Heiße Küsse, streng geheim

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Plötzlich blond, stylish und sexy: Um einen Bankbetrug aufzuklären, muss die Buchhalterin Lucy Miller ihre Identität wechseln. Zur Tarnung gibt sie sich als Freundin des attraktiven Geheimagenten "Casanova" aus. Doch dessen Küsse schmecken alarmierend echt ...


  • Erscheinungstag 24.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766931
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Sie müssen mich hier rausholen.“ Lucy Miller presste sich das abhörsichere Handy ans Ohr, das vor ein paar Wochen in ihre Wohnung geliefert worden war. Es hatte in dem Moment geklingelt, als sie die Mitarbeiterversammlung verließ. Sofort war sie in die Damentoilette verschwunden, wo sie sich vergewisserte, dass sie allein war.

„Entspannen Sie sich, Lucy“, kam es beruhigend vom anderen Ende der Leitung.

Sie hatte sich oft ausgemalt, wie der Mann aussehen mochte, dem diese tiefe, sexy Stimme gehörte, die ihr mittlerweile so vertraut war, doch diesmal nicht, dafür hatte sie zu viel Angst. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie sie mit heiler Haut aus dieser Situation herauskommen sollte.

„Sagen Sie mir nicht, ich soll mich entspannen“, flüsterte sie. „Nicht Sie stecken in dieser Bank fest, sondern ich. Und Sie müssen auch nicht versuchen, sich normal zu verhalten, obwohl Sie wissen, dass Sie ausgeschaltet werden sollen.“

„Niemand versucht, Sie umzubringen. Sie sehen wohl zu viel fern.“

„Ich erkenne einen Killer, wenn er mir gegenübersteht, und er ist mir gefolgt. Er trug einen Mantel, dabei haben wir gefühlte dreißig Grad draußen.“

„Vermutlich nur ein Regenmantel.“

„Casanova, Sie hören mir nicht zu! Meine Tarnung ist aufgeflogen. Jemand war in meinem Apartment. Entweder Sie holen mich hier raus, oder ich fliege mit der ersten Maschine, die ich bekommen kann, nach Südamerika und nehme alle Daten mit!“

„Nein! Lucy, seien Sie vernünftig …“

„Ich habe die Nase voll davon, vernünftig zu sein. Ich habe alles getan, worum Sie mich gebeten haben, ohne Fragen zu stellen. Ich habe Ihnen bedingungslos vertraut. Ich habe Sie nie getroffen, und ich kenne Ihren Namen nicht. Jetzt sind Sie an der Reihe, mir zu vertrauen. Ich bin nicht blöd. Wenn Sie mich hier nicht rausholen, dann landet dieses teure kleine Handy im nächsten Abwasserkanal, und Sie hören nie wieder von mir.“

„Okay. Ich bin um halb sechs, spätestens um sechs bei Ihnen. Halten Sie bis dahin durch? Schaffen Sie es nach Hause?“

Sie hatte ihren Verfolger vor drei Tagen bemerkt, doch bisher blieb ihr Beschatter auf Distanz. Allerdings hatte sie festgestellt, dass ihre Wohnung durchsucht worden war. „Ich versuche es. Aber wenn mir irgendetwas zustößt, dann sagen Sie meinen Eltern, dass ich sie liebe, in Ordnung?“

„Ihnen wird nichts passieren, Sie hysterische Person.“

Lucy beendete die Verbindung, bevor ihr etwas herausrutschen konnte, das sie bedauern würde. Hysterische Person? Hielt er sie für paranoid? Hatte sie nicht in den letzten Wochen bewiesen, wie wertvoll sie war? Casanova! Was für ein Deckname. Wer hatte sich den wohl einfallen lassen und warum?

Sie steckte das Handy in ihre Tasche und wollte gerade die Damentoilette verlassen, als ihr Blick in den Spiegel fiel. Sie sah aus wie eine Irre. Ihr welliges braunes Haar hatte sich aus dem strengen Knoten gelöst und kräuselte sich um ihr Gesicht, ihre Wangen waren wegen ihrer Panik gerötet, die Augen hinter den Brillengläsern blickten wirr vor Angst.

Lucy nahm sich fünf Minuten Zeit, alles zu ordnen, die Nase zu pudern und pinkfarbenen Lippenstift aufzutragen. Die Farbe schmeichelte ihr nicht, aber das war egal. Sie schminkte sich nur, weil sie eine leitende Stelle innehatte und die anderen weiblichen Führungskräfte es auch taten. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Als sie sich hergerichtet und gesammelt hatte, verließ sie ihren Zufluchtsort und ging zu ihrem Büro, in der Hoffnung, die Tür schließen und sich den Rest des Nachmittags dort verkriechen zu können. Sie fürchtete zusammenzubrechen, falls sie sich noch mit irgendjemandem auseinandersetzen müsste.

Was bist du nur für eine Spionin, Lucy Miller, dachte sie, machst beim ersten Anzeichen von Gefahr schlapp.

Auf dem Gang stieß sie mit dem korpulenten Geschäftsführer der Bank zusammen.

„Oh, hallo, Lucy“, sagte er höflich. „Ich habe gerade nach Ihnen gesucht.“

„Entschuldigen Sie, ich war auf der Toilette. Ich fürchte, mir ist das Mittagessen nicht gut bekommen.“

Er musterte sie mit dem gesunden Auge. Das andere hatte er durch einen Unfall verloren. Unter seinem Blick begann ihre Haut zu kribbeln. Konnte er ihre Angst spüren?

„Sie sehen nicht gut aus“, stellte er fest. „Sie sind sehr blass. Ist alles in Ordnung?“

„Mir geht es gut, wirklich.“

Es sah ihm ähnlich, dass er besorgt war. Mr Vargov war ein freundlicher, väterlicher Mann, ein Freund ihres Onkels Dennis. Er hatte ihr diesen Job gegeben, als sie dringend eine Anstellung brauchte. Eigentlich war sie mit ihrem lächerlichen Bachelor in Finanzwesen und ohne jegliche Berufserfahrung nicht qualifiziert genug für den Job einer Rechnungsprüferin, doch sie hatte das Gefühl, trotzdem gute Arbeit zu leisten.

Zu gute, nach Meinung von Mr Vargov. Er hielt sie für zu gewissenhaft und nahm ihren Verdacht, dass Gelder veruntreut wurden, nicht besonders ernst. Deshalb hatte sie sich an das Ministerium für Innere Sicherheit gewandt. So hatte sie es mit Casanova zu tun bekommen.

„Warum nehmen Sie nicht den Rest des Nachmittags frei?“, schlug Mr Vargov vor.

„Oh, das geht nicht. Sie haben gesagt, dass Sie die Berichte …“

„Das kann warten. Ihr Onkel wird mir was erzählen, wenn er herausfindet, dass ich Sie zur Arbeit antreibe, obwohl Sie krank sind.“

„Danke, Mr Vargov. Vielleicht gehe ich wirklich etwas früher.“

„Tun Sie das.“

Womöglich ließ sich so der Mann austricksen, der ihr folgte. Sie hätte nichts dagegen, sich von diesem Job zu verabschieden. Als sie in der Bank anfing, hatte sie einen Platz gebraucht, um sich zu erholen und sich wieder zurechtzufinden. Alliance Trust hatte ihr den geboten. Ihre Kollegen waren nett, die Arbeitsbedingungen angenehm. Ihr Chef verlangte nicht zu viel von ihr, und sie verdiente mehr als es für jemanden in ihrem Alter und mit ihrer Erfahrung üblich war.

Es war an der Zeit, diese Episode hinter sich zu lassen. Sie würde die nächste Stunde damit verbringen, so viele Informationen herunterzuladen, wie auf ihren Speicherstick passten, anschließend würde sie gehen und nie wieder zurückkehren.

Casanova würde sie zu einem geheimen Unterschlupf bringen. Er hatte es versprochen. Und sobald alle Täter geschnappt waren, konnte sie irgendwo neu beginnen.

Eine wunderbare Vorstellung.

Um zehn nach drei war sie fertig. Sie versteckte den Stick in ihrem BH, nahm ihre Tasche und ihren Schirm und gab Peggy Holmes, Mr Vargovs Sekretärin, Bescheid, dass sie wegen ihrer Magenprobleme früher Feierabend machte.

„Das tut mir leid, meine Liebe. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Sie haben erst einen Tag gefehlt, seit Sie hier sind.“

Peggy war Mitte sechzig und arbeitete schon über zwanzig Jahre für die Bank. Mit ihrer Dauerwelle und der großen Oberweite war sie für alle die Großmutter. Lucy wusste, dass sie höchst intelligent war und ein ungewöhnliches Gedächtnis für Details hatte, dazu war sie fast krankhaft tüchtig.

„Es wird schon wieder.“

Da es vermutlich klüger war, sich anders als üblich zu verhalten, entschied sie, mit dem Bus zu fahren. Nur eine Straße entfernt von ihrem Büro befand sich eine Haltestelle.

Es war warm und schwül und nieselte, doch sie fror innerlich, als sie das Gebäude verließ. Sie spannte den Regenschirm auf und blickte sich dabei verstohlen nach dem Mann im Regenmantel um, entdeckte aber niemand Verdächtiges.

Als sie in Richtung Bushaltestelle marschierte, klapperten ihre flachen Absätze auf dem nassen Asphalt. Da sie nicht zu lange gut sichtbar herumstehen wollte, tat sie, als würde sie die Schaufensterauslagen betrachten, und als der Bus kam, sprang sie im letzten Moment auf. Außer ihr war nur eine Mutter mit zwei kleinen Kindern zugestiegen, daher atmete sie auf.

In der Nähe ihres Stadthauses in Arlington, Virginia, stieg sie aus. Noch immer sah sie keinen Verfolger. Vielleicht hatte sie ihn überlistet. Vielleicht hatte er entschieden, dass sie keine Gefahr darstellte. In ihrem Apartment konnte er nichts Belastendes gefunden haben, da sie den Stick mit den kopierten Dateien ständig bei sich trug.

Ihre winzige Doppelhaushälfte hatte nur einen Eingang, und damit sie sofort merkte, wenn jemand im Haus gewesen war, hatte sie die Tür präpariert. Das einzelne Haar, das sie am Morgen zwischen Türblatt und Rahmen geklemmt hatte, war noch da. Bevor sie eintrat, schüttelte sie den nassen Schirm aus.

Sie lebte jetzt seit zwei Jahren in dieser Straße. Ihr Onkel hatte das Stadthaus für sie gefunden, und sie hatte es gemietet, ohne es sich vorher anzusehen. Es war nett, aber langweilig – so wie ihr Leben bis vor ein paar Wochen – und sie hatte sich keine Mühe gegeben, es in ein wirkliches Zuhause zu verwandeln. Deshalb würde es ihr nicht schwerfallen, es zu verlassen.

Kaum hatte sie die Tür geschlossen und verriegelt, legte sich von hinten eine Hand über ihren Mund, und ein starker Arm zog sie gegen einen harten Körper.

In ihrer Panik reagierte sie sofort, schlug mit dem Schirm um sich und stach ihrem Angreifer damit mit voller Wucht in die Oberschenkel.

Der Mann stieß einen unterdrückten Schrei aus und lockerte den Griff gerade weit genug, dass sie sich wegducken konnte. Dabei packte sie eins seiner Beine, riss es und ihm weg und brachte ihn so zu Fall. Es gab einen dumpfen Aufprall, als er auf den Marmorboden stürzte. Sie wirbelte herum und drückte ihm die Spitze ihrer improvisierten Waffe an den Hals.

„Lucy, stopp! Ich bin es, Casanova!“ Er schlug den Schirm weg und schnappte ihn ihr aus der Hand. Dabei verlor sie das Gleichgewicht, fiel auf ihn und starrte in die fantastischsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte.

„Casanova?“, fragte sie ungläubig, obwohl sie seine Stimme sofort erkannt hatte.

„Himmel, sind Sie verrückt geworden? Sie haben mich fast umgebracht.“

„Ich soll verrückt geworden sein? Wer ist denn in mein Haus eingebrochen und hat mich angegriffen? Ich habe mich nur gewehrt.“

„Sie wollten erst später kommen. Ich hatte keine Ahnung, wer Sie sind. Wo haben Sie gelernt, so zu kämpfen?“

„Es gibt Selbstverteidigungskurse. Wie sind Sie in mein Haus gekommen? Ich habe eine Alarmanlage.“

„Ihre Nachbarin nicht.“

Er grinste, und Lucy warf einen Blick ins Wohnzimmer. Ein großes Loch klaffte in der Wand. „Sie sind durch die Wand gekommen? Oh mein Gott! Sie haben doch hoffentlich Mrs Pfluger keine Angst eingejagt? Was wird mein Vermieter sagen?“

„Das werden Sie nie erfahren, denn wir verlassen die Stadt.“

Das waren die ersten beruhigenden Worte. „Dann glauben Sie mir also?“

„Ihr Haus ist mit mehr Wanzen gespickt als die amerikanische Botschaft in Moskau. Jemand ist hier gewesen, stimmt.“ Sein Gesichtsausdruck wurde grimmig.

Lucy senkte die Stimme. „Werden wir belauscht? Jetzt?“

„Ich vermute, die Mikrofone sind mit einem sprachgesteuerten Aufnahmegerät verbunden. Sie – wer auch immer das sein mag – sitzen wahrscheinlich nicht an den Abhörgeräten, da Sie ja um diese Zeit normalerweise gar nicht zu Hause sind, aber wir haben nicht viel Spielraum. Ich will lange weg sein, wenn sie hier eintreffen. Wenn Sie also …“

Peinlich berührt registrierte Lucy, dass sie noch auf ihm lag und bisher nicht die kleinste Anstrengung unternommen hatte, daran etwas zu ändern. Sie spürte seinen muskulösen Körper an ihrem und stellte fest, dass es kein unangenehmes Gefühl war. Es war lange her, dass ein Mann ihr so nahe gekommen war, abgesehen von einem Händedruck.

Sie rappelte sich auf, wobei sie ihm ein Knie in die Lende stieß, was jedoch nicht absichtlich geschah.

„Verdammt, Frau, Sie sind gefährlich.“

Er setzte sich auf, und sie konnte ihn endlich genauer anschauen. In all ihren Fantasien war er ein gut aussehender Mann gewesen, aber nichts hatte sie auf die Realität vorbereitet.

Er sah einfach umwerfend aus, war gut eins achtzig groß, muskulös, hatte dichtes tiefschwarzes Haar und dazu unglaubliche Augen. Ein Traummann.

„Sie haben drei Minuten, um einzupacken, was Sie unbedingt benötigen. Medikamente, Zahnbürste, frische Unterwäsche.“

Lucy riss sich von seinem Anblick los, flitzte ins Schlafzimmer, schnappte sich das Nötigste und ihre Allergie-Medikamente. Alles passte in einen kleinen Rucksack. Danach zog sie ihren Rock und die Strumpfhose aus und schlüpfte in Jeans und Turnschuhe. Sie wusste nicht, wohin sie gingen, wie sie reisten und wie lange sie unterwegs sein würden, deshalb wollte sie es möglichst bequem haben.

Casanova wirkte nervös und wippte auf den Fersen, als sie herunterkam.

„Das wird aber auch Zeit.“

„Sie haben gesagt drei Minuten, die habe ich mir genommen.“ Sie musste lächeln.

„Sie genießen die Situation.“

„Irgendwie schon“, gestand sie. Es war lange her, seit sie sich so lebendig gefühlt hatte, Jahre. Sie hatte ganz vergessen, wie gut sich das anfühlte. „Und Sie genießen es ebenfalls. Sonst wären Sie gar nicht erst Agent geworden.“

Er nickte, offenbar gestand er ihr diesen Punkt zu.

„Lassen Sie uns gehen.“

Casanova führte sie durch das Loch, das er in die Rigipsplatte geschlagen hatte. „Ich bin froh, dass Mrs Pfluger nicht zu Hause ist“, sagte Lucy. „Sie hätten sie zu Tode erschreckt.“

„Was macht Sie so sicher, dass sie nicht da ist?“

Und tatsächlich, im Wohnzimmer saß ihre zweiundachtzigjährige Nachbarin vor dem Fernseher und lächelte Casanova an.

„Ah, Sie sind wieder da“, sagte sie und strahlte. Auch wenn sie durch ihre Arthritis körperlich sehr eingeschränkt war, ihr Verstand war scharf wie der einer Zwanzigjährigen. „Hallo, Lucy, meine Liebe.“

Lucy war wie vor den Kopf geschlagen. „Sie kennen sich?“

„Jetzt ja“, antwortete Mrs Pfluger. „Er stand vor meiner Tür, und als er erklärte, dass Sie in Gefahr sind und er meine Hilfe benötigt, damit Sie fliehen können …“ Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Sie wissen ja, wie das so ist.

„Aber die Wand. Er hat die Wand ruiniert.“ Lucy war perplex.

„Er hat mir einen Haufen Geld dafür gegeben.“ Mrs Pfluger wandte sich wieder an Casanova: „Während Sie in Lucys Apartment beschäftigt waren, habe ich die Sachen zusammengesucht, die Sie brauchen.“ Sie deutete auf eine alte Einkaufstasche. „Da sind Kleidungsstücke und andere Dinge aus der Zeit drin, als ich noch etwas fülliger war. Sie müssen sie mir nicht zurückgeben.“

Casanova inspizierte den Inhalt der Tasche, dann grinste er und blickte sie an.

„Ausgezeichnet. Lucy, ziehen Sie das an. Sie werden jetzt zu Bessie Pfluger.“

Bryan Elliott alias Casanova verkniff sich ein Lächeln, als er beobachtete, wie Lucy Miller in eine überdimensionierte orangerote Polyester-Stretchhose stieg und sie in der Taille mit Sicherheitsnadeln befestigte. Diese Frau entpuppte sich als Überraschung.

Er wusste bereits eine Menge über sie, denn er hatte gründlich recherchiert – wo sie aufgewachsen war, wo sie zur Schule gegangen war – und kannte ihren beruflichen Werdegang.

Sie war pflichtbewusst, gewissenhaft, intelligent, dabei zurückhaltend und unscheinbar. Eigenschaften, die sie zu einem perfekten Maulwurf machten, mit dessen Hilfe er die betrügerischen Machenschaften bei Alliance aufdecken wollte. In den letzten Wochen hatte sie massenhaft Informationen beschafft und seine Anweisungen befolgt.

In natura war sie überraschend temperamentvoll – und sie verteidigte sich verdammt gut. Mit dem richtigen Training könnte eine echte Agentin aus ihr werden.

Nein, daran sollte er nicht einmal denken. Ein Doppelleben, wie er es führte, wollte er für die süße Lucy Miller nicht, die allem Anschein nach keine Ahnung von der hässlichen Seite des Lebens hatte.

Zumindest kannte sie jetzt die hässlichsten Kleidungsstücke des Universums. Zur grellen Hose trug sie einen zeltartigen Hausmantel. Ihre Haare hatte sie unter einer silbergrauen Lockenperücke versteckt, und auf ihrer Nase saß eine abgelegte Brille von Mrs Pfluger, ein rotes Gestell, das nur unwesentlich hässlicher war als ihr eigenes.

„Meine alte Gehhilfe steht dort drüben.“ Mrs Pfluger deutete auf eine Ecke im Wohnzimmer.

„Das funktioniert nicht.“ Lucy seufzte laut. „Niemand wird glauben, dass ich achtzig Jahre alt bin.“

„Zweiundachtzig“, korrigierte Mrs Pfluger sie.

„Vertrauen Sie mir. Falls jemand Ihre Wohnungstür beobachtet, wird er sich nicht dafür interessieren, was sich nebenan abspielt.“ Er öffnete den zusammenklappbaren Rollator und stellte ihn vor Lucy. „Jetzt zeigen Sie uns, wie Sie als alte Lady gehen.“

Lucy kauerte über der Gehhilfe und gab eine bemerkenswerte Imitation eines arthritischen älteren Menschen ab, der sich langsam vorwärts bewegte.

„Um Himmels willen“, rief Mrs Pfluger aus. „Sagen Sie bitte nicht, dass ich so aussehe, wenn ich laufe.“

„Ich übertreibe“, erwiderte Lucy. Sie drehte sich zu ihrer Nachbarin und umarmte sie. „Mrs Pfluger, ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Hilfe danken. Ich meine, Sie kennen diesen Kerl nicht einmal.“

„Er hat mir seine Marke gezeigt“, sagte Mrs Pfluger. „Außerdem hat er ehrliche Augen. Er wird auf Sie aufpassen.“

Die alte Dame hatte keine Ahnung, dass die Marke, die er ihr vor die Nase gehalten hatte, eine Fälschung war und an jeder Straßenecke in Washington angeboten wurde.

„Ich verlasse mich darauf.“ Lucy warf ihm einen finsteren Blick zu. „Können wir jetzt gehen?“

Bryan bedankte sich ebenfalls bei ihrer Nachbarin, dann tat er so, als würde er ihr zur Tür hinaus und die Rollstuhlrampe hinunter helfen. „Halten Sie den Kopf unten. Ja, so“, flüsterte er Lucy zu. „Sie machen das großartig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass Sie eine alte Frau sind.“

Er wusste es aber besser. Der Körper, der auf ihn gefallen war und sich an ihn gepresst hatte, hatte nichts mit dem einer Greisin gemeinsam. Er war überrascht gewesen, wie schlank sie unter ihrem altbackenen Kostüm war.

Sein Mercedes stand am Straßenrand. Da er davon ausgegangen war, dass Lucys Stadthaus möglicherweise beobachtet wurde, hatte er gar nicht erst den Versuch unternommen, sich verdeckt zu nähern, sondern hatte geradewegs bei der Nachbarin geklingelt.

Er hatte gewusst, dass sie zu Hause sein würde. Und er hatte in Erfahrung gebracht, dass sie Krankenschwester in Korea und ihr Mann Veteran des Zweiten Weltkriegs gewesen war. Deshalb hatte er auf ihren Patriotismus gesetzt, der sie veranlassen würde, ihm zu helfen. Und er hatte recht gehabt.

Kaum waren sie losgefahren, entspannte er sich etwas. Falls sie beobachtet wurden, hatten sie den Beschatter mit Lucys Auftritt als alte Lady ausgetrickst. Niemand folgte ihnen.

Nach wenigen Hundert Metern bog er auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums ein und stellte den Mercedes dort ab, wo er ihn gefunden hatte.

„Warum halten wir hier an?“, fragte Lucy.

„Wir wechseln das Auto.“ Er schaltete den Motor aus und zog seinen Multi-Key aus dem Zündschloss.

„Was ist das?“ Sie deutete auf den merkwürdig aussehenden Multifunktionsschlüssel und schnappte nach Luft. „Oh mein Gott, Sie haben den Wagen gestohlen!“

„Nur ausgeliehen. Die Eigentümerin kauft selig im Supermarkt ein. Sie wird es nie erfahren.“

„Es ist wirklich beängstigend, dass so ein Gerät überhaupt existiert und dass Regierungsangestellte Autos stehlen.“

„Ich fürchte, sie tun noch viel mehr als das“, sagte er, während sie aus dem Mercedes stiegen. Leider hatte er gerade herausgefunden, wozu gewisse Regierungsangestellte fähig waren.

Lucy nahm den Rollator vom Rücksitz, doch sie benutzte ihn nicht. Dynamisch ging sie neben ihm, geschmeidig und anmutig. Er führte sie zu dem Wagen, in dem er gekommen war, einem silbergrauen Jaguar XJE. Da es sich um seinen Privatwagen und nicht um einen „Firmenwagen“ handelte, war das Risiko zu groß gewesen, identifiziert zu werden. Deshalb der Tausch.

„Dieser gefällt mir noch besser als der Mercedes“, bemerkte sie, während sie den Rollator in den Kofferraum legte. „Ist er auch gestohlen?“

„Nein, der gehört mir.“

„Ich wusste gar nicht, dass Regierungsangestellte so viel verdienen, dass sie sich einen Jaguar leisten können.“

„Das tun wir nicht. Mein Regierungsgehalt ist nicht meine einzige Einnahmequelle.“ Die Scheinfirma, die er für Familie und Freunde aufgebaut hatte, erwies sich als äußerst lukrativ. Er öffnete ihr die Beifahrertür. „Die Verkleidung ist jetzt nicht mehr nötig. Wir sind in Sicherheit.“

„Gott sei Dank.“

Sobald sie saß, riss sie sich die Perücke vom Kopf, und ihr braunes Haar fiel in schimmernden Kaskaden über ihre Schultern. Bis er um den Wagen herum zur Fahrertür gegangen war, hatte Lucy schon den Hausmantel ausgezogen, und als er einstieg, fluchte sie.

„Ich habe meine Jeans liegen gelassen.“

„Nein, ich habe sie … Mist.“ Er war so fasziniert gewesen, als sie die Hose auszog und er einen Blick auf ihren schlichten weißen Slip erhaschen konnte, dass er tatsächlich vergessen hatte, sie einzupacken. „Wir kaufen Ihnen eine neue. Keine Sorge.“

Er hatte nicht das Recht, an Lucys Slip zu denken, ob schlicht oder sexy. Die Wanzen in ihrem Haus waren beunruhigend genug. Er war sicher gewesen, dass sie übertrieb, als sie behauptete, jemand verfolge sie und sei in ihr Heim eingedrungen, aber sie hatte diese Abhörgeräte nicht selbst installiert.

Tatsache war, dass die Liste derjenigen, die das getan haben konnten, auf eine Handvoll schrumpfte, nachdem er das Exemplar in ihrem Telefon untersucht hatte. Diese Wanze war technisch auf dem neuesten Stand, hergestellt in Russland. Und sie war so neu, dass nur seine Behörde Zugang dazu hatte, abgesehen von den Russen natürlich. Er glaubte jedoch nicht, dass die in diese Geschichte involviert waren.

Jemand aus seiner eigenen Organisation hinterging ihn, das bedeutete, sein Leben und das von Lucy waren nicht viel wert, solange er nicht herausfand, welcher Agent der Verräter war – und bis er ihn oder sie kaltstellte.

2. KAPITEL

Auf Umwegen verließen sie die Stadt in Richtung Norden. Bryan wollte absolut sichergehen, dass sie nicht verfolgt wurden.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er Lucy. Sie war erschreckend still. Er hatte damit gerechnet, von ihr gelöchert zu werden, wohin sie fuhren und was als Nächstes passierte. Fragen, die er bislang nicht unbedingt beantworten könnte, auch wenn sich langsam ein Plan in seinem Kopf formte.

„Ja.“

„Tut mir leid, dass ich Sie in Gefahr gebracht habe.“

„Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich dieser Sache zustimmte. Sie haben mich darauf hingewiesen, dass es nicht ungefährlich ist.“

Er fragte sich, ob sie auch noch so ruhig wäre, wenn sie wüsste, wie gefährlich es tatsächlich war, und dass die größte Bedrohung von seinen eigenen Leuten ausging. „Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich wünschte, wir hätten sie zu Ende bringen können.“

„Das habe ich.“

„Wie bitte?“

„Nach unserem Telefonat war mir klar, dass ich nicht zu Alliance Trust zurückkehren würde. Deshalb habe ich alle Vorsicht über Bord geworfen und sämtliche Dateien kopiert, zu denen ich Zugang hatte. Es ist einfach unglaublich, wie viel auf so einen kleinen Stick passt.“

„Sie haben alles kopiert?“ Er konnte es kaum glauben.

„Alles, was ich brauche. Es wird einige Zeit dauern, alle Daten zu sichten. Wer auch immer Gelder aus dem Pensionsfonds unterschlägt, geht sehr raffiniert vor. Ich habe Kalender, Telefonlisten, Einlog- und Auslogzeiten, Passwörter, wer an welchem Meeting wann teilgenommen hat. Mithilfe des Ausschlussverfahrens lässt sich herausfinden, wer die rechtswidrigen Abhebungen getätigt hat – ich weiß, dass ich es feststellen kann.“

„Darum müssen Sie sich nicht kümmern. Die Behörde hat einige der besten Köpfe im Land …“ Bryan hielt inne. Bevor er nicht wusste, wer ihn hinterging, konnte er es nicht wagen, die Informationen weiterzugeben. Ein Tastendruck, und die Beweise, für die Lucy ihr Leben riskiert hatte, könnten gelöscht werden.

Autor

Kara Lennox
Kara Lennox hat mit großem Erfolg mehr als 50 Liebesromanen für Harlequin/Silhouette und andere Verlage geschrieben.
Vor ihrer Karriere als Liebesromanautorin verfasste sie freiberuflich Hunderte Zeitschriftenartikel, Broschüren, Pressemitteilungen und Werbetexte. Sogar Drehbücher hat sie geschrieben, die das Interesse von Produzenten in Hollywood, New York und Europa weckten.
Wegen ihrer bahnbrechenden, sehr...
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