartete weiter, dann klopfte er erneut an die verdammte Tür, diesmal mit der Faust, und so laut, dass er das Echo hörte.

Auch diesmal regte sich nichts im Haus.

Er rieb sich die Stirn. Wohnten Ainsley und ihre Tante nicht mehr hier? Konnte es sein, dass sie nach London gereist waren? In ihrem letzten Brief hatte Ainsley geschrieben, dass sie bis Juni bleiben würde, doch so impulsiv, wie er sie kannte, war es durchaus möglich, dass sie beschlossen hatte, ihrem Vater die Stirn zu bieten und vor der Zeit nach Hause zurückzukehren.

Aber vielleicht hatte sie ihre Meinung, was Cringlewood anging, auch geändert und sich entschieden, den Schwachkopf zu heiraten. Es erschien Royal nicht sehr wahrscheinlich angesichts ihrer unübersehbaren Feindseligkeit dem Marquess gegenüber. Andererseits wäre sie nicht die erste Frau, die ihre Meinung über einen Mann geändert hätte, besonders wenn er reich war, Titelträger und attraktiv.

Und körperlich absolut unversehrt.

Royal schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, um das Engegefühl in seinem Brustkorb loszuwerden, das ihn bei der Vorstellung von Ainsley als Ehefrau eines anderen Mannes befiel. Ein lautes Wiehern riss ihn aus seinen Gedanken, und als er sich umwandte, sah er, dass Demetrius ihn mit einem eindeutig mitfühlenden Blick betrachtete.

„Schon verstanden.“ Er ging zu dem Pferd zurück und hob die Zügel auf. „Ich werde nie herausfinden, was los ist, wenn ich hier herumstehe wie bestellt und nicht abgeholt. Lass uns ums Haus herumgehen und nachsehen, ob jemand dort ist.“

Sie umrundeten den Westflügel und stießen auf eine Reihe von Stallungen und anderen Außengebäuden, die gut in Schuss waren. Dahinter erstreckte sich ein großer Gemüsegarten, ebenfalls ordentlich instand gehalten und bereits bepflanzt. Hinter den Gemüse- und Kräuterbeeten konnte man den Skulpturengarten und eine ausgedehnte Rasenfläche erkennen, die sich bis zum Wasser erstreckte. Der Blumengarten und der Rasen wirkten ungepflegt, und damit nicht genug, ein paar von den Schafen waren von der Weide herübergewandert und richteten Chaos in den Blumenrabatten an. Royal zuckte förmlich zusammen angesichts der Verwüstung und fragte sich, ob Lady Bairn womöglich zu Einsparungen gezwungen war und nur die Teile des Besitzes unterhielt, die etwas einbrachten.

Aber vielleicht war sie wirklich so verschroben, wie es ihr nachgesagt wurde, und Äußerlichkeiten kümmerten sie keinen Deut.

Eine der Stalltüren ging auf, und ein gebückt gehender Mann in Breeches und Kittel kam heraus. Seine Stiefel waren so schmutzig, als habe er die Ställe des Augias ausgemistet. Er wirkte wie mindestens siebzig, doch sein stampfender Gang verriet eine ordentliche Portion Spannkraft, auch wenn sein leicht schmerzverzerrter Gesichtsausdruck darauf schließen ließ, dass er an Rheuma litt.

„Sie da! Wer sind Sie, dass Sie sich hier herumtreiben wie ein Bandit?“, bellte der Alte ihn an. „Ihre Ladyschaft erwartet keinen Besuch. Verschwinden Sie, sonst hole ich meine Pistole und brenne Ihnen eine Kugel aufs Fell.“

Da er weit und breit keine Pistole entdecken konnte, war die Drohung wohl nicht allzu ernst zu nehmen. Aber Royal rechnete dem alten Burschen seine Mühe hoch an. „Ihre Sicherheitsmaßnahmen, wiewohl löblich, sind vollkommen unnötig. Denn auch wenn sie mich nicht erwartet, bin ich sicher, dass Lady Bairn mich sehen will.“

„Warum haben Sie das nicht gesagt?“

Royal hob die Schultern. „Habe ich doch.“

„Verdammter feiner Pinkel, der einem das Wort im Munde verdreht“, murmelte der Alte mürrisch. „Ich bezweifle, dass ihre Ladyschaft einen wie Sie empfängt.“

Wenigstens war sie zu Hause. „Ich bin ein Bekannter von Lady Ainsley Matthews, und sie erwartet mich.“

Es war eine ausgemachte Lüge, aber sein Spürsinn war alarmiert, und er hatte nicht vor zu gehen, bis er sicher sein konnte, dass mit Ainsley alles in Ordnung war.

Sein Gegner starrte ihn offenen Mundes an. „Sie wissen, dass Lady Ainsley hier ist?“

Royal runzelte die Stirn. „Natürlich weiß ich das. Es ist schließlich kein Geheimnis, oder etwa doch?“

„Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Royal Kendrick. Ich bin von Kinglas Castle hergeritten, um Lady Ainsley und ihrer Tante die Aufwartung zu machen.“

Der alte Mann schnaubte verächtlich. „Einer von diesen Kendricks? Das erklärt alles.“

Royal wusste nicht, was genau es erklärte, doch er nahm an, dass der schlechte Ruf seiner Zwillingsbrüder selbst bis hierher, in die äußerste Ecke der Highlands, gedrungen war. Trotzdem schien die Feindseligkeit seines Gegenübers ein wenig nachzulassen.

„Und mit wem habe ich das Vergnügen?“, fragte er mit übertriebener Höflichkeit.

„Darrow, Stallmeister und Kutscher ihrer Ladyschaft. Und Pferdeknecht“, setzte der Alte missmutig hinzu, „Wenn der junge Willy etwas anderes zu tun hat.“

Lady Bairn musste bettelarm sein, wenn sie sich nur einen altersschwachen Kutscher und einen Pferdeknecht leisten konnte.

Übergangslos malte sich Bewunderung in Darrows Miene. „Was für ein schönes Pferd, das Sie da haben.“

„Das finde ich auch, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich um Demetrius kümmern würden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, fügte er nach einem kurzen Moment hinzu. „Sonst kann ich ihn auch selbst versorgen.“

„Was sollte es mir denn ausmachen?“, schnauzte der alte Mann ihn gereizt an. „Ich bin schließlich nicht tot. Bleiben Sie über Nacht?“

Royal nahm seinen Hut ab und kratzte sich am Kopf. „Keine Ahnung. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit jemandem im Haus zu reden.“

„Warum denn nicht, zum Teufel?“

„Weil niemand auf mein Klopfen reagierte, zum Teufel.“

„Wahrscheinlich Hector. Der Nichtsnutz“, erwiderte Darrow ohne weitere Erklärung. „Alles klar, ich füttere Ihr Pferd und bringe es im Stall unter.“

„Danke.“ Royal tätschelte Demetrius den Hals. „Ich komme nachher noch einmal vorbei und sehe nach dir, mein Guter.“

Das Pferd wieherte leise und ließ sich fügsam von dem alten Mann davonführen.

„Ach übrigens“, rief Royal ihm hinterher, „wie komme ich in das Haus?“

Der Kutscher deutete an einem der Außengebäude vorbei. „Gehen Sie zur Küchentür und klopfen Sie. Mrs. Campbell oder Betty werden Sie hereinlassen und ihrer Ladyschaft Bescheid sagen. Wenn Sie es wieder beim Vordereingang versuchen, werden Sie wahrscheinlich den ganzen Tag warten, bis Hector aufmacht.“

Lady Bairn hatte eindeutig ein Problem mit dem Personal. Royal konnte kaum glauben, dass Ainsley sich mit einem Bediensteten wie dem rätselhaften Hector abfand.

Die Küche war rasch gefunden, weil die Fenster weit offen standen und der köstliche Duft von Apfelkuchen herauswehte. Lady Bairn mochte Herrin in einem Irrenhaus sein, aber sie hatte eindeutig eine fähige Köchin.

Da auch die Tür offen stand, duckte Royal sich unter dem Türsturz hinweg und nahm die wenigen Steinstufen, die in den Raum hinunterführten. Eine Frau in mittleren Jahren, deren dunkles Haar sorgfältig von einer Haube gebändigt war, stand an einem robusten Arbeitstisch in der Mitte der altmodischen, aber ordentlichen Küche und schälte Kartoffeln. Sie summte ein Volkslied aus den Highlands, das Royal von seiner Mutter kannte, und unterbrach sich, als plötzlich ein lautes Klirren aus einem benachbarten Raum zu hören war.

„Ach, Betty!“, rief sie kopfschüttelnd aus. „Ich hoffe, du hast nicht noch mehr Geschirr fallen lassen. Nicht, nachdem du mir letzte Woche meine beste Rührschüssel kaputt gemacht hast.“

„Keine Angst, Mum“, antwortete eine fröhliche Stimme. „Ich stell nur die Tabletts in den Schrank.“

Einen Moment später erschien eine junge Frau und wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Ich war …“ Sie blieb abrupt stehen, als sie des fremden Besuchers ansichtig wurde. „Mum …“

Die Köchin wirbelte herum. „Entschuldigen Sie, Sir, aber wie sind Sie hier hereingekommen?“ Sie hielt betreten inne, dann lächelte sie. „Ich meine, wie kann ich Ihnen helfen?“

Royal nahm seinen Hut ab. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Madam. Ich wollte Lady Bairn besuchen, aber als ich an der Eingangstür klopfte, hat mir niemand aufgemacht.“

Die Frauen tauschten einen kurzen Blick. „Hector“, sagten sie wie aus einem Mund.

„Wieder einmal unpässlich“, murmelte Mrs. Campbell halb zu sich selbst. „Der verdammte Narr.“

Unpässlich. Zweifellos weil er ein paar Whisky zu viel getrunken hatte.

„Ich bitte um Nachsicht, Sir. Willy ist im Dorf, eine Besorgung machen“, entschuldigte sie sich. „Sonst hätte er Ihnen die Tür geöffnet.“

Die hübsche Betty mit dem offenen Lächeln und dem flammend roten Haar zwinkerte Royal verschwörerisch zu. „Oder ich, wenn ich Ihr Klopfen gehört hätte. Da können Sie ganz beruhigt sein.“

„Danke“, erwiderte Royal verlegen.

„Schluss damit, Mädchen.“ Missbilligung lag in der Stimme der Mutter. „Der Mann ist ein Gentleman, siehst du das nicht? Keiner von deinen Verehrern aus der Taverne.“

„Tut mir leid, Mum.“ Die Tochter klang nicht im Mindesten reumütig.

„Ist Lady Bairn zu Hause?“, erkundigte Royal sich ungeduldig.

„Werden Sie von ihrer Ladyschaft erwartet?“ Eine Spur Argwohn lag in Mrs. Campbells Stimme.

„Nicht wirklich“, erwiderte Royal ausweichend. „Aber Lady Ainsley wird nicht überrascht sein, mich zu sehen. Wir sind gute Freunde.“

Die Köchin musterte ihn zweifelnd.

Royal schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. „Vielleicht könnten Sie Lady Bairn oder Lady Ainsley ausrichten, dass Royal Kendrick von Kinglas Castle gekommen ist. Es tut mir leid, dass ich unangekündigt auftauche, aber mein Bruder, der Earl of Arnprior, trug mir auf, seine Grüße zu überbringen.“

Wie zu erwarten, senkte die Erwähnung von Nicks Titel die Waagschale zu seinen Gunsten.

Autor

Vanessa Kelly
Bereits auf der Universität konzentrierte Vanessa Kelly sich auf die englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Ihren Job im öffentlichen Dienst gab sie auf, um hauptberuflich zu schreiben. Inzwischen sind ihre Romane, die meist zur Zeit des Regency spielen, regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten zu finden und wurden bisher in neun...
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