Vom Arzt geküsst – Herzklopfen garantiert!

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KÜSSE, DIE DAS HERZ ZUM SCHMELZEN BRINGEN von SUSAN CARLISLE
Michelle weiß, wie man sie auf der Station nennt: die Eiskönigin. Aber als ihr Kollege Dr. Ty Smith sie auf seinem Motorrad nach Hause bringt, spürt sie plötzlich eine brennende Sehnsucht nach ihm, nach Liebe... Gefährlich, denn Ty bleibt niemals lange an einem Ort!

SO KÜSST NUR DR. BOWMAN von JOSIE METCALFE
Das ist doch... Dr. Amy Willmotts Herz beginnt heftig zu schlagen, als sie auf ihren neuen Kollegen im Krankenhaus trifft: Zach Bowman, ihr großer Schwarm aus Schulzeiten. Aber sie stammt aus wohlhabenden, er aus armen Verhältnissen. Hat ihre Liebe dennoch eine Chance?

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Anna träumt jede Nacht davon, den attraktiven Dr. Davenport zu küssen. Als er eines Tages unter Schock steht, verfolgt von dunklen Erinnerungen, kann Anna nicht anders: Sie gibt dem neuen Leiter der St. Piran's-Chirurgie einen Kuss - einen Kuss, der alles verändert ...

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BITTERSÜSS WIE DEINE KÜSSE von FIONA LOWE
Ausgerechnet ihr Boss Dr. Luke Stanley bittet sie, sich um seine kleine Tochter zu kümmern! Chloe kann dem frisch verwitweten Singledad seinen Wunsch nicht abschlagen.
Doch bald weckt Luke nicht nur ihr Mitgefühl, sondern auch eine ebenso verlockende wie verbotene Sehnsucht ...


  • Erscheinungstag 21.04.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514293
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Susan Carlisle, Josie Metcalfe, Alison Roberts, Sarah Morgan, Fiona Lowe

Vom Arzt geküsst - Herzklopfen garantiert!

IMPRESSUM

Küsse, die das Herz zum Schmelzen bringen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2014 by Susan Carlisle
Originaltitel: „The Rebel Doc Who Stole Her Heart“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 82 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: GettyImages_jacoblund

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733729363

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Herzchirurgin Michelle Ross stieß die Tür zum Operationssaal 4 im Raleigh Medical Center in North Carolina schwungvoll mit der Hüfte auf.

Heute stand die Herzoperation von Mr. Martin an. Dieser Patient war genau der Typ Mensch, der ihr allergrößtes Mitgefühl erregte. Fast immer hatten solche Patienten kleine Kinder, die zu Hause warteten und hofften, dass es ihren Eltern wieder besser ging. Sie musste diesem Vater helfen. Sie musste sein Leben retten, damit er wieder bei seiner Familie sein konnte.

Sie blickte die Mitglieder ihres Teams kurz an und fragte knapp: „Alle bereit?“

Die Ärzte und Schwestern, die um Mr. Martin, einen Mann mittleren Alters, versammelt waren, hatten sich leise miteinander unterhalten. Jetzt verstummten sie. Wäre ein Skalpell versehentlich auf den Boden gefallen, hätte man das Echo gehört, so still war es im Raum.

Michelle bemerkte, dass alle es vermieden, ihr in die Augen zu sehen. Was ging hier vor? Normalerweise war ihr Team ohne Zögern bereit, mit der Operation zu beginnen. Nur aus Gewohnheit stellte sie jedes Mal dieselbe Frage.

Pannen waren in ihrem OP nicht erlaubt, Effizienz war ihr Motto. Ihre Patienten verdienten die allerbeste Behandlung, und die bekamen sie. Sie hatte jeden im Team sorgfältig ausgewählt, und alle wussten, was von ihnen erwartet wurde. Sie vertraute ihrem Team, also was war heute los?

Niemand wollte offenbar antworten. In diesem Fall, der ihre völlige Aufmerksamkeit erforderte, verringerte dies ihre Anspannung nicht gerade. Sie trat an ihren Platz am OP-Tisch. Dann fiel ihr Blick auf den jungen Arzt, der dem Anästhesisten assistieren sollte. „Wo ist Dr. Schwartz?“, fragte sie.

Die Augen des jungen Kollegen waren über dem Mundschutz sichtbar. Er blinzelte nervös. Dann sagte er: „Die Vertretung für Dr. Schwartz ist noch nicht da.“

Michelle Ross wollte gerade verärgert nachfragen, als jemand zur Tür hereinkam. Ein Mann mit breiten Schultern wandte ihr den Rücken zu. Dann drehte er sich um und blickte die Gruppe an. Seine orangefarben gestreifte Operationshaube fiel ihr sofort auf, denn sie passte überhaupt nicht in ihre geordnete und sterile Welt. Er trug den normalen blauen Kittel des Krankenhauses, aber was ebenfalls ihre Aufmerksamkeit erregte, waren die limonengrünen Clogs, die durch die sterilen Überziehschuhe an seinen Füßen schimmerten.

Wer war dieser Clown? Es fehlte nur noch die rote Pappnase. Als er näher kam, bemerkte Michelle, dass die Augen über seinem Mundschutz auffallend jadegrün waren.

Er blickte sie an, zwinkerte ihr zu. Das brachte sie für einen Moment aus dem Konzept.

Das war doch wohl nicht etwa der verspätete Vertretungs-Anästhesist?

„Hallo zusammen, ich bin Ty Smith, die Vertretung für den Kollegen Schwartz.“ Obwohl er einen Mundschutz trug, bemerkte sie, dass er lächelte und Augenkontakt mit jedem im Team suchte.

„Unser Patient ist bereit, und wir warten alle nur noch auf Sie“, sagte sie, um weitere Plaudereien zu unterbinden.

„Sie müssen Dr. Ross sein“, stellte er in lockerem Ton fest.

„Ja. Fangen wir an.“

Der Anästhesist zog den Stuhl an seinem Platz mit dem Fuß näher heran und setzte sich mit einer lässigen Bewegung. Dabei schien er keinen weiteren Gedanken mehr an sie zu verschwenden oder ein schlechtes Gewissen zu haben, dass alle im Team auf ihn hatten warten müssen.

Er blickte den Assistenzarzt an: „Gut gemacht.“

Der junge Mann, der bei Michelles Frage zuvor so nervös reagiert hatte, entspannte sich sichtbar.

Dr. Smith überprüfte die Narkosevorbereitungen und sah Michelle an. „Ich bin bereit, wenn Sie es auch sind, Doc.“

Wieder irritierten seine Augen Michelle. Sie erinnerten sie an grünen Rasen nach einem Frühlingsregen. „Dr. Ross, bitte“, wies sie ihn zurecht.

„Der Patient ist bereit, Dr. Ross.“ Michelle beschlich das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte.

Mehrere Stunden später setzte sie die letzte Naht. Sie war erleichtert, dass die Operation komplikationslos verlaufen war. Ihr Patient hatte sehr wahrscheinlich noch ein langes Leben vor sich und würde seine Kinder aufwachsen sehen. Darauf war sie stolz.

Ihr Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, als sie zwölf Jahre alt war. Sie waren gerade unterwegs gewesen, um neue Schulkleider für sie zu kaufen, und ihre Mutter und sie hatten sich nicht einigen können. Plötzlich hatte ihr Vater sich an die Brust gegriffen und war im Einkaufszentrum zu Boden gestürzt. Noch immer konnte Michelle die Rufe der umstehenden Passanten hören. „Schnell, holt einen Krankenwagen!“ Menschen liefen hektisch umher. Aber am deutlichsten war ihr in Erinnerung, wie sie verzweifelt schluchzte.

Bei der Beerdigung, als sie neben ihrer Mutter in der ersten Bank in der Kirche saß, hatte sie sich geschworen, dazu beizutragen, dass anderen Kindern möglichst erspart blieb, was sie selbst erleben musste. Sie hatte Medizin studiert und hart gearbeitet, um Herzchirurgin zu werden. Ihre persönliche Erfahrung lehrte sie, dass Humor bei dieser Arbeit nichts zu suchen hatte. Medizin war eine ernsthafte Angelegenheit.

Michelle wollte gerade die Operation abschließen, als ein leises Summen sie ablenkte. Es kam vom Kopfende des OP-Tisches. Während der Operation hatte sie den Neuen im Team nicht angesehen. Stattdessen hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Patienten gegolten, auch wenn ihr Assistent den ersten Schnitt gesetzt hatte.

Sie blickte zum Kopfende des Tisches. Smith schaute konzentriert auf einen Monitor. Die anderen Teammitglieder um den Tisch traten unruhig von einem Bein aufs andere. Michelle war der Meinung, dass ein Operationssaal kein Ort war, um Musik zu hören. Sie wollte nicht, dass irgendetwas die konzentrierte Atmosphäre störte. Es sollte möglichst still sein.

Eine frostige Anspannung breitete sich aus. Die verstohlenen Blicke ihrer Kollegen entgingen ihr nicht.

Der Neue schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. „Summen Sie doch einfach mit.“

Dieser Mann brachte Unruhe in ihren OP. Er musste ihr Team wieder verlassen. Dafür würde sie sorgen.

„Wie ist der Blutdruck?“, fragte sie kurz angebunden.

„Stabil.“

„Dann sind wir fertig. Der Patient kann jetzt auf die Intensivstation verlegt werden. Und hören Sie auf zu summen.“

„Jawohl, Ma’am.“

Er klang wie ein unartiger Schuljunge, den man gerade zurechtgewiesen hatte, weil er ein Mädchen an den Haaren gezogen hatte.

Ty rieb sich den Nacken, um seine verspannten Muskeln zu lockern, und verließ den OP. Er war müde, denn er war bis spät in der Nacht unterwegs gewesen. Am Stadtrand war ein Autounfall passiert. Er hatte mitgeholfen, und es hatte sehr lange gedauert, die Verletzten zu versorgen. Er kam nicht gern zu spät, aber ihm war keine Wahl geblieben. Da er als Erster an der Unfallstelle gewesen war, musste er helfen. Er nahm seine Pflicht als Arzt sehr ernst.

Es machte ihm nichts aus, immer wieder umzuziehen. Das hatte er schon sein ganzes Leben lang getan, und er war daran gewöhnt. Seine Eltern waren Möchtegernhippies gewesen und immerzu irgendwelchen Rockbands nachgereist. Joey, sein sechs Jahre jüngerer Bruder, hätte ständige medizinische Betreuung und ein solides Zuhause gebraucht, aber das widersprach dem Lebensstil seiner Eltern. Mal fragten sie irgendeinen obskuren Guru um Rat, ein andermal verabreichten sie Joey ein paar Heilkräuter. „Wenn wir in die Wüste ziehen, kann Joey besser atmen. Das Klima dort wird ihm guttun, er wird sich erholen.“ Sie hatten sich geirrt. Ein tödlicher Irrtum.

Seine Eltern behaupteten, es sei Schicksal gewesen. Ty sah das anders. Joey hätte weiterleben sollen, ihm ständig hinterherlaufen und ihm auf die Nerven gehen mit seiner neugierigen Fragerei. Als Ty am Boden saß, um ihn herum Gemurmel, Jammern und betäubender Räucherstäbchenrauch, hatte er beschlossen, dass er dieses Leben nicht mehr wollte.

Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass seine Eltern Joey nicht zu einem normalen Arzt gebracht hatten. Er hätte Joey nicht einfach sterben lassen. Und deswegen beschloss er, die Kommune zu verlassen, um bei seinen Großeltern zu leben.

Ty war intelligent und hatte in der Schule sehr gute Noten, deshalb entschied er sich, Medizin zu studieren. Wenn er anderen half, konnte er vielleicht ein wenig wiedergutmachen, was seinem kleinen Bruder passiert war. Gleich nach dem Studium bot ihm ein Freund einen Job an. Er besaß eine Firma, die Ärzte als Vertretung in Kliniken vermittelte. Er nahm den Job an. Als Vertretungsarzt arbeitete er immer dort, wo er gerade gebraucht wurde. Meistens blieb er nur ein paar Wochen an einem Ort. Er hatte sich an diesen Lebensstil gewöhnt. Und heute wollte er nur noch eines: zu seinem Apartment fahren und ins Bett fallen.

„Dr. …“

„Ty Smith.“ Er gab der Chirurgin die Hand.

Sie sah gut aus. Glänzende braune Haare, volle Lippen und ein ebenmäßiger Teint. Schade, dass sie so schroff war. Im Lauf der Jahre waren ihm viele solcher Menschen begegnet, aber diese Frau gewann den ersten Preis. „Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Ty. Wie darf ich Sie nennen?“

„Dr. Ross.“

Brrr … Eine eisige Brise wehte ihm entgegen. Die Farbe ihrer Augen verstärkte diesen Eindruck noch. Normalerweise hatte er eine Schwäche für Frauen mit eisblauen Augen, aber bei ihr nicht. Er hatte auch mit anderen Ärzten zusammengearbeitet, die mit seiner lockeren Art nicht unbedingt zurechtkamen, aber so abweisend hatte noch niemand auf ihn reagiert. Das war wirklich alles andere als eine freundliche Begrüßung.

„Dürfte ich Sie einen Moment sprechen? Privat?“ Förmlicher hätte ihr Tonfall nicht sein können.

„Sicher.“ Er steuerte auf eine ruhige Ecke zu, und sie folgte ihm.

Er bemühte sich, so professionell wie möglich zu klingen. „Nun, Dr. Ross, schön, Sie kennenzulernen. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

„Wir werden nicht mehr zusammenarbeiten. Ich finde nicht, dass wir uns gut ergänzen. Ich erwarte von meinem Anästhesisten, dass er pünktlich ist.“

Was war nur passiert, dass diese Frau so dermaßen verbissen war?

„Es tut mir leid, dass Sie diesen Eindruck von mir haben. Ich bin nicht absichtlich zu spät gekommen. Außerdem hat der Assistenzarzt seine Arbeit sehr gut gemacht. Unser Patient war keine Sekunde lang in Gefahr. Wo kein Schaden, da auch kein Kläger. Bis später.“ Er wollte ihr klarmachen, dass er sich nicht unterkriegen ließ, obwohl er neu im Krankenhaus war.

Sie wollte antworten, verhaspelte sich aber vor Ärger.

Ty wartete ihre Antwort nicht ab. Er drehte sich um und machte sich auf den Weg in den Umkleideraum.

Zwei Stunden später saß er im Schwesternzimmer auf der Intensivstation. Er war nicht so früh fertig geworden wie erhofft und notierte sich gerade die Werte des letzten Patienten. Als er aufblickte, kam Dr. Ross in Begleitung einer Frau und zweier Teenager herein. Sie führte die drei zum Bett von Mr. Martin.

Die Krankenschwester links neben ihm flüsterte ihrer Kollegin zu: „Die Schneekönigin kommt!“

Sie war anscheinend jedem gegenüber so unterkühlt.

„Stimmt. Aber die Frau hat einen guten Geschmack“, antwortete die andere. „Schade, dass sie nicht so nett ist, wie sie sich anzieht.“

Die Frauen waren offensichtlich ein wenig neidisch.

Ty fand das auch nicht verwunderlich. Dr. Ross war eine attraktive und sehr elegante Frau. In ihrem hellrosa Jackett und dem engen Rock, der ihre Figur betonte, war sie wirklich ein Blickfang. Er setzte sich kerzengerade auf und begutachtete sie von Kopf bis Fuß. Sein Blick folgte ihren wohlgeformten Beinen hinab zu den schlanken Fesseln, bis er bei ihren High Heels ankam, die perfekt zu ihrem Rock passten. Er hätte sein Motorrad verwettet, dass diese Schuhe von einem Designer speziell für sie angefertigt worden waren.

Dann wanderte sein Blick wieder hoch zu ihrem glänzenden braunen Haar. Sie hatte es mit einer großen silbernen Spange zusammengefasst, die den Eindruck noch verstärkte, dass diese Frau alles unter Kontrolle hatte. Unter ihrem OP-Kittel hatten sich ein paar äußerst attraktive Kurven versteckt. Schade nur, dass sie so frostig war.

Wenn sie sprach, unterstrich sie ihre Worte mit eleganten Handbewegungen. Sie wies auf die Apparate, die das Bett des Patienten umgaben. Offenbar erklärte sie, wozu sie dienten und wie sie funktionierten. Zu seiner Überraschung lächelte sie gelegentlich in die kleine Runde. Offenbar verbarg sich unter dem unterkühlten Äußeren doch ein wenig menschliche Wärme. Ihn wollte sie daran aber nicht teilhaben lassen, war sein Eindruck.

Sie sah in seine Richtung, und für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. War da Ängstlichkeit in ihren Augen?

Nein, er musste sich wohl getäuscht haben. Dr. Ross strotzte geradezu vor Selbstbewusstsein.

Ty lehnte sich im Stuhl zurück und beobachtete die Familie, die sich um den Patienten versammelt hatte. Dr. Ross war einen Schritt zurückgetreten und beantwortete gelegentliche Fragen.

Ty stand auf und wollte die Abteilung verlassen. Als sie wieder in seine Richtung blickte, überlegte er es sich anders, ging zu ihr hinüber und fragte unauffällig: „Gibt es ein Problem?“

Sie erstarrte. „Nein. Warum fragen Sie?“, zischte sie. Dabei schaute sie weiter auf die Familienmitglieder, als wollte sie sichergehen, dass diese von der Unterhaltung nichts mitbekamen.

„Aus meiner Sicht macht alles einen guten Eindruck“, meinte er leise. „Wenn es weiter so komplikationslos verläuft, muss er morgen nicht mehr künstlich beatmet werden.“

„Ich würde es begrüßen …“

Die Dame, offenbar die Ehefrau des Patienten, unterbrach ihre Unterhaltung und blickte zuerst ihn und dann Dr. Ross an.

Die Ärztin räusperte sich und zögerte fast unmerklich. Sie hatte wohl nicht vorgehabt, ihn vorzustellen, aber es wäre jetzt unhöflich gewesen.

Er lächelte die Frau an und reichte ihr die Hand. „Hallo, ich bin Ty Smith. Ich bin Anästhesist und habe bei der Operation mit Dr. Ross zusammengearbeitet.“

„Ich danke Ihnen. Mein Mann war bei Ihnen offensichtlich in sehr guten Händen. Auch mein Sohn und meine Tochter …“, sie nickte den beiden Teenagern zu „… sind dankbar für alles, was Sie für ihn getan haben.“

„Ich versichere Ihnen, dass die Operation sehr gut verlaufen ist. Dr. Ross ist eine hervorragende Chirurgin.“ Er sah seine Kollegin an. Ein skeptischer Zug huschte über ihr Gesicht. Sie fragte sich offenbar, woran sie bei ihm war. Er hatte es ernst gemeint, als er ihre Fähigkeiten gelobt hatte. Sie war wirklich besser als viele Ärzte, die er kannte, aber sein Lob schien ihr unangenehm zu sein.

„Es tut mir leid, dass Sie im Moment nicht länger bleiben können“, sagte Dr. Ross zu der Frau. „Essen Sie doch zu Abend, und kommen Sie nach dem Schichtwechsel wieder.“

„Das werden wir. Kommt, Kinder. Danke, Dr. Ross, Dr. Smith. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“

Als die Familie an ihm vorbei zur Tür ging, nickte er allen zu.

Dr. Ross wandte sich an die Krankenschwester und besprach mit ihr den Zustand des Patienten.

Ty ging leise fort. Nach ihrer unangenehmen Unterredung hatte sie sicherlich nicht gewollt, dass er sich in das Gespräch mit der Familie des Patienten einmischte. Für ein paar Sekunden hatte er hinter ihrer unterkühlten Fassade Gefühle wahrgenommen, die er nicht benennen konnte.

Ein paar Minuten nachdem Michelle die Intensivstation verlassen hatte, klopfte sie an die Tür des Chefarztes.

„Herein.“

Michelle war nicht immer einverstanden mit den Entscheidungen und Anweisungen von Dr. Marshall, aber sie hielt ihn für fair. Er war für sie eine Art Mentor. Mehr als einmal hatte er sich für sie eingesetzt, als sie Probleme mit der Verwaltung gehabt hatte. Meistens mischte er sich jedoch nicht in ihre Arbeit ein. Er unterstützte sie, aber er war vom alten Schlag. Als er Medizin studierte, waren die meisten Ärzte noch Männer gewesen. Eine Frau als Herzchirurgin hatte ihm zunächst ein wenig Bauchschmerzen bereitet.

Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Der Chefarzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte sie interessiert an. „Was führt dich zu mir? Du warst schon lange nicht mehr bei mir im Büro, wenn ich mich recht erinnere.“

„Bob, du weißt, dass ich mich selten beklage.“

Er nickte und blickte sie prüfend an.

„Aber ich kann nicht gestatten, dass der neue Anästhesist noch einmal mit mir im OP arbeitet.“

Marshall richtete sich auf und blickte sie besorgt an. „Geht es dem Patienten gut?“

„Dem Patienten geht es gut. Ausgesprochen gut sogar.“

Er entspannte sich. „Was ist dann das Problem? Smith – so heißt er doch, nicht wahr? – hat einen sehr guten Ruf. Und einen beeindruckenden Lebenslauf. Hervorragend.“

„Ich kann keinen Anästhesisten gebrauchen, der zu spät zur Operation kommt.“

Bob sah sie ungläubig an. „Warum ist er denn zu spät gekommen?“

„Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt.“

„Hast du ihn denn nicht gefragt?“

„Nein, das habe ich nicht. Aber ich brauche ein Team, das pünktlich ist.“

„Wenn das das Einzige ist, was dich an ihm stört, dann solltest du ihn fragen, warum er zu spät gekommen ist. Ich weiß, dass du dein Team fest im Griff hast, aber jeder von uns kommt mal zu spät.“

„Ich nicht.“

Bob stieß einen Seufzer aus. „Du bist immer pünktlich. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn du manchmal unpünktlich wärst.“ Er sagte die letzten Worte so leise, dass sie sie fast nicht gehört hätte. „Michelle, ich glaube, du übertreibst etwas. Wir haben zu wenige Anästhesisten, und ich kann nicht jeden von deinen OPs fernhalten, der dir nicht passt. Smith ist hochqualifiziert. Wenn er nichts tut, was einem Patienten schadet, musst du einen Weg finden, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

„Aber …“

„Michelle, ich weiß, dass du eine sehr engagierte Ärztin bist. Ich schätze das, aber ich denke, du kannst dieses Problem ohne mich lösen. Smith wird nur sechs Wochen lang hier sein. Ich bin sicher, dass du solange mit ihm zurechtkommen wirst.“

Sein Telefon klingelte, und er griff nach dem Hörer. „Lass mich wissen, wenn es ein Problem gibt, das einen Patienten betrifft.“ Er hielt den Hörer ans Ohr: „Hallo?“

Die Unterredung war beendet. Michelle verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ohne Bobs Unterstützung hatte sie keine Wahl. Sie musste allein mit dem Neuen klarkommen. Wie sollte sie das nur aushalten? Einfach alles an ihm störte sie.

Ty trat hinaus in den warmen Frühlingsabend. Er war froh, nach Hause zu kommen – oder zumindest in das Apartment, das er die nächsten Wochen sein Zuhause nennen würde. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er nie in einem richtigen Haus aus Ziegeln und Mörtel gewohnt.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und massierte seinen verspannten Nacken. Es hatte länger gedauert als gehofft, aber er war noch bei dem Patienten gewesen, der am nächsten Tag operiert werden sollte. Erst jetzt konnte er das Krankenhaus verlassen.

Er schwang sich seine schwarze Bomberjacke über die Schulter und machte sich auf dem Weg zu seinem Motorrad. Eine Frau in einem engen Rock ging in einiger Entfernung vor ihm her.

In der Dämmerung konnte er weder ihre Haarfarbe noch ihre Kleidung erkennen, aber ihren aufreizenden Hüftschwung, als sie in die Schatten und wieder heraus trat. Sie bewegte sich wie ein Model auf einem Pariser Laufsteg. Noch nie hatte er eine Frau so sexy gehen sehen. Er hätte nichts dagegen, ihre Bekanntschaft zu machen. Vielleicht arbeitete sie in der Krankenhausverwaltung. Gleich morgen wollte er es herausfinden.

Mit einem Gefühl der Enttäuschung sah er, wie sie zwischen zwei parkende Wagen trat und er nur noch ihren Kopf sehen konnte. Eine Minute später erreichte er ihr Auto. Sie blickte ihn an. Sein zunehmendes männliches Interesse bekam eine eiskalte Dusche verpasst.

„Dr. Ross!“ Er konnte sein Erstaunen beim besten Willen nicht verbergen. Es war die Schneekönigin, die diesen unglaublich sexy Hüftschwung hatte!

Auch sie blickte ihn fast erschrocken an. Ihr Wagenschlüssel fiel zu klirrend zu Boden.

„Dr. Smith. Suchen Sie mich?“ Ihre Stimme klang plötzlich ein wenig zu hoch.

Vielleicht lag das daran, dass er sie eben noch bewundernd angeblickt hatte.

Sie ging elegant in die Knie und hob ihren Schlüssel auf. „Stimmt etwas mit unserem Patienten nicht?“

„Soweit ich informiert bin, geht es ihm gut.“

„Warum sind Sie dann hier?“

„Dies ist ein öffentlicher Parkplatz. Mein Motorrad steht dort drüben.“ Er deutete an ihr vorbei in die Richtung.

Sie warf einen Blick über die Schulter. „Sie fahren Motorrad?“ Es klang verblüfft und zugleich ein wenig vorwurfsvoll. „Das ist gefährlich.“

„Haben Sie es jemals ausprobiert?“

„Nein!“

„Dann tun Sie es. Vielleicht macht es Ihnen ja Spaß.“

Er blickte auf ihre schlanken Fesseln, die auf den hohen Absätzen balancierten. „In diesem Outfit würden Sie allerdings Aufmerksamkeit erregen. Man könnte Ihnen so tief unter den Rock schauen, dass es einen Verkehrsstau geben könnte.“ Er schmunzelte.

Als sie den Kopf senkte, grinste er noch breiter. Das konnte er nur als Verlegenheit deuten.

Wenn er sich nicht irrte, waren ihre Wangen jetzt genauso rosa wie ihre Schuhe. Irgendetwas an ihrer Reaktion ließ ihn vermuten, dass sie Komplimente von Männern nicht gewohnt war. Wahrscheinlich schreckte ihre unterkühlte und schroffe Art die meisten Männer ab. Dabei war sie zweifellos sehr attraktiv.

„Ich habe nicht das geringste Interesse daran, einen Stau zu provozieren.“ Sie stieg in ihren Wagen ein und schlug die Tür ein wenig zu heftig zu.

Vielleicht hatte sie kein Interesse daran, aber die Frau hatte ganz eindeutig alles, was nötig war, um genau das zu erzeugen.

Ty ging zu seinem Motorrad. Sie musste an ihm vorbeifahren. Als sie neben ihm war, blickte sie ihn eine Sekunde lang seltsam intensiv an. Dann gab sie Gas und war verschwunden.

Ja, die nächsten Wochen würden ganz ohne Frage interessant werden.

Michelle näherte sich dem schlichten roten Backsteinhaus, in dem ihre Mutter wohnte. In dieser Gegend am Stadtrand sahen alle Häuser ähnlich aus. Die Wohnzimmervorhänge bewegten sich, und das Gesicht ihrer Mutter erschien. Michelle stieg aus, öffnete den Kofferraum und hob Plastiktüten mit Lebensmitteln heraus.

Sie ging zur Haustür. Als sie fast auf der Schwelle stand, öffnete sich die Tür. „Mum, du hättest nicht aufstehen sollen. Ich kann doch selbst aufsperren.“

Michelles Mutter, groß, aber zerbrechlich, grau meliertes Haar, lächelte. „Ich weiß, Liebes, aber du hast ja keine Hand frei.“

„Und der Arzt hat gesagt, dass du dich schonen sollst.“

„Das tue ich. Du machst dir zu viele Sorgen. Und was wissen Ärzte schon?“ Sie lächelte noch herzlicher. Michelle musste lachen. Damit neckten sie sich oft. Ihre Mutter war sehr stolz auf ihre Tochter und sagte ihr das auch oft. Michelle machte sich ständig Sorgen um ihre Mutter, seit ihr Vater gestorben war. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren. Dann wäre sie ganz allein auf der Welt.

„Mum, setz dich doch zu mir in die Küche. Ich räume die Einkäufe weg und mache uns etwas zum Abendessen.“

„Ja, schön. Dann kannst du mir erzählen, wie dein Tag war. Du arbeitest viel zu hart. Von morgens bis abends bist du im Krankenhaus, und dann kommst du noch hierher, um nach mir zu sehen!“

Diese Diskussion führten die beiden ständig, und sie drehte sich immer im Kreis.

Michelle und ihre Mutter gingen durch den Flur in die kleine gemütliche Küche. Sie war Michelles liebster Raum im Haus, denn sie verband mit der Küche die schönsten Erinnerungen an ihren Vater. Auch so viele Jahre nach seinem Tod setzten weder sie noch ihre Mutter sich auf den Stuhl, auf dem er immer gesessen hatte.

Michelle bereitete ein einfaches Abendessen zu. Ihre Mutter erzählte ihr dabei von einem Buch, das sie gerade las, und den Kindern aus der Nachbarschaft, die gekommen waren, um ihr selbstgebackene Kekse zu verkaufen. Michelle hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil ihre Mutter so oft allein war.

Vor ihrer Krebserkrankung war diese sehr aktiv gewesen. Jetzt befand sie sich zwar auf dem Weg der Besserung, aber Michelle machte sich Sorgen, dass ihre Mutter die Hoffnung auf eine Heilung aufgegeben hatte. Und was noch schlimmer war: Michelle fühlte, dass auch sie selbst nicht wirklich daran glauben mochte. Sie war Herzchirurgin. Krebs war nicht ihr Fachgebiet. Hier hatte sie nicht alles unter Kontrolle, und es war schwer für sie, damit klarzukommen.

Nach all den Jahren, in denen sie Medizin studiert und dann als Ärztin gearbeitet hatte, konnte sie ihrer Mutter nicht wirklich helfen. Der Krebs schien unberechenbar. Das Wichtigste war, die Hoffnung nicht aufzugeben. Mehr konnte sie nicht tun. Aber diese Machtlosigkeit machte Michelle wütend und verzweifelt.

Sie stellte ihrer Mutter einen Teller hin. Der zweite kam auf den Platz, an dem sie ihr Leben lang gesessen hatte. Dann füllte sie Eistee in zwei Gläser und setzte sich.

„Also, wie war dein Tag? Ist irgendetwas Besonderes passiert?“, fragte ihre Mutter, während sie in ihrem Essen herumstocherte.

Plötzlich kam Michelle der breitschultrige, ungehobelte Anästhesist mit dem dunklen, unordentlichen Haar in den Sinn. Sie hatte keine Ahnung, warum.

„Nein, nichts Besonderes. Meine Operationen waren erfolgreich, das ist immer ein guter Tag.“

„Du weißt, dass du öfter ausgehen solltest.“

Michelle seufzte. Fast jeden Tag sorgte sie dafür, dass es einem Patienten wieder besser ging. Manchmal rettete sie sogar ein Leben, das verloren zu sein schien. Trotzdem war ihre Mutter nur daran interessiert, dass sie einen Mann kennenlernte. Egal, wie alt oder wie erfolgreich sie war, ihre Mutter wünschte sich vor allem, dass sie endlich jemanden fand, der zu ihr passte.

Michelle hatte gar nichts dagegen. Ihr war nur noch nicht der Richtige begegnet. Sie musste zugeben, dass es schön wäre, einen Mann an ihrer Seite zu haben. Einen ernsthaften Mann, der sie verstand. Es wäre herrlich, eine so wundervolle Ehe wie die ihrer Eltern zu haben.

„Michelle, du hast gar keinen Spaß im Leben. Du arbeitest viel zu viel. Wenn du nicht im Krankenhaus bist, verbringst du deine Abende mit mir. Du musst wirklich ein bisschen öfter ausgehen.“

„Das sagst du fast jeden Tag. Mum, ich verbringe gern Zeit mit dir.“

„Arbeiten im Krankenhaus denn keine jungen Männer, die du sympathisch findest?“

Ohne dass sie es wollte, kam Michelle der nervige Anästhesist mit seinen grünen Augen in den Sinn. „Niemand, der mich interessiert.“

Ty öffnete die Tür seines unpersönlich möblierten Apartments. Seine Umgebung interessierte ihn nicht besonders. An solchen Orten zu leben, war er inzwischen gewohnt. Wenigstens hatte er ein Dach über dem Kopf, das war schon mehr, als er aus seiner Kindheit kannte.

Mit dem Fuß schob er einen großen braunen Pappkarton mit seinem Namen in den Raum und schloss die Tür. Der Karton diente ihm als Koffer. Seine Gitarre würde erst morgen ankommen. Er hatte sie ins Krankenhaus schicken lassen, sodass jemand unterschreiben und sein Instrument aufbewahren konnte. Manchmal nahm er sie auf dem Motorrad mit, aber diesmal hatte er keine Lust gehabt. Sie war eines der wenigen Dinge, die er nicht zurückgelassen hatte, als er seine Eltern verließ.

Er legte seinen Motorradhelm auf den Stuhl neben der Tür ab und ging in die Küche. Dort stellte er eine Tüte mit einem Päckchen Gourmetkaffee auf den Tisch und suchte nach der Kaffeemaschine. Wunderbar. Es war eine exzellente Kaffeemaschine. Das war seine einzige Forderung gewesen.

Doctors to Go, die Agentur, für die er arbeitete und die ihm zur Hälfte gehörte, war dieser Forderung nachgekommen. Ty hatte bereits ein Jahr lang für die Agentur gearbeitet, als ihm sein Freund eine Geschäftsbeteiligung anbot. Da er nichts besaß als sein Motorrad und die Kleider am Leib, dazu etwas Wäsche zum Wechseln, hatte er viel sparen können, dazu hatte er auch etwas Geld von seinem Großvater geerbt. So konnte er sich in die Firma einkaufen.

Sein Partner führte die Geschäfte, und Ty blieb als sehr stiller Teilhaber im Hintergrund. Er nahm nicht an den Konferenzen und Sitzungen teil. Als er zu seinen Großeltern gezogen war, hatte sein Großvater ihm eines seiner Ideale eingebläut: Man muss einen Plan für die Zukunft haben. Das war etwas, worum seine Eltern sich nie gekümmert hatten. Er hatte sich an den Rat seines Großvaters gehalten. Aber weil er die Arbeit mit Menschen liebte, praktizierte er weiterhin als Arzt.

Er kaufte nur selten Lebensmittel ein, wenn er in eine neue Stadt zog. Stattdessen aß er meistens im Krankenhaus. Außerdem erkundigte er sich nach Lokalen, in denen man einfach, aber gut essen konnte. Von einigen seiner neuen Kollegen hatte er bereits die Adressen von mehreren Restaurants bekommen. An seinem freien Tag wollte er eines davon ausprobieren.

Ty schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann ging er ins Badezimmer, streifte seine Sachen ab und trat unter die Dusche. Nicht überall, wo er als Kind und Jugendlicher gelebt hatte, hatte es eine anständige Dusche gegeben. Aber Regentonnen und Bäche in der Wildnis sind nichts im Vergleich zu einem heißen, prasselnden Wasserstrahl aus einer Dusche.

Ein gedämpftes Klingeln drang aus seinem Kleiderberg am Boden. Er zog den Duschvorhang zurück, hob seine Jeans auf, griff in die Hosentasche und zog sein Handy heraus. Sein Partner hatte ihm bereits per SMS mitgeteilt, dass er ihn wegen einer geschäftlichen Sache anrufen würde.

„Smith hier. Ich rufe gleich zurück. Bin gerade unter der Dusche.“

„Äh, Dr. Smith, hier ist Dr. Ross“, hörte er eine weiche, ein wenig gekünstelte Stimme sagen.

„Wer?“

„Dr. Ross.“ Sie betonte ihren Namen mit Nachdruck. Es klang ungeduldig.

„Oh, Michelle. Ich dachte, es wäre jemand anderer.“

„Offensichtlich.“

Er konnte förmlich sehen, wie sie dabei die Nase rümpfte. Diese Frau war einfach zu verkrampft. „Wie kann ich Ihnen helfen, Michelle?“ Er mochte den Klang ihres Namens. Er passte zu ihr.

„Die Operation ist zeitlich verlegt worden. Wir operieren gleich morgen früh.“

Er hielt sein Handy mit zwei Fingern, damit es nicht nass wurde. „Ich dachte, die Anästhesie-Schwester ist für solche Anrufe zuständig.“

„Normalerweise ja, aber man hat mich angerufen, und ich konnte sie nicht erreichen. Deshalb rufe ich Sie an.“

Sie war wirklich zuverlässig, das musste man ihr lassen. Ganz ohne Zweifel war sie eine gute Ärztin. „Woher haben Sie meine Handynummer?“

„Ich lege Wert darauf, immer die Nummern von allen meinen Mitarbeitern zu haben.“

„Ich verstehe.“ Er sprach die Worte absichtlich langsam und betont aus. „Aus keinem anderen Grund?“

„Nein, natürlich nicht. Wir sehen uns Punkt sieben.“

Er musste über ihren übertrieben arroganten Tonfall schmunzeln. Sie klang, als würde sie mit zusammengebissenen Zähnen sprechen. Er konnte einfach nicht anders, er musste sie necken. Sie war offenbar ein Mensch, der leicht zu irritieren war. Wenn er nur ihr Gesicht sehen könnte. „Ich werde da sein. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt wieder unter die Dusche.“

„Oh, äh, ja sicher. Bis morgen also.“

Man konnte die kühle Lady also aus der Fassung bringen. Als er wieder unter die Dusche trat, beschloss er, das öfter zu tun. Aber warum verschwendete er an diese steife, zugeknöpfte Frau überhaupt einen Gedanken? Sie war ganz sicher nicht sein Typ. Alles an ihr rief nach Stabilität und Sicherheit.

Mehr als einmal hatte man ihm vorgeworfen, ein Womanizer zu sein und es nie lange bei einer Frau auszuhalten. Keine bekam jemals irgendein Versprechen von ihm, er wollte sich zu nichts verpflichten. So verletzte er niemanden. Mochten andere Wurzeln schlagen, für ihn war das nichts.

Es hatte wohl ein paar Frauen gegeben, die ihn unbedingt an sich binden wollten. Aber es hatte nie lange gedauert, da war er schon wieder auf dem Weg in eine andere Stadt. Er war kein Mann, auf den sich eine Frau verlassen sollte.

Er mochte Frauen, die das Leben genossen, die gern lachten und nur ihren Spaß haben wollten. Das war alles, was ihn an einer Beziehung interessierte. Michelle nahm alles viel zu ernst. Sie war keine Frau, mit der man eine kurze, nette Affäre haben konnte. Wenn er überhaupt an einer Affäre mit ihr interessiert gewesen wäre. Und das war er wirklich nicht.

Genug von ihr. Er musste sich ausruhen, vor allem weil er ihr morgen früh in allerbester Verfassung gegenübertreten wollte. Er war sich nicht sicher, ob ihm das gelingen würde.

Er drehte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. Ein paar Minuten später legte er sich nackt zwischen die kühlen Laken.

Ihm kam Dr. Ross in den Sinn, wie sie über den Parkplatz ging. Die Wochen in Raleigh würden wohl interessanter werden, als er geahnt hatte.

2. KAPITEL

Früh am nächsten Morgen klopfte Michelle leise an die Zimmertür ihres ersten Patienten an diesem Tag.

Shawn Russell. Zwanzig Jahre alt. Es würde eine schwierige Operation werden. Er hatte einen angeborenen Herzfehler, war immer wieder im Krankenhaus gewesen, und daran würde sich auch nichts ändern. Und Shawn war ziemlich unglücklich, dass er erneut unters Messer musste. Diesmal sollte die inzwischen zu klein gewordene Herzklappe ausgetauscht werden. Bei den meisten Patienten wäre es ein normaler Eingriff, aber in diesem Fall wurde er durch das Narbengewebe nach den vielen vorhergegangenen Operationen erschwert.

„Herein.“

Michelle öffnete die Tür weiter. Das Zimmer war voller Leute, unzweifelhaft Familie und Freunde. Neben dem Bett stand Dr. Smith, ihr den Rücken zugewandt. Obwohl sie ihn gestern zum ersten Mal gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort an dem breiten Rücken und den dunklen Haaren.

Er wandte den Kopf. „Guten Morgen, Dr. Ross. Wir haben gerade von Ihnen gesprochen“, sagte er und grinste dabei. Michelle runzelte die Stirn. Sie mochte es grundsätzlich nicht, dass über sie gesprochen wurde, und hatte durchaus Zweifel, ob ihr gefiel, was er vielleicht über sie gesagt hatte.

Mehr als einmal hatte sie Getuschel gehört, wenn sie am Schwesternzimmer vorbeigegangen war. Und sein Grinsen erinnerte sie an ihre gestrige Unterhaltung, als er ihr ohne jede Scham erklärte, dass er in der Dusche stand. Er hatte versucht, eine Reaktion aus ihr herauszulocken, aber da spielte sie nicht mit.

„Ich bin hier, falls Shawn vor der Operation noch Fragen an mich hat“, erklärte er.

Sie nickte. „Gut.“

Dr. Smith strich sich das dunkle wellige Haar aus der Stirn, das sich hinter seinen Ohren lockte. Einen akkuraten Schnitt konnte man das nicht nennen.

„Wussten Sie, dass Shawn ein Master Gamer ist?“

Wovon redete der Mann? „Nein, wusste ich nicht. Das freut mich.“ Sie blickte Shawn an. „Haben Sie noch irgendwelche Fragen zur Operation?“

Der erbärmlich magere junge Mann schüttelte den Kopf. „Aber ich glaube, meine Mutter hat noch welche.“

„Die wird Dr. Ross ihr beantworten“, sagte Dr. Smith. „Wir sehen uns dann in wenigen Minuten im OP. Die Schwester wird Ihnen noch etwas geben, das Sie froh und glücklich macht.“ Er grinste wieder. „Aber gewöhnen Sie sich nicht zu sehr daran, Shawn, denn für zu Hause bekommen Sie nichts mit.“ Er hob die geballte Faust, und Shawn schlug seine dagegen. „Und vergessen Sie nicht, Sie haben mir ein Spiel versprochen.“

„Klar doch, Dr. Smith.“

„Sagen Sie Ty zu mir. Bis später.“

Shawn nickte und lächelte verhalten. Zum ersten Mal, seit Michelle ihn kannte, war er vor einer Operation nicht furchterfüllt. Sie und Dr. Smith mochten keinen guten Start gehabt haben, aber sie musste zugeben, dass er es verstand, Patienten zu entspannen. Locker zu sein war nicht gerade ihre starke Seite.

Eine halbe Stunde später betrat Michelle den OP-Bereich. Dr. Smith stand mit drei OP-Schwestern am Waschbecken, und sie unterhielten sich alle angeregt. Immer wieder lachten die Schwestern auf, wenn er etwas sagte.

Michelle fühlte sich wie nie zuvor in ihrem Leben als Außenseiterin. Sie wusste nicht, wie sie in die Unterhaltung einsteigen sollte. Schlimmer noch, sie wusste nicht zu sagen, warum sie es in diesem Moment so gern wollte. Wie mochte es sein dazuzugehören? Mehr über ihre Kolleginnen und Kollegen zu wissen, ihnen auch etwas von sich selbst zu erzählen? Konnte sie überhaupt jemals eine solche Beziehung mit ihnen haben? Überhaupt mit anderen Menschen?

Als Kind hatte sie Freundinnen gehabt. Nach dem Tod ihres Vaters aber kamen diese immer seltener, und sehr schnell begriff sie, dass sie sich in ihrer Gegenwart nicht mehr wohlfühlten. Die stets spürbare Trauer war einfach zu viel für die Mädchen gewesen. Michelle blieb immer öfter zu Hause, las und lernte.

Ihre Mutter ermutigte sie, zu Footballspielen zu gehen, zum Abschlussball, aber Michelle fand diese Vergnügungen langweilig. Zudem wollte sie ihre Mutter nicht allein lassen. Irgendwann nahmen ihre Mutter, das Studium und ihr Job sie voll und ganz in Anspruch, sodass wenig Zeit dafür blieb, persönliche Beziehungen aufzubauen. Es gab einige Männer, die sich für sie interessierten, die meisten für ihr Aussehen, wenige nur für ihren Intellekt. Keiner war lange geblieben.

Sie vertrieb ihre Erinnerungen und begab sich zu den Waschbecken, um pünktlich mit der OP zu beginnen. Lautes Gelächter erklang in der Gruppe um Dr. Smith, der sich nun umwandte und Michelle dabei beinahe anstieß.

„Hi, Michelle.“

Michelle trat auf das Pedal, um das Wasser anzustellen. „Hi“, erwiderte sie und konzentrierte sich aufs Waschen.

„Wir haben gerade darüber gesprochen, heute Abend zusammen in eine Bar in der Stadt zu gehen. Man hat mich gefragt, ob ich in der Mediziner-Band einspringen kann.“

„Sie machen Musik?“

„Tun Sie nicht so überrascht. Ich spiele etwas Gitarre. Deswegen hat Dr. Schwartz mich wohl auch gebeten, für ihn einzuspringen.“

„Ich wusste gar nicht, dass Dr. Schwartz in der Band spielt. Und nein, es überrascht mich nicht, ich habe nur Konversation gemacht.“

„Interessant. Sie kommen mir nicht vor wie jemand, der Small Talk macht.“

„Ich glaube nicht, dass Sie mich gut genug kennen, um das beurteilen zu können.“

„Sie haben recht. Vielleicht sollten wir versuchen, das zu ändern.“

Michelle blickte ihn an. Was lief hier eigentlich ab?

„Ein paar von uns trinken noch ein Glas zusammen, wenn die Ärzte-Band am Samstagabend gespielt hat. Wollen Sie nicht dabei sein? Ein wenig Small Talk üben.“

„Ich habe zu tun.“

„Na schön, aber wenn Sie es sich doch noch anders überlegen, wir gehen ins Buster’s. Wo immer das auch sein mag.“

„Mitten in der Altstadt.“

„Chirurgin und Fremdenführerin zugleich – das ist schon etwas“, meinte er ironisch.

Sie lächelte schwach. „Mein Vater ist mit mir dorthin gegangen, als ich noch ein Kind war.“ Wieso erzählte sie es ihm eigentlich?

„Ihr Vater hat Sie in eine Bar mitgenommen?“, neckte er sie.

Sie schnaubte empört. „In eine Bar hätte er mich niemals mitgenommen!“ Dr. Smith lachte leise. Flirtete er mit ihr? War er überhaupt jemals ernst? „Damals war es keine Bar, nur ein besserer Imbiss. Der Besitzer, Mr. Roberts, war mit ihm befreundet. Ich weiß nicht, wie es jetzt dort aussieht, aber früher hatte es blanke Ziegelwände und alte Holztische.“

„Sie sind in letzter Zeit nicht mehr dort gewesen?“

„Seit meiner Kindheit nicht mehr.“

„Warum nicht?“

„Ich bin einfach nie auf die Idee gekommen.“ Das stimmte nicht. Es war ein besonderer Ort für sie und ihren Vater gewesen. Die Erinnerungen waren zu stark. Ihr würde ihr Vater dann noch mehr fehlen.

„Vielleicht sollten Sie es wieder einmal versuchen.“

Sie beendete das Reinigen der Fingernägel. „Ich denke nicht.“

„Nun, ich hoffe, Sie ändern Ihre Meinung noch. Ist bestimmt nett dort. Wenn es immer noch Burger gibt, spendiere ich Ihnen einen“, sagte er, wandte sich um und ging.

Ein paar Minuten später betrat sie den OP. Das Team stand zusammen und lachte gerade leise über etwas, was Ty gesagt hatte. Er schien immer einen lustigen Spruch parat zu haben. Warum sollten die anderen nicht darüber lachen? Seit langer Zeit hatte sie selbst nicht mehr so oft gelächelt. Andererseits war sie seinetwegen auch angespannter als sonst. Als sie zu den anderen trat, wurde es still im Raum.

„Alle bereit? Ach, übrigens, wie schön, Sie schon vor mir hier zu sehen, Dr. Smith.“ Im nächsten Moment begriff sie, dass sie es in neckendem Ton gesagt hatte. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Was war denn in sie gefahren?

„Ja, diesmal musste ich nicht bei einem Autounfall helfen.“ Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest.

Das war klar und deutlich. Sie sollte eigentlich wegen ihres gestrigen Verhaltens ein schlechtes Gewissen haben. „Ich hoffe, niemand ist ernstlich verletzt worden.“

„Nein, glücklicherweise nicht. Ich bin jetzt bereit, wenn Sie es auch sind, Michelle.“ Seine Augen blitzten schelmisch, als er sie beim Vornamen nannte.

Michelle presste die Lippen hinter dem Mundschutz zusammen. Sie ahnte, sie würde es nicht schaffen, diesen nervigen Mann dazu zu bringen, sie im OP mit Dr. Ross anzusprechen. Sie würde es ihm durchgehen lassen müssen, außer er nannte sie vor Patienten beim Vornamen.

Als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass alle sie anblickten. Vermutlich hatten sie die Unterhaltung zwischen ihr und Ty interessiert verfolgt.

Damit niemand merkte, dass er es geschafft hatte, sie aus der Reserve zu locken, sagte sie forsch: „Fangen wir an.“

Eine ganze Weile später saß Ty im Schwesternzimmer der Kardiologie und sah vor der Visite Krankenakten der Patienten durch, die morgen operiert werden sollten. Michelle und er würden zusammen drei Operationen durchführen. Als er damit fertig war, klappte er die Akten zu und hörte im selben Moment das Klicken von Pfennigabsätzen auf den Fliesen. Er blickte auf und sah Michelle auf sich zukommen.

Das Haar hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden, sie trug eine bequeme graue Hose, dazu eine hellrosa Seidenbluse. Darüber hatte sie einen frisch gebügelten Arztkittel ohne eine einzige Knitterfalte, und er würde einen Wochenlohn verwetten, dass der auch noch gestärkt war. Ihre hochhackigen Peeptoes waren vom gleichen Taubengrau wie ihre Hose, die Zehennägel leuchtend pink lackiert.

Bedauerlicherweise konnte er ihre Beine nicht sehen. Sie besaß ausgesprochen hübsche Beine.

Ihr Outfit ließ keinen Zweifel an ihrer Weiblichkeit, in keiner Hinsicht. Sie war der personifizierte Widerspruch. Einerseits schroff und abweisend, andererseits berückend feminin. Welche war die wirkliche Michelle? Er würde es gern wissen.

Sie blickte in seine Richtung. Als er sie anlächelte, schaute sie weg und ging schnell weiter. Ty konzentrierte sich wieder auf seine Unterlagen und öffnete die nächste Krankenakte. Als er dann zufällig aufblickte, sah er die Schwester, die Shawn betreute, aufs Schwesternzimmer zumarschieren, die Lippen zusammengepresst. Sie blieb vor ihrer Kollegin stehen, die zwei Stühle weiter saß.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte sie: „Abby, passt du bitte kurz auf meinen Patienten auf? Die Schneekönigin ist wieder einmal in Hochform.“

Ihre Kollegin schien wenig erfreut. „Okay, aber bleib nicht zu lange weg. Ich möchte auch nicht in ihre Schusslinie geraten.“

„Ich muss etwas Dampf ablassen. Zum Glück ist sie gerade bei dem Patienten der armen Robin.“

Ty sah Michelle näher kommen, die beiden Schwester allerdings nicht. Kurz blitzte Schmerz in ihren Augen auf, dann aber wurde ihr Gesicht ausdruckslos. Unzweifelhaft hatte sie jedes Wort mitbekommen. Es hatte sie verletzt. Und zwar ziemlich, dem flüchtigen Ausdruck nach zu urteilen.

„Entschuldigen Sie, aber wenn Sie nicht zu sehr beschäftigt sind … haben Sie eine Telefonnummer, unter der ich Shawns Familie erreichen kann?“

Die eine Schwester fuhr herum, sichtlich verlegen. „Äh … ja, Dr. Ross, sie steht in der Krankenakte.“ Das Dampfablassen war offenbar vergessen, denn umgehend setzte sie sich an den PC und rief die Datei auf. Ty blickte Michelle an, aber sie würdigte ihn keines Blickes.

Die Schwester reichte Michelle einen Zettel mit der Nummer.

„Danke“, sagte Michelle steif und ging davon. Zum ersten Mal tat sie ihm leid.

Eine Weile später besuchte Ty die Patienten, die am nächsten Tag operiert werden sollten. Einer von ihnen hatte Fieber, deswegen musste die OP um mindestens einen Tag verschoben werden. Er würde mit Michelle darüber reden müssen.

Er hätte sie anrufen können, aber wegen des Vorfalls vorhin wollte er lieber persönlich mit ihr sprechen. Zum ersten Mal hatte er hinter ihre Maske blicken können und einen verletzlichen Menschen entdeckt. Auf dem Weg zu ihr redete er sich ein, er würde sich jeder Kollegin gegenüber so verhalten, die öffentlich so verletzt worden war. Speziell mit Michelle hatte es nichts zu tun. Normalerweise hielt er professionellen Abstand. Aber wieso diesmal nicht?

Er blieb vor der Tür mit ihrem Namensschild stehen und klopfte. „Herein“, kam die gedämpfte Aufforderung.

Ty öffnete und betrat den Raum. Abrupt blieb er stehen. Die Wände waren in einem warmen Gelb gestrichen, aber am meisten überraschte ihn das riesige Ölbild mit rotem Mohn hinter ihrem Schreibtisch. So etwas hatte er nicht erwartet. Die Frau wurde immer interessanter.

Vor dem Schreibtisch standen zwei ultramoderne Sessel, bezogen mit Stoff in Farben, die mit denen an der Wand und dem Bild harmonierten. Dies hier war offensichtlich ihr Zufluchtsort.

Michelle riss die Augen auf, als sie ihn sah. Sie waren gerötet und leicht geschwollen. Offensichtlich hatte sie geweint.

„Was kann ich für Sie tun, Dr. Smith?“ Ihr neutraler Ton verriet, dass sie ihn so schnell wie möglich wieder loswerden wollte.

„Nennen Sie mich doch bitte Ty.“

Leicht gereizt erwiderte sie: „Gibt es ein Problem … Ty?“

„Mr. Marcus hat leider Fieber bekommen.“ Er warf einen Blick in den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Zerknitterte Folie und eine Pappschachtel. Sie hatte Pralinen gegessen, um sich zu trösten. Das passte gar nicht zu einer Schneekönigin.

Er sah auf, ihre Blicke begegneten sich, aber sie sah rasch zur Seite.

„Tut mir leid, dass ich es mit angehört habe“, sagte er und blickte sie weiterhin an.

Sie tat nicht so, als würde sie nicht verstehen. Stattdessen setzte sie sich aufrechter hin. „Mr. Marcus muss prophylaktisch Antibiotika bekommen. Die Operation verschieben wir auf übermorgen.“

„Ich stimme Ihnen zu.“

„Gibt es sonst noch etwas?“ Sie schob ein paar Papiere zurecht, aber er vermutete, dass sie nicht daran gearbeitet hatte. Sie wollte, dass er ging. Ty hingegen dachte daran, dass sie geweint hatte. War ihre eisige Unnahbarkeit nur Fassade? Wie war die Frau, die dahintersteckte, wirklich?

„Wie ich sehe, haben Sie bereits etwas genascht, aber vielleicht hätten Sie Lust, mit mir einen Happen zu essen? Es soll hier in der Nähe ein Lokal geben, das köstliches Roastbeef anbietet.“

Sie sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. „Nein danke, ich habe zu tun“, erwiderte sie kühl.

„Dann vielleicht ein andermal?“

„Ich glaube nicht.“

Er lehnte sich mit der Hüfte gegen ihren Schreibtisch und blickte sie an. Sie erwiderte seinen Blick ziemlich unfreundlich.

„Was stört Sie an mir? Oder können Sie alle und jeden nicht ausstehen?“ Als sie den Mund öffnete, hob er die Hand. „Es geht mich eigentlich nichts an, und Sie können es auch abstreiten, aber ich weiß, dass Sie vorhin verletzt waren. Sie brauchen ihnen eigentlich nur zu zeigen, dass Sie menschliche Gefühle haben. Lächeln Sie, erkundigen Sie sich nach ihren Familien. Gewinnen Sie sie ein wenig für sich.“

Abrupt stand Michelle auf, stemmte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich vor. „Meinen Sie, ich wüsste nicht, was die anderen über mich denken? Es ist nicht mein Job, mit ihnen befreundet zu sein. Für mich kommen meine Patienten an erster Stelle. Wie können Sie es wagen, mir Vorschläge zu machen, wie ich mein Leben zu leben habe? Ich brauche keinen windigen Vertretungsarzt, der mir sagt, wie ich mit dem Pflegepersonal umgehen soll.“

Ty grinste. Sie hatte genauso reagiert wie gedacht. Voller Empörung. „Ich wollte nur sagen, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig.“

Er wandte sich ab und hörte sie wütend schnauben.

Es war schon zwei Uhr morgens, als Michelle das Krankenhaus verließ. Ihr Team war zu einem Notfall gerufen worden.

Nicht einmal ihren OP-Kittel und die Hose hatte sie ausgezogen, was wirklich selten vorkam. Aber sie war einfach zu müde. Als sie die ersten Schritte auf ihren Wagen zuging, hörte sie, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde. Sie schreckte zusammen, packte ihre Handtasche fester und warf schnell einen Blick über die Schulter. Es war Ty. Einerseits war sie froh, dass es niemand war, der vielleicht schlechte Absichten hatte, andererseits hätte sie gern auf seine Anwesenheit verzichtet.

„Gute Arbeit da drinnen, Michelle!“, rief er ihr zu.

Sie blieb stehen und wandte den Kopf. Das Licht auf dem Parkplatz war nicht schwach genug, um zu verbergen, dass er fertig wirkte. Zum ersten Mal erlebte sie ihn nicht munter und fröhlich. Er wirkte ebenso müde wie sie selbst. Die OP-Kleidung hatte er gegen eine bequeme Cargo-Shorts und Sandalen getauscht, dazu ein T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte.

„Diese Nachtdienste sind nicht so einfach, wie man es uns im Studium dargestellt hat. Aber das wissen Sie ja selbst. Leicht war es heute nicht.“ Er kam näher.

Glaubte er vielleicht, sie würde so tun, als wäre nichts gewesen? „Nein, das war es nicht.“ Sie wollte weitergehen.

„Michelle, warten Sie.“

Sie blieb stehen und drehte sich um. „Warum? Damit Sie mir sagen, was ich tun soll?“

„Oh, oh, die Frau ist nachtragend.“

„Ich bin nicht nachtragend! Ich mag es nur nicht, wenn die Leute sich ungefragt in meine Angelegenheiten einmischen.“

„Also andere Menschen. Vielleicht mögen Sie keine Menschen?“

„Natürlich mag ich Menschen!“

„Dann beweisen Sie es.“

„Beweisen?“

„Ja. Sagen Sie ein einziges nettes Wort über mich.“

Sie lachte kurz auf.

Ty musterte sie interessiert. „Das ist tatsächlich das erste Mal, dass ich auch nur annähernd so etwas wie ein Lachen von Ihnen höre.“

„Ich lache auch sonst.“

„Wo, im Keller?“

„Wollen Sie Streit?“

Diesmal antwortete er nicht sofort. „Nein, ich hatte nur versucht, Ihnen ein Kompliment zu machen. Vielleicht auch ein wenig zu flirten.“

„Ich will nicht, dass Sie mit mir flirten.“

„Und warum nicht?“

Michelle warf ihm einen durchdringenden Blick zu. „Weil Sie nichts ernst nehmen.“

„Das ist nicht wahr. Meine Patienten nehme ich immer ernst.“

„Sie wissen, was ich meine. Sie ziehen die jungen Schwestern an wie eine Stalllaterne die Motten. Selbst aus anderen Abteilungen tauchen seit Neuestem auffallend viele bei uns auf.“

„He, dafür kann ich nichts.“

Damit hatte er wohl recht, aber sie würde nicht zu einem seiner Groupies werden. „Warum machen Sie nicht die glücklich, flirten mit ihnen und lassen mich zufrieden?“

„Weil es viel zu viel Spaß macht, Sie zu necken. Ich kann immer sicher sein, dass Sie rot werden und mir eine gepfefferte Antwort geben.“

Allmählich wurde es ihr zu bunt. Sie ging los. „Sie denken also, solange Sie hier sind, darf ich Ihnen zu Ihrem Vergnügen dienen. Das sehe ich nicht als Kompliment.“

Er blieb neben ihr. „Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass ich Sie attraktiv finden könnte?“

„Nein.“

„Was, nein? Der Gedanke ist Ihnen nicht gekommen, oder nein, Sie glauben nicht, dass ich Sie attraktiv finde?“

„Beides.“

„Also, für eine so schöne und intelligente Frau sind Sie ganz schön zynisch.“

Sie blieb stehen und sah ihn streng an. „Ty, ich bin nicht dazu da, Ihnen den Tag zu versüßen. Auch ohne Sie habe ich genug Sorgen.“

„Möchten Sie nicht einmal unbeschwert sein?“

„Dafür fehlt mir die Zeit.“ Sie öffnete die Zentralverriegelung ihres Wagens und zog die Fahrertür auf.

„He, Sie haben noch nicht gesagt, was Sie an mir mögen.“

Sie schlüpfte hinters Steuer. „Gute Nacht, Ty.“ Michelle schloss die Tür. Blickte unwillkürlich in den Rückspiegel und sah Ty zu seinem Motorrad schlendern. Sich mit ihm zu beschäftigen war keine gute Idee.

Ärgerlich auf sich selbst, steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn. Nur ein Klicken ertönte. Sie versuchte es nochmals. Der Motor wollte nicht anspringen.

Ein Motorradauspuff röhrte auf, verstummte wieder. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Ty von seiner Maschine glitt und sie aufbockte. Michelle öffnete die Tür. „Die Batterie ist wohl leer.“

Er kam näher. „Ist es das erste Mal?“

„Nein. Schon als ich hierherfahren wollte, wirkte sie ziemlich schwach. Ich wollte sie morgen überprüfen lassen.“

„Sieht so aus, als bräuchten Sie eine Mitfahrgelegenheit.“

Sie suchte nach ihrem Handy. „Ich nehme mir ein Taxi.“

„Ich kann Sie mitnehmen.“

„Danke, aber ich warte lieber auf ein Taxi.“

„Um diese Uhrzeit? Wollen Sie eine halbe Ewigkeit auf einem dunklen Parkplatz herumstehen?“

„Ich kann nach drinnen gehen.“

„Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause. Ich fahre auch langsam. Keine riskanten Manöver.“

Da sie zu müde war, um hier wer weiß wie lange warten zu müssen, nahm sie ihre Handtasche und stieg aus. „Okay, aber seien Sie vernünftig. Während meiner Assistenzarztzeit in der Notaufnahme habe ich zu viele Motorradunfallopfer gesehen.“

„Ich verspreche, nur einmal auf dem Hinterrad zu fahren. Ganz kurz.“

„Was?“ Sie trat zurück, wollte gehen.

„War nur Spaß. Kommen Sie.“

Ty freute sich, dass er Michelle doch noch hatte überreden können. Die meisten Frauen, die er kannte, wären von dem Angebot fasziniert gewesen. Für sie mochte es ein Abenteuer sein, für ihn hingegen war es nur eine billige und einfache Transportmöglichkeit. Er öffnete den Sitzkoffer, holte einen Ersatzhelm heraus und hielt ihn ihr hin. Erst zögerte sie, dann nahm sie ihn. Mehr nicht.

„Sie müssen ihn aufsetzen, wenn Sie mit mir fahren, das verlangt das Gesetz.“

Sie sah sich um, als würde sie nach einem Polizisten Ausschau halten.

Ty schob die Haare zurück, um seinen Helm aufzusetzen. Michelle blieb stocksteif stehen, als könnte sie sich nicht entscheiden. „Kommen Sie nun mit oder nicht?“ Wieder blickte sie sich um, als würde es vielleicht noch eine andere Möglichkeit geben. Dann atmete sie einmal tief durch und setzte den Helm auf. Aber ihre Haare waren im Weg.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Er nahm ihr den Helm wieder ab und griff nach ihrem Haar im Nacken. Dabei fühlte er ihren warmen Atem am Hals.

Sie lehnte sich zurück. „He, was machen Sie da?“

„Ich wollte Ihren Haarknoten lösen. Sonst passt der Helm nicht.“

„Ach so.“

„Was haben Sie denn gedacht? Dass ich Sie anmachen will?“

„Nein.“

„Doch, das haben Sie.“ Er sah ihr direkt in die Augen und wünschte, es wäre heller. „Wenn ich Sie anmachen wollte, würden Sie es merken. Ganz bestimmt.“ Befriedigt sah er, dass sie schluckte. „Aber jetzt bin ich müde und hungrig. Wenn Sie möchten, dass ich Sie nach Hause bringe, müssen Sie zulassen, dass ich Ihnen mit dem Helm helfe. Ich kann Sie aber ebenso gut bis zum Klinikeingang begleiten, damit Sie dort aufs Taxi warten. Wie auch immer, ich möchte jetzt los.“

Sofort zog sie das Gummiband aus dem Haar und stülpte sich den Helm auf den Kopf.

„Ich werde jetzt den Kinnriemen strammziehen“, erklärte er übertrieben, als spräche er mit einem Kind.

„Hören Sie auf, mich zu veralbern. Ich bin noch nie Motorrad gefahren.“

Sie sah ihn so herausfordernd an, dass er sie am liebsten geküsst hätte.

„Ich bin immer noch nicht sicher, ob Sie der Erste sein sollten, zu dem ich mich aufs Motorrad setze.“

Er lachte leise. „Diese Fahrt wird Ihnen in unvergesslicher Erinnerung bleiben. Geben Sie mir Ihre Handtasche. Ich lege sie in den Sitzkoffer.“

Nach kurzem Zögern reichte sie sie ihm. Nachdem er die Tasche verstaut hatte, schwang er ein Bein über den Sitz, drückte den Ständer zurück und startete den Motor, der mit sattem Röhren zum Leben erwachte. Er warf einen Blick über die Schulter. „Steigen Sie auf.“

Sie gehorchte, versuchte aber dabei, ihn nicht zur berühren. Als sie ins Schwanken geriet, hielt sie sich kurz an ihm fest, ließ los, packte dann wieder seine Schultern. Er betrachtete ihre langen, schlanken Finger, die so präzise arbeiten konnten. Nun fühlte er ihre Stärke. Wie mochte es sein, wenn sie ihn damit überall berührte?

Als sie endlich saß, ließ sie die Hände sinken.

„Sie müssen schon dichter an mich heranrücken, sonst fallen Sie hintenüber.“

Michelle rutschte näher, achtete aber darauf, dass ihre Schenkel seinen nicht zu nahe kamen. Und anstatt die Arme um seine Taille zu legen, hielt sie sich vorsichtig an seinem Hemd fest.

„Fertig?“

Sie nickte.

„Okay, los geht’s.“ Er legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen, und die Maschine ging ab wie eine Rakete. Keine fünf Sekunden später umklammerte Michelle seine Taille, als hinge ihr Leben davon ab.

Er spürte ihre Schenkel, ihre Brüste, und es erregte ihn. Ty atmete tief durch. Richtig war das sicher nicht. Die Frau schmiegte sich aus Angst an ihn, nicht um ihn scharf zu machen.

Kurz nahm er eine Hand vom Lenker, um ihren Schenkel zu tätscheln. „Sie machen das großartig.“

Als er vom Parkplatz fuhr, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht wusste, wo Michelle wohnte. „Wie ist die Adresse?“, rief er über die Schulter.

Keine Antwort.

„Deuten Sie in die Richtung, in die ich fahren soll.“

Wieder keine Reaktion.

„Michelle, wir können nicht die ganze Nacht durch die Gegend fahren. Sie müssen mir schon sagen, wo Sie wohnen.“

Sie hob einen Finger von seinem Bauch und deutete nach vorn.

„Fahre ich richtig?“

Sie nickte an seinem Rücken.

So wird das nichts, dachte er. Am Ende der Straße leuchtete die Reklame eines Imbisses. Ty war hungrig, und da sie heute Nacht operiert hatten, wurden sie erst am nächsten Morgen wieder zum Dienst erwartet. Ein Zwischenstopp war also drin.

Er fuhr auf den Parkplatz und hielt unter einer der hellen Lampen. Nun erst lockerte sich Michelles Griff. Sogleich fehlte ihm die Berührung ihrer warmen, weichen Brüste am Rücken. Als würde ihr erst jetzt bewusst, dass sie sich immer noch an ihm festhielt, ließ sie die Arme sinken und rutschte auf dem Sitz nach hinten.

„Was machen wir hier?“

„Frühstücken.“

„Ich will nach Hause.“

„In dem Fall müssen Sie mir sagen, wie wir dorthin kommen. Was Sie auf dem Motorrad nicht konnten. Während Sie also erklären, wo Sie wohnen, werde ich Eier mit Speck bestellen. Möchten Sie auch etwas essen?“

Wieder wirkte sie unsicher, und wieder überraschte es ihn, weil sie im OP so unglaublich resolut wirkte. Aber vielleicht war diese Frau gar nicht so selbstbewusst, wie sie tat.

„Hungrig bin ich schon.“

Der Imbiss sah aus, als gäbe es ihn seit Ewigkeiten. Die Einrichtung stammte aus den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, mit aluminiumgefassten Resopal-Tischplatten und orangefarben bezogenen Sitzbänken. Der Laden gefiel ihm auf Anhieb.

Ty hielt Michelle die Tür auf. Ihr Haar war zerzaust, und sie trug immer noch ihre OP-Kleidung, aber das tat ihrem stolzen Gang und gutem Aussehen keinen Abbruch. Und alles wirkte völlig natürlich, nicht aufgesetzt, das gefiel ihm besonders.

Drinnen befand sich nur eine Handvoll Gäste, die sich aber alle nach ihr umdrehten. Sie ignorierte es und schlüpfte auf die nächste freie Bank. Ty setzte sich ihr gegenüber. „Ich dachte, Sie würden Ihre Maschine gern im Blick behalten wollen.“

„Gut gedacht.“

„Wie lange fahren Sie schon Motorrad?“, fragte sie, als sie die plastikumhüllte Speisekarte nahm.

„Seit ich sechzehn bin.“

„So jung schon?“

„Ja. Ich musste schließlich zur Schule kommen.“

Über die Karte hinweg blickte sie ihn an. „Ihre Eltern ließen Sie in dem Alter schon Motorrad fahren?“

„Nein, mein Großvater.“ Mann, sie hatte bereits mehr persönliche Informationen von ihm bekommen als die meisten Menschen vor ihr. Normalerweise lenkte er davon ab, aber bei Michelle gelang es ihm nicht.

„Und was haben Ihre Eltern dazu gesagt?“

„Es war ihnen egal.“

Sie sah auf die Karte und murmelte: „Wäre es mir nicht gewesen.“

„Sie waren nicht da, um sich darum zu kümmern.“ Es klang verbittert, wie immer, wenn er von seinen Eltern sprach. Was selten genug der Fall war.

Zum Glück kam die Kellnerin an den Tisch. Sie war Mitte vierzig, leicht übergewichtig und trug ihr dünnes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Was darf’s denn sein?“

„Hallo. Ich möchte gern Eier mit Bacon. Die Eier gewendet, bitte.“

Als sie Michelle fragend anblickte, sagte diese: „Die große Portion Pfannkuchen, bitte.“

Ty lächelte die Kellnerin an. „Und eine Kanne Kaffee.“

Die Frau erwiderte sein Lächeln. „Kommt sofort.“ Damit verschwand sie.

„Erstaunlich, wie Sie das machen. Die Frau kam so griesgrämig her und ging mit einem Lächeln, nachdem sie mit Ihnen gesprochen hatte.“

„Danke. Das liegt einfach an Tys Power.“

Tys Power, ja? Ty ist eine Abkürzung, vermute ich. Wahrscheinlich heißen Sie Tyrone.“

Michelle war ungewohnt redselig. Es mochte an der späten Stunde liegen oder weil sie hungrig war oder einfach nur, weil sie zwangsläufig mit ihm hier sitzen musste. Normalerweise hätte er sich über die vielen privaten Fragen beschwert, doch irgendwie wollte er nicht, dass sie damit aufhörte. Es hatte sein Gutes und sein Schlechtes. Es gefiel ihm, dass sie sich für ihn interessierte.

„Ich wurde nach Tyrone in Georgia benannt.“

„Warum nach einer Stadt?“

„Weil meine Eltern zufällig auf der Durchreise waren, als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten. Meine Güte, stellen Sie viele Fragen …“

„Es klingt interessant. Ich kenne niemand, der nach einer Stadt benannt wurde. Sie sind also in Tyrone geboren.“

Ty zögerte einen Moment, ehe er antwortete. Höchstens drei Menschen hatte er von seinem Geburtsort erzählt. „Nein, im Schatten eines Baumes an einem Baumwollfeld in der Nähe.“

„Wirklich?“

„Meine Eltern hielten nichts von Krankenhäusern. Die Geburt ist ein natürlicher Vorgang. Dafür braucht man nicht einmal einen Arzt.“

„Dass so etwas in der heutigen Zeit passiert, kann man sich gar nicht vorstellen.“

Für Joey hatte diese Einstellung das Todesurteil bedeutet. „Nun, das war ja nicht gestern oder vorgestern. Ich bin schließlich schon vierunddreißig.“ Okay, nun hatte er genug gesagt. Für jemand, der Schwierigkeiten damit hatte, bei der Arbeit Beziehungen aufzubauen, war es Michelle wirklich erfolgreich gelungen, ihm Persönliches zu entlocken.

„Sie wissen, was ich meine. Seitdem hat sich die Medizin weiterentwickelt.“

„Ja, die Wissenschaft hat viel geleistet, aber das sieht nicht jeder so. Außerdem bietet sie nicht auf alle Fragen eine Antwort.“ Es hörte sich für ihn so an, als würde er seine Eltern verteidigen, doch das hatte er gar nicht beabsichtigt. Er sah, dass Michelles Augen auf einmal schimmerten. Sie zwinkerte heftig.

Als sie ihn anblickte, entdeckte er einen schmerzlichen Ausdruck darin. Sekundenlang sahen sie sich an, dann senkte sie den Kopf. Verbarg sie ein Geheimnis? Aber er wollte die Geheimnisse anderer gar nicht wissen.

Zu seiner großen Erleichterung kam in diesem Moment die Bedienung mit dem Essen. Ty wechselte rasch das Thema. „Aha, Trostessen“, meinte er mit einem Blick auf ihren vollen Teller. „Das ist immer gut für die Stimmung.“

„Ich liebe Pfannkuchen. Nichts Besonderes also.“

Ty fand immer mehr, dass sie etwas Besonderes war.

„Für eine Frau mit einer solch guten Figur immerhin eine erstaunliche Portion.“

„Gute Figur?“

„Tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, wie toll Sie aussehen.“

„Danke.“ Es klang verlegen.

„Wie schaffen Sie es, eine solche Figur zu halten?“

„Ich gehe drei Mal die Woche schwimmen und habe gute Gene. Meine Mutter …“

Sie sprach nicht weiter, sondern schob sich einen Bissen Pfannkuchen in den Mund, als wäre ihr plötzlich aufgefallen, dass sie schon zu viel gesagt hatte.

„Interessant. Ich hielt Sie eher für den Fitnessstudio-Typ. Andererseits ist Ihnen das sicherlich zu gesellig.“

„Das klingt nicht gerade schmeichelhaft. Sie meinen also, ich könnte nicht gesellig sein?“

„Ich wollte Sie nicht beleidigen.“ Das Thema gefiel ihm besser. Es ging dabei nicht um ihn und konnte oberflächlich gehalten werden. „Aber es stimmt, ich halte Sie nicht für sonderlich gesellig.“

Ihr Blick wanderte zu der Kellnerin, die Kaffee einschenkte. Dann blickte Michelle ihn wieder an. „Und wie halten Sie sich in Form?“

„Sie meinen also, dass ich gut aussehe?“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich habe mich erst vor wenigen Minuten an Ihnen festgehalten und konnte fühlen, wie fit Sie sind.“

Und er hatte es genossen, ihren warmen, weichen Körper zu spüren. Und seine Erregung hatte ziemlich lange angehalten. Die Schneekönigin taute langsam auf. Das gefiel ihm.

„Ich klettere gern in den Bergen und surfe, wenn ich irgendwo in der Nähe des Meeres arbeite. Wenn möglich, spiele ich Basketball.“

„Hört sich an, als wären Sie gut beschäftigt.“

„Ich gebe mir Mühe. Wenn man ständig die Orte wechselt, ist man viel allein. Deshalb gehe ich dorthin, wo Menschen sind.“

Sie sah ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht einordnen konnte.

„Und, wie hat Ihnen Ihre erste Motorradfahrt gefallen?“

„Ziemlich aufregend.“

„Ihrem eisernen King-Kong-Griff nach müssen Sie fürchterliche Angst gehabt haben.“

„Das schon, was aber nicht heißt, dass ich es nicht genießen konnte.“

Er nickte fasziniert. „Sie sind eine interessante Frau, Michelle.“

Sie gab einen verächtlichen Laut von sich. „Warum beharren Sie darauf, mich Michelle zu nennen, obwohl Sie wissen, dass ich es nicht mag?“

„Zuerst wollte ich Sie damit auf die Palme bringen, dann fand ich ‚Dr. Ross‘ im OP so förmlich, und jetzt mag ich einfach den Namen auf meinen Lippen.“

Ihm entging nicht, wie sie leicht erschauerte. Auch nicht, dass ihre Gabel ein wenig zu laut auf dem Teller landete. Der Eispanzer hatte einen Riss bekommen. Das Gegenteil von kalt ist heiß, dachte er. Vielleicht verbarg sich unter der Eisschicht ein Vulkan an Gefühlen, jederzeit bereit auszubrechen. Es wäre bestimmt aufregend, es zu erleben.

„Das würde ich als Kompliment auffassen, hätte es nicht der Krankenhaus-Casanova gesagt.“

„Ich bin kein Casanova. Ich bin nur ein netter Mensch.“ Ty trank einen Schluck Kaffee.

„Nett zu allen Frauen.“

„Sind Sie etwa eifersüchtig, Michelle?“

Absichtlich sprach er ihren Namen sexy aus. Vielleicht gelang es ihm ja, ein Feuer unter dem Schnee zu entfachen. Sie senkte die Lider, sah wieder auf. Oh ja, es lässt sie nicht kalt!

Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. Attraktiv war sie zweifellos, auch wenn ihre kühle, distanzierte Art ihn irritierte. Ty wollte Spaß haben, und was das betraf, schien er bei dieser Frau an die Falsche geraten zu sein. Obwohl, das stimmte nur zum Teil. Im Moment gefiel es ihm mit ihr. Allerdings war Michelle sicher nicht für eine Affäre zu haben. Und zu mehr war er nicht bereit.

„Ich bin nicht eifersüchtig. Warum auch?“

Gedankenvoll sah er sie an. „Ich weiß nicht. Vielleicht weil Sie mich für sich allein haben wollen?“

Sie funkelte ihn empört an. „Ihre Fantasie hätte ich gern!“

Michelle aß ihren letzten Bissen Pfannkuchen und trank einen Schluck Kaffee. Während sie das Besteck zusammenlegte, gähnte sie unterdrückt.

„Ich bringe Sie jetzt besser nach Hause, damit Sie schnell ins Bett kommen.“

„Bieten Sie das jeder Kollegin an, mit der Sie zusammenarbeiten?“

„Flirten Sie mit mir?“

Michelle riss die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. „Ich habe noch nie geflirtet.“

Das glaubte Ty ihr gerne. „Es gibt für alles ein erstes Mal.“

„Es wird nicht mehr vorkommen.“ Jetzt war der ernste Ton zurück.

„Oh, bitte nicht. Mir hat es gefallen. Aber ehe wir losfahren, malen Sie mir auf, wie wir zu Ihrem Haus kommen.“

„Ich habe eine Wohnung.“

„Okay, dann eine Wohnung.“

„Ma’am …“, rief Michelle der Kellnerin zu. „Könnten Sie uns bitte ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber bringen?“

Sie blickte wieder Ty an. „Normalerweise habe ich ein Notizbuch dabei.“

„Das überrascht mich nicht.“

„Was heißt das denn jetzt schon wieder?“

„Dass Sie jederzeit vorbereitet sind.“

Als die Kellnerin nicht gleich mit dem Gewünschten kam, nahm er eine Serviette aus dem Korb. „Hier, das geht auch.“

„Eine Papierserviette?“

„Ja. Haben Sie noch nie auf einer Serviette geschrieben?“

„Nein.“

„Meine Taschen stecken voller Servietten, auf die ich etwas geschrieben habe.“

„Das wiederum überrascht mich nicht.“

„Etwas anderes haben Sie wahrscheinlich auch nicht erwartet.“ Sollte sie doch glauben, was sie wollte. Er beeindruckte sie nicht, das war klar. Obwohl es schon nett wäre …

Ty warf zwei Zehner auf den Tisch. Als Michelle protestieren wollte, sagte er: „Bitte kein Wort davon, dass Sie selbst zahlen möchten. Das Frühstück war meine Idee.“

Draußen, am Motorrad angekommen, wollte Michelle Ty zeigen, dass sie gut allein damit zurechtkam. Bevor er zu ihrem Helm greifen konnte, setzte sie ihn auf und zog den Kinnriemen stramm.

Dass er sie dabei amüsiert betrachtete, gefiel ihr. Nachdem er aufgestiegen war, setzte sie sich hinter ihn und schlang, ohne zu zögern, die Arme um ihn.

„Ich glaube, ich werde von jetzt an jeden Tag Ihren Wagen lahmlegen, damit Sie mich so fest umarmen.“

„Leider bin ich zu müde, um Ihnen eine entsprechende Antwort zu geben.“

Ty lachte kurz auf, und sie fühlte es deutlich an ihren Brüsten. Ihre Knospen wurden hart. Dieser Mann wirkte so erotisch auf sie wie kein anderer je zuvor. Sie spürte das Prickeln im ganzen Körper. Vielleicht sollte sie der Sehnsucht nachgeben, nur dieses eine Mal. Aber dann siegte ihr Verstand. Es würde nur mit Herzschmerz enden. Michelle beschloss, nicht noch einmal zu ihm aufs Motorrad zu steigen.

„Michelle, wir sind da. Sie können mich loslassen.“ Ty rüttelte sie sachte an der Schulter.

Oh nein. Vor lauter Erschöpfung war sie tatsächlich eingedöst. Tys Rücken war so verlockend warm und stark und tröstlich gewesen, dass sie die Augen nicht hatte offen halten können.

Sie richtete sich hastig auf. „Ich … ja, danke.“

„Sie sind eingeschlafen, stimmt’s?“

Michelle stieg ab und hielt sich dabei an ihm fest. Diese breiten Schultern würde sie vermissen. „Kann sein. Kurz.“

Ty stellte den Ständer aus und stieg ebenfalls ab.

Sie nahm den Helm ab und reichte ihn ihm. „Wieso bleiben Sie nicht sitzen?“, fragte sie.

„Ich will mich vergewissern, dass Sie heil ins Haus kommen.“

„Das ist nicht nötig. Ich komme zu jeder Tag- und Nachtzeit nach Hause, schon seit vielen Jahren. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Ja, Ma’am. Ich wollte doch nur nett sein. In welchem dieser noblen Herrenhäuser wohnen Sie?“

Täuschte sie sich, oder war da ein spöttischer Unterton herauszuhören, als er auf die Stadthäuser mit den gepflegten Vorgärten zeigte? Wieder einmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr Leben kritisch betrachtete.

„In dem zweiten rechts. Danke nochmals fürs Bringen.“ Sie ging einfach los, Richtung Haustür. Zog den Hausschlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn ins Schloss, öffnete und verschwand nach drinnen. Dann hörte sie das Motorrad davonröhren.

Michelle konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt ein Mann draußen gewartet hatte, bis sie sicher im Haus war.

3. KAPITEL

Michelle drehte sich auf die Seite und griff nach dem Hörer. „Dr. Ross.“

„Hallo, Michelle“, drang Tys tiefe Stimme an ihr Ohr. Ihr Herz, der Verräter, machte einen Satz.

„Ja?“

„Hier ist Ty.“

„Ich weiß.“

„Ist das alles, was Sie nachmittags um zwei an netter Begrüßung fertigbringen?“

„Ja.“

Er lachte leise. „Um diese Zeit sind Sie wohl nicht sehr gesprächig?“

„Gibt es Probleme mit einem Patienten?“

„Nein. Ich wollte Sie nur informieren, dass Jimmy sich um Ihren Wagen gekümmert hat.“

„Jimmy?“

„Ja, einer der Männer von der Krankenhaus-Security. Netter Kerl. Er kann gut ein bisschen Geld nebenbei gebrauchen, deswegen habe ich ihn gebeten, sich Ihren Wagen anzusehen.“

Michelle arbeitete seit Jahren am Krankenhaus, kannte aber nicht einen einzigen Namen des Sicherheitspersonals. Plötzlich schämte sie sich deswegen.

„Ihr Auto fährt wieder. Er meinte, Sie dürften jetzt keine weiteren Probleme haben. Es waren nur ein paar korrodierte Kabel.“

„Oh … großartig. Danke.“

„Und Sie haben Ihre Handtasche in meinem Motorrad vergessen. Ich hatte sie unter dem Fahrersitz eingeschlossen. Ach, übrigens, ich habe einen kurzen Blick hineingeworfen und weiß jetzt, wie viel Sie wiegen und wann Sie geboren sind.“

„Das glaube ich nicht!“

Er lachte schallend, und sein Lachen umhüllte sie wie eine warme Decke.

„Nein, natürlich habe ich das nicht getan.“ Sie hörte seiner warmen Stimme an, dass er lächelte. „Aber ich habe arrangiert, dass Jimmy Sie abholt. Rufen Sie einfach den Sicherheitsdienst an, und fragen Sie nach ihm.“

„Ich denke nicht …“

„Michelle, er braucht das Geld. Lassen Sie ihm seinen Stolz.“

Ty war wirklich ein guter Mensch. Er sah Not und handelte.

Ein paar Sekunden lang schwieg sie.

„Sind Sie wieder eingeschlafen?“

Ungewollt sah sie sich schlafend daliegen, den Kopf auf Tys breiter Brust.

„Nein.“ Es kam unsicherer heraus als gewollt. „Danke für Ihre Bemühungen, Ty.“

„Kein Problem. Also, bis dann.“

Sie selbst hatte sich so sehr um andere Menschen gekümmert, um ihre Mutter und ihre Patienten, dass sie beinahe vergessen hatte, wie schön es war, wenn jemand sich um sie kümmerte. Zu schön.

Vier Tage später, Michelle wollte gerade an die Tür ihres Patienten klopfen, da erklang von drinnen lautes Lachen. Shawn hatte die Operation gut überstanden und lag nach kurzem Aufenthalt auf der Intensivstation nun in einem normalen Krankenzimmer. Sie klopfte.

Zwei Männerstimmen waren zu hören, eine rief: „Herein!“

Ihr Patient saß aufrecht im Bett, in den Händen einen Videospiel-Controller. Ohne aufzublicken, starrte er konzentriert auf die grellbunten Gestalten auf seinem Fernseher. Sie sah genauer hin. Immer wieder blitzte es auf, gefolgt von einem lauten Knall, wenn etwas in die Luft flog. Kopfschüttelnd wandte sie sich ihrem Patienten zu.

Ty saß daneben, zu ihrem großen Erstaunen ebenfalls einen Controller in den Händen. Seit Tagen hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen. Und er fehlte ihr, das hatte sie sich eingestehen müssen. Er versuchte, an ihr vorbei wieder auf den Fernseher zu blicken.

„Können Sie kurz aus dem Bild gehen, Dr. Ross? Ich bin dabei, endlich einmal zu gewinnen.“

Anscheinend hatte er sie nicht besonders vermisst. Sie trat zur Seite. Und was er hier machte, war nicht gerade professionell. Hast du bei ihm etwas anderes erwartet?

„Danke“, rief er, dann zu Shawn: „Verschwinden Sie besser, sonst habe ich Sie.“

Shawn hatte sichtlich großen Spaß, und Michelle wurde ein wenig leichter ums Herz. Vor der Operation und danach auf der Intensivstation war er schrecklich niedergeschlagen gewesen. Sie hatte sich deswegen schon Sorgen wegen der Genesung gemacht. Aber Ty schaffte es, ihn aufzumuntern. Dafür war sie ihm sehr dankbar.

Shawn riss beide Hände hoch und jubelte, Ty aber stöhnte frustriert.

„Sie sind schon wieder Game Master! Ich helfe Dr. Ross, Ihnen die Herzklappe zu ersetzen, und das ist der Dank!“

Doch Ty grinste dabei und hob die Hand, Shawn ließ seine dagegen klatschen.

Ty erhob sich, und das Zimmer schien plötzlich zu schrumpfen. Groß und breitschultrig stand er am Bett, in ausgeblichener Jeans und T-Shirt. Das allerdings mit einer idiotischen Aufschrift bedruckt war: Fahr Motorrad, und du findest einen Freund.

„Ich gehe jetzt besser, damit Dr. Ross Sie untersuchen kann“, sagte er zu Shawn. „Vielleicht lässt sie Sie ja nach Hause gehen.“

Er warf ihr einen Blick zu, und Michelle lächelte zustimmend. „Wahrscheinlich morgen schon. Dann können Sie noch einmal Game Blaster werden.“

Die beiden Männer brüllten vor Lachen.

Michelle spürte, wie ihr die Röte den Nacken hochkroch. Hatte sie etwas Dummes gesagt?

„Es heißt Game Master“, korrigierte Ty sie mild.

„Oh, das meinte ich auch.“

Ty lächelte und sah wieder Shawn an. „Was Herzen angeht, ist sie klasse, aber was das Spielerische betrifft, da hat sie noch Nachholbedarf. Ruhen Sie sich aus, Shawn. Sie brauchen Ihre Kräfte für unser nächstes Spiel!“

„Sie haben null Chance, Ty.“

Michelle gefiel sein neu gewonnener Mut. Shawn wollte wieder gesund werden.

Ty lächelte ihn an. „Ich zeige es nicht, aber ich bin ein verdammt schlechter Verlierer. Das nächste Mal gewinne ich!“

Auf dem Weg zur Tür zwinkerte Ty ihr zu, und es überlief sie heiß. Dann jedoch wurde sie ärgerlich. Schließlich war sie keine der jungen Schwestern, die ihn anhimmelten. Sie war die Chirurgin, mit der er zusammenarbeitete. Wie unprofessionell. Plötzlich lösten sich all die positiven Gefühle für ihn in Luft auf.

Blöder Kerl!

Eine Viertelstunde später verließ sie sehr zufrieden Shawns Zimmer. Er machte wunderbare Fortschritte und würde voll genesen, auch wenn er sich in Zukunft weiterhin regelmäßig untersuchen lassen musste. Aber er hatte die Chance, fast so zu leben wie andere junge Männer seines Alters. Als sie auf das Schwesternzimmer zuging, sah sie Ty mit einer jungen Frau sprechen, die ihn anblickte, als wäre er der Märchenprinz persönlich. Fanden alle Frauen ihn so faszinierend?

Im OP hatte sie ihn oft genug beobachtet. Männer und Frauen respektierten ihn gleichermaßen. Seine Anweisungen wurden anstandslos ausgeführt, und doch herrschte zugleich eine persönliche Atmosphäre. Alle schienen ihn zu mögen. Eckte nur sie bei ihm an?

„Hey, Doc“, rief er, als sie vorbeigehen wollte. „Kann ich Sie etwas fragen?“

Wegen seiner lockeren Ansprache presste sie die Lippen zusammen. Zwar gewöhnte sie sich langsam daran, doch noch immer war sie nicht darauf gefasst. Niemand sonst wagte es, so mit ihr zu reden.

Sie ging zu ihm. „Was denn?“

„Wissen Sie eigentlich, was ein Game Master ist?“

„Also … nicht genau“, erwiderte sie unsicher.

„Hatte ich es mir doch gedacht.“ Er schaute auf die Unterlagen vor ihm auf dem Tisch.

Sie wartete, aber Ty sah nicht wieder hoch. „Nun?“

„Nun, was?“ Er blickte auf.

„Wollen Sie mich nicht aufklären, was es ist?“, fragte sie ungeduldig. Der Mann war unmöglich!

Da grinste er. „Ach so. Man darf sich so nennen, wenn man ein Videospiel gewinnt. Shawn hatte die letzten Monate genügend Zeit zum Üben, und jetzt ist er kaum zu schlagen.“

„Ich verstehe.“ Michelle zögerte kurz, sprach dann aber aus, was ihr auf der Zunge lag – auch auf die Gefahr hin, dass Ty daraus etwas machte, das ihr nicht gefiel. „Sie waren vor seiner Operation heute Morgen großartig.“

„Ich war der Letzte, den er vor dem Eingriff zu Gesicht bekam. Zwar hat er nichts gesagt, aber ich glaube, er hatte Angst, dass er die OP nicht überlebt. Ein paar persönliche Worte, mein nettes Gesicht, und schon sieht die Welt nicht mehr so grau aus“, erklärte er munter.

„Trotzdem, ich begrüße es sehr, dass Sie so viel Zeit mit ihm verbringen.“

„Mache ich gerne. Er ist ein großartiger Bursche, der einige harte Schläge hat wegstecken müssen.“

Michelle wünschte, sie könnte auf ihre Patienten auch so beruhigend wirken. Sie arbeitete ständig daran, ihre Gefühle nicht zu zeigen, weil sie fürchtete, sie dann nicht mehr im Griff zu haben. Schon früh, nach dem Tod ihres Vaters, hatte sie lernen müssen, stark zu sein. Als Kind war sie es für ihre Mutter gewesen, später im Studium musste sie sich immer im Griff haben, um durchzukommen. Und jetzt fand sie es wichtig, dass sie sich kontrollierte, weil das Team ihrer Führung vertraute. Mit den Jahren war es ihr zur Gewohnheit geworden und Kontrolle ein Teil ihrer Persönlichkeit.

Könnte sie mehr wie Ty sein, wenn sie es versuchte?

„Sie sind gut in Ihrem Job.“

„Oh, danke, Ma’am. Ich glaube, ich bin auch sonst gut.“

„An Ego scheint es Ihnen nicht zu mangeln“, erwiderte sie schnippisch.

„Das hatte nichts mit meinem Ego zu tun.“

„Sie haben recht. An Ihrer Arbeit im OP und dem Umgang mit Patienten ist nichts auszusetzen. Ich möchte mich aufrichtig für mein Verhalten an Ihrem ersten Tag hier entschuldigen.“

Ty lächelte amüsiert. „Na, das höre ich gern – und so unerwartet. Könnten Sie mich wieder beleidigen, damit ich noch einmal eine Entschuldigung aus Ihrem Mund vernehmen darf?“

Michelle konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihm das Lächeln aus dem Gesicht wischen oder lachen wollte. Also drehte sie sich einfach um und ging weiter den Flur entlang.

Sie hörte Ty leise lachen. Der Mann wusste genau, wie er sie aus der Reserve locken konnte!

Es war ein schöner Tag, auch wenn Ty an diesem operationsfreien Tag verhassten Papierkram erledigen musste. Er arbeitete die Krankenakten der beiden Patienten durch, die morgen für eine Operation anstanden, und machte sich auf den Weg, den Rest des Tages zu nutzen, bevor es dunkel wurde. Wenn er durch die Frauenstation ging, war er schneller draußen.

Herrlicher Sonnenschein fiel durch die hohen Glasfenster. In den Wartebereichen vor den Sprechzimmern der Ärzte standen moderne Sessel, und überall im Raum waren Grünpflanzen geschmackvoll arrangiert.

Er hatte fast den Ausgang am anderen Ende des Gebäudes erreicht, als er Michelle erblickte. Sie saß neben einer Frau, die ihre Mutter sein musste, so ähnlich sahen sich die beiden.

Ty ging zu ihnen. „Hi, Michelle.“

Erstaunt blickte sie von ihrer Zeitschrift auf. Sie wirkte nicht gerade erfreut. „Hallo, Ty.“

Die ältere Frau beobachtete sie interessiert, schaute von einem zum anderen. Ty blickte sie an.

„Ty, dies ist meine Mutter, Betty Ross.“ Michelle schien wenig Lust zu haben, die beiden miteinander bekannt zu machen.

Ty streckte die Hand aus. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Ross. Ich bin Ty Smith.“

Michelles Mutter nahm seine Hand. Ihre Finger waren mager, blass und kalt. Aber in ihren Augen las er Wärme. „Guten Tag. Arbeiten Sie mit meiner Tochter zusammen?“

„Ja. Sie ist eine außergewöhnliche Ärztin.“

Michelles Wangen färbten sich rosig. War sie Komplimente wegen ihrer Arbeit nicht gewohnt?

„Vielen Dank. Ich bin sehr stolz auf sie. Sie arbeitet hart – viel zu hart, finde ich. Sie sind also auch Arzt?“

Ganz im Gegenteil zu ihrer Tochter schien Mrs. Ross gern zu plaudern.

„Mum.“ Michelles Tonfall verriet, dass sie das Gespräch beenden wollte. „Bestimmt hat Ty es eilig.“

Ty ignorierte ihr eindeutiges Bemühen, ihn loszuwerden. Ihre Mutter gefiel ihm, und er wollte gern mehr über Michelle wissen. „Ich bin Anästhesist und arbeite im OP mit Ihrer Michelle zusammen.“

Michelle presste die Lippen zusammen. Es gefiel ihr wohl nicht, dass er über sie sprach, so als wäre sie ein kleines Mädchen.

„Mrs. Ross“, rief da eine Schwester von einem der Sprechzimmer her.

Michelles Kopf ruckte unwillkürlich herum, dann blickte sie Ty wieder an. Kurz sah er so etwas wie Schmerz in ihren Augen, der aber schnell wieder erlosch. Es hatte sicher nichts mit ihm zu tun. Was war hier los?

„Es war nett, Sie kennenzulernen, Dr. Smith. Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder“, sagte Michelles Mutter freundlich.

„Das würde mich freuen.“

„Mum, die Schwester wartet.“

Mrs. Ross erhob sich halb, dann ließ sie sich wieder sinken. Ty bot ihr seinen Arm. „Darf ich Ihnen helfen?“

„Danke. Ich finde es schrecklich, so schwach zu sein.“

„Halten Sie sich an meinem Arm fest, dann können Sie leichter aufstehen.“

„Das kann ich auch machen.“ Michelle stellte sich auf die andere Seite ihrer Mutter.

„Kein Problem. Im Gegenteil, es ist mir eine Ehre“, sagte Ty und blieb stehen.

Mrs. Ross kicherte wie ein junges Mädchen. „Wie charmant dein Freund ist, Michelle.“

Ty zwinkerte Michelle zu und half Mrs. Ross beim Aufstehen.

„Möchten Sie nicht zu uns zum Essen kommen?“, fragte ihn die ältere Dame.

Ty warf einen Blick auf Michelle. Sie öffnete sichtlich entsetzt den Mund, aber rasch kam er ihr zuvor. „Sehr gern, Mrs. Ross.“

„Mutter!“, zischte Michelle.

Mrs. Ross ignorierte es und fragte: „Morgen Abend?“

„Das wäre wundervoll. Ich freue mich schon darauf. Ich lasse mir von Michelle erklären, wo Sie wohnen.“

„Wir müssen jetzt gehen, Mum.“ Michelle klang resigniert und seltsam müde.

Ty sah ihr nach, als sie ihre Mutter ins Sprechzimmer begleitete. Er warf einen Blick auf den Schriftzug auf der Glastür. Onkologie.

Ihre Mutter hatte Krebs. Da war es kein Wunder, dass Michelle oft verschlossen und angespannt war. Sie machte sich bestimmt große Sorgen.

Als Michelle ihm am nächsten Abend mit ausdrucksloser Miene die Haustür ihrer Mutter öffnete, musste Ty lächeln. „Guten Abend, Michelle.“

„Kommen Sie herein.“

„Danke für den herzlichen Empfang“, neckte er.

„Sie wissen, dass es nicht meine Idee war.“ Sie trat zur Seite und achtete darauf, dass sie sich nicht berührten, als er eintrat.

„Ich freue mich trotzdem, dass Ihre Mutter mich eingeladen hat. Hausmannskost bekomme ich selten genug.“

Unerwartet sah sie ihn zerknirscht an. „Verzeihen Sie. Ich bin nicht sehr liebenswürdig. Meine Mutter ist in der Küche. Normalerweise koche ich für uns, aber heute Abend wollte sie das unbedingt selbst übernehmen.“

Sie schloss die Tür hinter ihnen, und er folgte ihr in die Küche. Ty fühlte sich gleich wohl in diesem Haus. Es strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus. So ganz anders als das, was er aus seiner Kindheit kannte.

Bis Joey krank wurde, hatte Ty eine unbeschwerte Kindheit verlebt. Seine Eltern ermunterten ihn zum Lesen und auch dazu, Fragen zu stellen, wann immer er etwas wissen wollte. Aber es hatte wenig Struktur in ihrem Alltag gegeben. Das einzig Beständige waren seine Eltern und Joey gewesen. Seine Großeltern kannte er nicht. Erst als er acht war, hatte er zufällig ein Gespräch über sie mitbekommen.

Ty blieb im Flur stehen, um sich die gerahmten Fotos von Michelle und ihren Eltern anzusehen. Er kannte keine eigenen Familienfotos. Allerdings war es ja auch fast unmöglich, sie an Zeltwänden aufzuhängen …

Als sie die Küche betraten, drehte sich Mrs. Ross am Herd um. Sie wirkte schwach, aber ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen leuchteten. Sie wischte sich die Hände ab. „Herzlich willkommen, Ty. Wie schön, dass Sie uns heute Abend Gesellschaft leisten.“

„Und ich bedanke mich für die Einladung.“ Er warf Michelle einen Blick zu. Sie lächelte schief.

„Dies hier ist für Sie.“ Er reichte Mrs. Ross eine schmale Schachtel, dazu Blumen.

Nun glühte ihr Gesicht förmlich vor Freude. „Das ist lieb von Ihnen, Ty. Aber es hätte nicht sein müssen.“ Sie wandte sich an ihre Tochter. „Michelle, magst du die Blumen in eine Vase stellen, während ich mir ansehe, was in der Schachtel ist? Jetzt bin ich wirklich neugierig.“

Michelle nahm die Blumen und ging zur Spüle.

Mrs. Ross öffnete die Schachtel und nahm ein vielfarbiges Halstuch heraus. „Oh, ist das hübsch!“ Sie schlang es sich um.

„Ich hatte gehofft, dass es Ihnen gefällt. Meine Mutter hat gesagt, ein buntes Tuch hebt immer die Stimmung einer Frau.“

Sehr lange schon hatte er nicht mehr daran gedacht. Oder von seinen Eltern gesprochen. Seine Mutter hatte sich ein farbenfrohes Tuch um den Hals geschlungen, als sie Joey beerdigten.

Tys Blick wanderte zu Michelle. Ihre Augen schimmerten verdächtig, als sie lächelnd ein Danke hauchte. Ihr erstes offenes Lächeln für ihn überhaupt.

Er erwiderte es und zwinkerte ihr dabei zu.

„Bring doch die Blumen ins Wohnzimmer, Michelle. Gehen Sie ruhig mit, Ty. Unterhaltet euch ein wenig. Es dauert nicht mehr lange, bis ich hier fertig bin.“

Michelle machte ein Gesicht, als wünschte sie sich, dass der Boden sich unter ihren Füßen auftat. Ty unterdrückte ein Lachen. Das wurde sicher ein spannender Abend!

Stumm nahm sie die Vase und ging los. Er folgte ihr und bewunderte dabei ihren sinnlichen Hüftschwung. Wusste sie eigentlich, wie sie auf Männer wirkte? Auf ihn?

Im Wohnzimmer stellte sie die Blumen auf den Tisch und drehte sich zu Ty um. „Es tut mir leid. Mir ist das alles wirklich peinlich.“

„Warum denn? Ich fühle mich geehrt. Ich kenne keine andere Mutter, die mir so liebenswürdig ihre Tochter anbietet.“

Michelle wurde rot. Fast hätte er ihr gesagt, wie süß sie aussah, wenn sie verlegen war. Doch er wollte den Bogen nicht überspannen. Ty setzte sich aufs Sofa und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. „Unterhalten wir uns doch ein wenig“, benutzte er lächelnd die Worte ihrer Mutter.

Sie gab sich geschlagen und ließ sich neben ihn sinken. Ja, die Schneekönigin schmolz. Es gefiel ihm, dass hinter der steifen, unnahbaren Ärztin ein anderer Mensch zum Vorschein kam. Jetzt war Michelle nur eine Tochter, die versuchte, ihre kranke Mutter glücklich zu machen.

„Ihre Mutter hat Krebs?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Ja.“

„Wie lange schon?“

„Seit einem halben Jahr wird sie behandelt.“

„Das ist eine schwere Zeit für Sie beide.“

„So ist es. Ich weiß zwar alles darüber, aber ich kann ihr nicht helfen. Was nützt einem all das Wissen, wenn man dem Menschen, den man liebt, nicht helfen kann?“

Trauer durchzuckte ihn wie ein Messerstich. Was wäre wohl geschehen, wenn er sich gegen seine Eltern durchgesetzt und Joey ins Krankenhaus gebracht hätte? Er wusste nur zu gut, was es hieß, jemand sterben zu sehen, den man liebte. Jeden Tag lebte er mit seinen Schuldgefühlen.

„Und wie sieht ihre Prognose aus?“

„Die Therapie scheint anzuschlagen, aber ich mache mir Sorgen wegen ihrer Depression. Heute Abend erlebe ich sie seit Monaten zum ersten Mal wieder aktiv und fröhlich.“

„Dann hilft es ihr also zu sehen, dass Sie an einem Mann interessiert sind?“

Michelle rutschte ein Stück zur Seite. „Ich bin nicht an Ihnen interessiert.“

Ty nahm ihre Hand und strich mit dem Daumen darüber. Er drehte sie um und fühlte den Puls unter der zarten Haut. „Sind Sie sich da ganz sicher?“

Hastig entzog sie ihm die Hand. „Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meine Mutter froh machen, aber ich habe nicht vor, dieses Spielchen nach heute Abend fortzusetzen.“

Spielte er ein Spielchen? Nein, das wohl nicht. Ty ertappte sich bei dem Wunsch, dass er mehr über diese schöne, komplizierte Frau erfahren wollte. Aber hieß das nicht, sich zu engagieren? Das kam nicht in Frage. Sie konnten Freunde sein. Vielleicht ab und zu miteinander ausgehen und Spaß haben, solange er in der Stadt war. Mehr nicht.

„Und wenn ich Sie interessant finde? Sie besser kennenlernen möchte?“

„Unsinn, ich bin nicht Ihr Typ. Wir sind zu verschieden. Wir haben ja schon Mühe, den anderen so zu tolerieren, wie er ist.“

„Ich finde, im Moment geht es doch ganz gut mit uns.“

Und das stimmte. Es war seit Langem das erste Mal, dass er sich mit einer Frau unterhalten konnte, ohne etwas von ihr zu wollen – oder sie von ihm.

Mrs. Ross steckte den Kopf ins Zimmer. „Das Essen ist fertig.“

Michelle sprang auf, als hätten sie etwas Verbotenes getan.

Nur langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Vielleicht hatte sie Ty doch falsch eingeschätzt. Zumindest hatte sie ihre Mutter schon viele Monate nicht mehr so froh gesehen. Allein das war es wert, einen Abend mit Ty zu verbringen. Sie folgte ihrer Mutter zurück in die Küche und blieb so abrupt stehen, dass Ty gegen sie stieß. Rasch legte er ihr die Hand auf die Taille, stützte sie.

Michelle traute ihren Augen nicht. Ihre Mutter hatte für Ty am Platz ihres Vaters gedeckt!

„Alles in Ordnung?“, fragte er dicht an ihrem Ohr. Michelle stellte sich vor, was ihre Mutter wohl denken würde, wenn sie sich jetzt umdrehte und ihre Tochter in intimer Nähe zu ihrem Gast vorfand.

„Ja.“

„Ty, bitte nehmen Sie hier Platz.“ Mrs. Ross deutete auf den Stuhl von Michelles Vater.

„Gern, danke, Ma’am.“ Ty setzte sich. „Das sieht köstlich aus. Und wie das duftet!“

Michelle ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Unwillkürlich sah sie auf Tys schlanke, gepflegte Hände, als er die Serviette nahm und sie auf dem Schoß ausbreitete.

Da legte er kurz unter dem Tisch seine Hand auf ihre. Sie verstand seine Geste, lächelte ihn an und schüttelte die melancholischen Gefühle ab. Es war Zeit, dass sie ihren Vater endgültig losließ und nach vorn blickte. Ihre Mutter ebenfalls. Hatten sie sich nicht zu lange vom normalen Leben abgekapselt?

„Michelle, möchtest du Ty nicht vom Roastbeef geben?“

Ty reichte ihr seinen Teller. Noch immer blickten seine Augen besorgt. Er sah Dinge an ihr, die anderen nicht auffielen. Viel zu oft.

Sie füllte ihm Fleisch auf, und ihre Mutter reichte ihm die Schüssel mit den Stampfkartoffeln. Die beiden unterhielten sich so ungezwungen, als wären sie alte Freunde. So hatte Michelle Gelegenheit, ihn unauffällig zu betrachten.

Er war wirklich der attraktivste Mann, den sie kannte. Zuerst hatte sie sein Haar ein wenig zu lang gefunden, nun aber gefiel es ihr. Es passte zu ihm. Er trug ein grün kariertes Hemd, das seine Augen noch dunkler erscheinen ließ, dazu eine dunkelbraune Hose. An seinem Aussehen war wirklich nichts auszusetzen.

Ihr erster Eindruck war ein völlig anderer gewesen. Doch inzwischen fragte sie sich neugierig vor jeder Operation, was für eine ausgefallene OP-Kappe er wohl diesmal tragen würde. Und er besaß nicht nur limonengrüne Clogs, sondern auch leuchtend apfelsinengelbe.

„Michelle?“, riss ihre Mutter sie aus ihren Gedanken.

„Ja, Mum?“

„Magst du nicht das Geschirr abräumen und dann den Apfelkuchen bringen? Im Kühlschrank ist auch noch Eis.“

„Das war hervorragend, Mrs. Ross“, meinte Ty. „Wie oft darf ich in der Woche zum Essen kommen?“

Michelle ließ fast die Teller fallen.

Glücklicherweise kicherte ihre Mutter nur, anstatt ihm allen Ernstes montags, mittwochs und freitags Verköstigung anzubieten.

Michelle stellte den Kuchen auf den Tisch und wandte sich ab, um das Eis zu holen, als Ty hinzufügte: „Wirklich, Mrs. Ross, ich habe selten so etwas Leckeres gegessen.“

„Ich liebe es, zu kochen und zu backen. Als Michelle noch klein war, habe ich sogar überlegt, eine Teestube aufzumachen, aber irgendwie fehlte mir die Zeit dazu.“

Davon hatte Michelle noch nie gehört. Seit Wochen schon hatte ihre Mutter nicht mehr selbst gekocht.

„Es wäre bestimmt ein Erfolg gewesen.“

„Nun bin ich zu alt dazu, aber ich gehe gern einmal eine Tasse Tee trinken.“

Auch das hatte Michelle vergessen. Bevor ihre Mutter erkrankte, war sie regelmäßig mit ihren Freundinnen ausgegangen. Jetzt verließ sie das Haus nur noch, wenn sie einen Termin beim Arzt hatte.

Bald schon, nachdem der Kuchen gegessen worden war, verkündete Ty, dass er aufbrechen müsse. Michelle fragte sich, ob er vielleicht noch eine andere Verabredung hatte. Bestimmt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ty allein zu Hause herumhockte.

„Michelle, sei so lieb und bring Ty zur Tür, ja?“

Michelle hatte Mühe, nicht die Augen zu verdrehen.

Ty bedankte sich bei ihrer Mutter für die Einladung und das köstliche Essen und folgte dann Michelle hinaus. Sie öffnete die Haustür, und als er hinausging, streifte er Michelle am Arm. Heiß durchfuhr es sie, als hätte sie sich verbrannt. Sie musste endlich aufhören, bei jeder seiner Berührungen so übertrieben zu reagieren.

Sie trat auf die Veranda und schloss die Tür hinter ihnen. „Es tut mir leid, dass meine Mutter Sie in Verlegenheit gebracht hat.“

„He, machen Sie sich keine Gedanken. Es ist doch verständlich, wenn Eltern sich um ihr Kind sorgen und es auch zeigen. Ihre Mutter möchte nur, dass Sie glücklich sind.“

„Ich weiß, aber heute Abend kam ich mir vor wie im letzten Jahrhundert!“

„Hat es Ihnen nicht gefallen, dass sie zarte Bande zwischen uns knüpfen wollte?“ Er lachte leise.

„Es war mir sehr unangenehm.“

„Betrachten Sie es als Kompliment.“

„Danke, dass Sie es nicht so verbissen sehen. Meine Mutter hat es sehr genossen, Sie als Gast zu haben. Sie ist richtig aufgeblüht.“

„Und was ist mit Ihnen? Haben Sie mich auch genossen?“

Es klang so doppeldeutig, dass ihr warm wurde. „Ich bin nicht sicher, wie Sie das meinen.“

Er musterte sie etwas länger, dann sagte er: „Ich glaube doch. Sie wollen es nur nicht zugeben.“

Sie fand es aufregend, dass er sich so für sie interessierte, und es weckte lange verschüttete Gefühle. Und völlig neue dazu. Wäre es denn wirklich so schlimm, eine Affäre mit ihm zu haben? Schließlich würde er in ein paar Wochen wieder fort sein.

Da bemerkte sie, dass irgendetwas hinter ihr seine Aufmerksamkeit erregte. „Ihre Mutter sieht aus dem Fenster. Enttäuschen wir sie nicht.“

Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Michelle unternahm nicht einmal den Versuch, sich zu wehren, sondern legte ihm leicht die Hände auf die Schultern. Da sie groß war, überragte Ty sie nur ein paar Zentimeter. Er verzog den sinnlichen Mund zu einem schwachen Lächeln, als er den Kopf senkte und ihr tief in die Augen sah. Dann berührten seine warmen Lippen ihre. Ty schmeckte nach Apfelkuchen, Zimt und Kaffee. Dazu sein männlicher Duft, das Gefühl starker Arme, ein kraftvoller Körper … wie berauscht ergab sich Michelle seinem verführerischen Kuss.

Hitze flammte in ihr auf. Wann war sie das letzte Mal geküsst worden? Hatte überhaupt jemals ein Kuss solche Sehnsucht in ihr ausgelöst?

Sie schlang ihm die Arme um den Nacken. Tys Griff wurde fester, er presste Michelle an sich. Von ungekannter Lust erfüllt, drängte sie sich an ihn.

Da wich er unerwartet zurück. Enttäuschung überflutete sie. Sie wollte mehr.

„Das sollte Ihre Mutter glücklich machen.“

Was? Michelle holte mühsam Luft. Dies war der Kuss ihres Lebens, und Ty hatte sie nur geküsst, um ihre Mutter glücklich zu machen?

Sie entwand sich seinen Armen. „Danken Sie ihr, dass ich Ihnen keine Ohrfeige verpasse“, zischte sie wütend. „Aber den Anblick will ich ihr ersparen!“

Damit verschwand sie nach drinnen und ließ Ty auf der Veranda stehen.

4. KAPITEL

Tys Blick wanderte vom Blutdruckmonitor hinüber zu Michelle. Sie beobachtete den Assistenzarzt, der die Kanülen entfernte, die die dreiundsechzigjährige Patientin mit der Herz-Lungen-Maschine verbunden hatten.

Zwei Tage war es her, dass er sie geküsst hatte, und noch immer verstand er ihre heftige Reaktion nicht. Irgendwie musste er einen Fehler gemacht haben. Michelles Verhalten nach dem Kuss hatte ihn mehr als überrascht. Er hatte gedacht, sie hätte es genossen, so wie er, und sich nur gezügelt, weil ihre Mutter zusah.

Und heute Morgen war die Schneekönigin mit Polarkälte zurückgekommen. Sie schaute ihn überhaupt nicht an – höchstens wenn sie eine Frage wegen der Patientin hatte. Bei jeder anderen hätte es ihn nicht gestört, aber Michelle ging ihm unter die Haut wie keine andere vor ihr. Es gefiel ihm nicht, dass ihr Verhältnis gestört war.

Der Assistenzarzt hob das Herz an, um sich die Nähte auf der Rückseite anzusehen.

„Blutdruck fällt. Achtzig zu sechzig. Das reicht!“, rief Ty.

Der Arzt ließ das Herz wieder sinken.

„Blutdruck steigt. Ihr wisst, dass solche Manöver mich nervös machen.“

Michelle und ihr Assistent hörten kaum zu, sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, sahen aufmerksam in den Brustraum der Patientin.

„Wo kommt das Blut her?“, murmelte sie. „Aktivierte Gerinnungszeit?“, fragte sie in Tys Richtung, ohne ihn anzusehen.

„Im normalen Bereich“, erwiderte er.

„Müssen weitere Gerinnungsfaktoren gegeben werden?“

„Nein. Blutplättchen und GFP sind ausreichend“, erwiderte er. Noch einmal sah er auf seine Monitore. Nichts deutete darauf hin, dass gefrorenes Frischplasma benötigt wurde.

„TEG?“

Das TEG zeigte ihm, welcher Teil der Gerinnungskaskade zu niedrige Werte aufwies. „Sieht alles gut aus.“

„Dann haben wir ein Leck“, stellte Michelle fest.

Ty riss den Kopf hoch und sah sie an. Ihre Stimme war höher als normal. Irgendetwas beunruhigte sie stark.

„Finden wir die Stelle!“, drängte sie. „Liegt es an der Naht oder an einem der Gefäße? Tupfer!“

Der Assistenzarzt platzierte Tupfer ums Herz. Im OP schienen alle den Atem anzuhalten. Zum ersten Mal blickte Michelle Ty direkt an. Der Blickkontakt dauerte lange genug, dass er die nackte Angst in ihren Augen sehen konnte.

„Blutdruck?“, fragte sie knapp.

„Sinkt langsam.“

„Nehmen Sie sie wieder raus“, befahl sie.

Der Assistenzarzt zog einen Tupfer unter dem Herzen hervor. Er war hellrot. „Da haben wir’s.“

„Die Arteriennaht“, stellte Michelle fest, leichte Unsicherheit in der Stimme. „Ich dachte, die Stiche würden reichen.“

Er sah ihre Augen nicht, aber sie hörte sich atemlos an. Ty überprüfte noch einmal alle Monitore, bevor er Michelle wieder anblickte. Warum war sie so aufgeregt? Eine normale Bypass-Operation wie diese beherrschte sie doch im Schlaf!

Als sie die Stiche gesetzt hatte, stand sie einfach da, den Blick auf die Brust der Patientin geheftet. Stumm. Regungslos.

„Michelle?“, sagte Ty mit fester Stimme.

Sie zuckte zusammen, wandte sich dann an den Assistenzarzt. „Können Sie bitte schließen?“

Er nickte.

Ty sah, dass ihre Augen feucht wurden. Warum nahm diese OP sie so sehr mit? Auch den anderen aus dem Team war anzusehen, dass sie sich Gedanken machten.

„Alles in Ordnung, Dr. Ross?“, fragte Jane, eine der Schwestern.

Michelle antwortete nicht, sondern verließ den Operationssaal.

„Informieren Sie Dr. Marcus, dass er für mich übernimmt und die OP beendet“, instruierte er seine Narkoseschwester.

Wenige Minuten später folgte Ty Michelle und fand sie im Umkleideraum. Wie ein Häuflein Elend saß sie zusammengesunken auf einer Bank, Tränen liefen ihr über die Wangen. Er nahm den Mundschutz ab und griff nach ihrem Handgelenk. „Kommen Sie.“

Er führte sie zum Personalfahrstuhl. Glücklicherweise mussten sie nicht lange warten, bis sich die Türen öffneten.

„Wohin gehen wir?“

Das klang schon besser. Sie schien sich wieder etwas gefasst zu haben.

„Ich zeige es Ihnen.“

„Ty, es ist nicht der richtige Zeitpunkt für eins Ihrer Spielchen. Ich möchte allein sein.“

„Das ist kein Spielchen.“ Sie hatten das oberste Geschoss erreicht. Als sich die Tür öffnete, nahm er ihre Hand. Sie wehrte sich nicht dagegen. Sie musste wirklich sehr durcheinander sein.

Ty ging um den Fahrstuhlschacht herum und drückte die Tür zum Dach auf.

„Was wollen wir hier?“

„Wo immer ich auch arbeite, suche ich mir einen Ort, wo ich in Ruhe durchatmen kann. Hier ist es das Dach, und ich glaube, Sie können so etwas jetzt gut gebrauchen. Also, was ist da gerade passiert?“

„Nichts. Wir hatten eine Nachblutung und haben das Problem behoben. Das ist Alltag in OPs.“

„Mir machen Sie nichts vor. Erzählen Sie. Hat es mit Ihrer Mutter zu tun?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Dreiundsechzigjährige Frau. Hätte bei der OP sterben können. Ich muss nicht Gedanken lesen können, um den Zusammenhang herzustellen.“

„Wie immer brillante Rückschlüsse, Doktor. Ja, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen“, erwiderte sie gereizt.

Ty ging die paar Schritte bis zur Dachkante, von wo aus man einen weiten Blick über die Stadt hatte, und freute sich, dass Michelle ihm langsam folgte. Als sie neben ihm stehen blieb, sagte er: „Hier oben fühlt man sich wie der König der Welt. Als hätte man die Kontrolle über das Leben anderer, wenn schon nicht über das eigene.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Was wissen Sie denn schon davon, das eigene Leben unter Kontrolle zu haben? Für Sie ist doch alles nur ein einziger Spaß.“

„Glauben Sie mir, ich weiß, dass es das nicht ist. Reden Sie mit mir, Michelle.“

„Ich will nicht darüber reden.“ Sie kickte einen Kiesel vom Dach herunter.

„Sollten Sie aber.“

„Was wollen Sie hören? Ich habe die Fassung verloren, weil die Patientin mich an meine Mutter erinnerte. Jetzt glücklich?“

„Okay, aber warum?“

„Hören Sie auf, mich zu bedrängen, Ty.“

„Warum? Ihrer Mutter geht es besser.“

„Weil ich Angst habe, dass sie sterben könnte. Meinen Vater habe ich bereits verloren. Sonst habe ich niemand mehr.“

„Das Team weiß nichts von der Krankheit Ihrer Mutter, oder?“

Michelle schlug die Augen nieder schüttelte den Kopf.

„Sie müssen mit ihnen reden. Wenn die Chirurgin bei einer Operation die Nerven verliert, ist das Team beunruhigt. Alle waren ziemlich fassungslos. Von Ihnen sind sie solche Gefühle nicht gewohnt.“

„Man nennt mich nicht umsonst die Schneekönigin.“

„Das tut mir leid. Ich kann mir vorstellen, dass es Sie trifft.“

Sie zuckte mit den Achseln.

Er fasste sie bei den Schultern. „Lassen Sie sie an Ihrem Leben teilhaben. Es sind Ihre Freunde. Sie möchten helfen. Ich möchte helfen.“

„Das können Sie nicht. Es ist nichts, über das man einfach seine Witze reißt, und dann ist alles wieder gut.“

Ty ließ die Hände sinken. „Das war ziemlich harsch, selbst für Sie, Michelle.“

„Entschuldigung“, antwortete sie zu seinem Erstaunen zerknirscht. „Sie haben recht, das war unnötig.“

„Sie sind aufgewühlt. Warum haben Sie die Krankheit Ihrer Mutter verschwiegen?“

„Weil ich die Chirurgin bin, ein Team führe. Ich muss stark sein.“

„Sicher, aber Sie sind auch Tochter. Ihre Mutter ist schwer krank. Da haben Sie das Recht, besorgt zu sein. Und für Ihre Patienten und Kollegen ist es wichtig zu wissen, dass Sie menschliche Gefühle haben.“

„Wollen Sie damit sagen, ich hätte sie nicht?“

„Nein, im Gegenteil. Sie sind sehr gefühlvoll, Sie scheuen sich nur, es auch zu zeigen.“

Sie wandte ihm den Rücken zu, ließ die Schultern sinken.

Ty legte die Arme um sie und zog sie an sich. Michelle lehnte den Kopf an seine Brust. „Sweetheart, auch das vergeht wieder. Weinen Sie sich aus, dann fühlen Sie sich besser.“

Was er von sich nicht unbedingt behaupten konnte. Je mehr er über Michelle wusste, umso schwerer würde es ihm in einigen Wochen fallen, wieder zu gehen. Aber das sollte ihn nicht davon abhalten weiterzuziehen. Er blieb nie lange an einem Ort.

Michelle las die Krankenakte eines Patienten durch, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Die Unterhaltung mit Ty ging ihr durch den Kopf. Wie sollte sie ihm je wieder ins Gesicht sehen können? Er hatte sie durchschaut!

Immerhin standen heute keine Operationen an. So brauchte sie Ty nicht gegenüberzutreten.

„Hast du’s schon gehört?“, drang die erhobene Stimme einer Schwester an ihr Ohr. „Ty Smith wurde heute Morgen auf dem Parkplatz angefahren und liegt in der Notaufnahme.“

Michelle blieb fast das Herz stehen.

„Ist er schwer verletzt?“, wollte die zweite Schwester besorgt wissen.

„Keine Ahnung. Ich habe nur sein Motorrad am Boden liegen sehen, ein paar aus der Notaufnahme standen um Ty herum. Mehr weiß ich auch nicht.“

Michelle fuhr den PC herunter und eilte nach unten. Sie erfuhr, dass er in Zimmer vier lag.

An der Zimmertür blieb Michelle kurz stehen. Was machte sie hier eigentlich? Was, wenn Ty gar nicht wollte, dass sie kam? Aber er hatte natürlich niemand, der sich um ihn kümmerte … und sie machte sich Sorgen um ihn, das war doch nur verständlich, oder?

Sie klopfte leise an und trat ein. „Ty, wie geht es dir?“ Ohne nachzudenken, duzte sie ihn.

„Hey, Michelle.“ Er lächelte sie schwach an. Das beunruhigte sie noch mehr als alles andere, denn sie kannte ihn immer nur mit seinem munteren Lächeln. „Sieh mich nicht so entsetzt an. Es wirkt schlimmer, als es ist.“

Das mochte sie ihm nicht glauben. Sein rechter Arm war bis zum Ellbogen bandagiert, der linke Oberarm teilweise verbunden, desgleichen die Handfläche. Sein Hosenbein war abgeschnitten, und er hatte einen Verband am Knie. Überall entdeckte Michelle Schrammen und Prellungen. Der Helm schien Schlimmeres verhütet zu haben. Sein Gesicht war unversehrt.

„Ich habe dir doch gesagt, dass Motorradfahren gefährlich ist.“ Sie berührte seine Hand.

„Ja, ich erinnere mich.“

„Hast du dir etwas gebrochen?“

„Nein. Ich habe nur ein paar Platzwunden, die sie nähen mussten. Vielleicht eine Gehirnerschütterung. Die nächsten Tage bin ich lahmgelegt. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass ich zu spät kommen könnte.“

„Das ist nicht witzig, Ty.“

„Also, Michelle, wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, dass du dir Sorgen um mich machst.“

„Komm, Ty, du bist verletzt. Es wäre herzlos von mir, mich nicht zu sorgen.“

„Vielleicht sollte ich meine Maschine öfters zu Schrott fahren, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Er lachte leise, zuckte dabei aber zusammen.

Ein energisches Klopfen ertönte, und eine Frau in weißem Arztkittel kam herein. Sie streckte Michelle die Hand entgegen. „Ich habe schon gehört, dass Sie uns beehren, Dr. Ross. Ich bin Dr. Lassiter. Herzchirurgen sehen wir hier selten.“ Sie wandte sich an Ty. „Sie werden für ein paar Tage ausfallen. Und Sie brauchen Hilfe zu Hause. Gibt es jemand, der sich um Sie kümmern kann?“

„Ja, ich“, erklärte Michelle spontan.

Sie war nicht die Einzige, die von diesem unüberlegten Angebot überrascht war.

Ty zog eine Augenbraue hoch.

„Großartig. Dann mache ich die Entlassungspapiere fertig, damit Sie ihn mit nach Hause nehmen können“, erklärte Dr. Lassiter erfreut und verschwand wieder.

Nach Hause! Ty würde bei ihr wohnen. Vorgestern hatte sie sich bei ihm ausgeheult, und nun zog er bei ihr ein. Michelle verstand sich selbst nicht mehr. Der Mann war verwirrend genug, musste sie ihn sich auch noch nach Hause holen?

Aber er brauchte Hilfe, und die konnte sie ihm nicht verweigern.

„Na, hast du es dir noch einmal anders überlegt?“, sagte er.

Fragend blickte sie ihn an.

„Ich sehe es deinem Gesicht an.“

Auch das noch! Wieder ärgerte sie sich über ihn. Bevor dieser verdammt gut aussehende Kerl in die Stadt gekommen war, hatte sie ihre Gefühle immer bestens im Griff gehabt!

Sie straffte die Schultern, wich seinem Blick nicht aus. „Ich habe nur nachgedacht, wie ich es dir bequem machen kann. Ich habe nicht oft Gäste.“

„Ich wette, dass du schon lange keinen Übernachtungsbesuch mehr hattest.“

„Das klingt nach Pyjamaparty.“

Seine Augen wurden dunkler. „Eine Pyjamaparty mit dir? Das hört sich verlockend an.“

„Du siehst aus, als wärst du unter einen Bus geraten. Ich glaube nicht, dass du mich noch durch die Wohnung jagen kannst. Wahrscheinlicher ist, dass du einen ganzen Tag lang nur schlafen wirst.“

„Jetzt hast du’s mir aber gegeben“, antwortete er betont theatralisch.

„Du hast noch Glück im Unglück. Es ist Freitagabend, und wir beide haben das Wochenende frei.“

Sein Blick wurde ernst. „Mir gefällt es nicht, dass du dein freies Wochenende opferst, um mich zu versorgen.“

„Wer soll es denn sonst tun?“

„Ich komme schon allein klar.“

In dem Moment kam die Ärztin zurück.

„Wenn sich niemand um Sie kümmern kann, muss ich Sie hierbehalten. Bei Verdacht auf Gehirnerschütterung steht der Patient mindestens vierundzwanzig Stunden unter Beobachtung, das wissen Sie genau.“

„Nein danke, Krankenhäuser sind nichts für mich.“

„Bitte? Du arbeitest in einem Krankenhaus.“

„Aber ich bin kein Patient.“

Michelle blickte ihre Kollegin an, und beide sagten gleichzeitig: „Männer!“

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich nehme ihn mit zu mir“, erklärte Michelle dann entschieden.

„Das ist gut. Hier sind die Entlassungspapiere. Behalten Sie ihn die ganze Zeit im Auge. Ich gebe ihm Schmerzmittel mit, die ihn wohl schlafen lassen, aber er sollte alle zwei Stunden geweckt und angesprochen werden.“

„He, Leute, ich bin anwesend“, protestierte Ty.

„Möglicherweise werden Sie Erinnerungslücken haben, deswegen muss Dr. Ross Bescheid wissen“, erklärte ihm seine Kollegin ruhig, bevor sie sich an Michelle wandte. „Viel Glück. Sie werden mit ihm gut beschäftigt sein.“

Das Gefühl hatte Michelle auch.

Eine knappe Stunde später öffnete sie die Tür zu ihrer Wohnung und sah zu, wie Ty langsam nach ihr die Stufen hinaufkam.

„Toll, so farbenfroh habe ich mir deine Wohnung nicht vorgestellt“, meinte er. „Erinnert mich an dein Büro. Michelle, du steckst voller Überraschungen.“ Er sah sie an. „Es gefällt mir.“

Michelle fühlte, wie sie errötete. „Du kannst mein Zuhause später bewundern. Jetzt bringe ich dich erst einmal ins Bett.“

„Na super. So ein verlockendes Angebot machst du mir, wenn ich mich kaum rühren kann, weil mir alles wehtut.“

„Komm, du Witzbold. Ich zeige dir, wo du schläfst.“

Sie führte ihn den Flur entlang zu ihrem Gästezimmer, das sie mit hellen Tapeten und bunten Vorhängen ausgestattet hatte. „Das Bad ist dort.“ Sie deutete auf eine schmale Tür zur Rechten. „Wenn du dich eingerichtet hast, komme ich und sehe nach dir. Ruf mich, wenn du etwas brauchst.“ Sie nahm die Zierkissen vom Bett, legte sie in den Sessel und schlug die Bettdecke zurück.

Ty blickte sie an. „Vielen Dank für alles, Michelle. Ich hoffe, morgen bist du mich wieder los.“

„Jemand muss sich doch um dich kümmern.“

Er lachte leise. „So liebe ich meine Michelle – eine Frau mit Herz.“

„Ich bin nicht deine Michelle.“

„Noch nicht“, antwortete er lächelnd und ging ins Bad.

Ty schreckte aus dem Schlaf hoch und zuckte zusammen. Ihm tat alles weh. Er sah sich um, versuchte sich zu erinnern, wo er war. Es war dämmrig im Raum, aber er erkannte blaugrün gestrichene Wände und großformatige Bilder in kräftigen Farben.

Eins zeigte eine Strandszene in Gelb, Blau und Rot. Michelles Wohnung hatte ihn überrascht. So konservativ sie nach außen hin schien, so modern und geschmackvoll war nicht nur ihr Büro, sondern auch ihr Zuhause. Ultramoderne Möbel aus Glas, Chrom und pastellblau gestrichenes Holz. Wer hätte gedacht, dass Michelle hier im Farbenrausch schwelgte? Ihre konservativen Outfits verbargen eine Frau mit Flair.

Er wandte den Kopf zur Seite und sah erstaunt Michelle in einem Sessel neben dem Bett sitzen. Sie schlief.

Das Haar trug sie offen, eine Strähne fiel ihr übers Auge. Sie hatte eine locker fallende Hose an, dazu ein Sweatshirt und geringelte Socken. Auch in legerer Kleidung fand Ty sie hinreißend.

Er bewegte den Kopf ein wenig, um die Muskeln zu entspannen, und warf dann einen Blick zum Nachttisch. Der Wecker zeigte vier Uhr morgens an.

„Michelle“, sagte er heiser. Das Medikament machte ihm einen trockenen Mund. Er räusperte sich und rief dann noch einmal ihren Namen.

Sofort war sie hellwach, blickte alarmiert zu ihm hinüber.

„Du solltest besser ins Bett gehen, sonst bist du morgen früh wie zerschlagen.“

Michelle sah auf die Uhr. „Zeit für deine Medikamente. Ich hole sie.“

Sie wartete gar nicht erst auf seine Antwort, sondern stand auf und verließ den Raum.

Er sah ihr nach. Ihr Gang war unglaublich sexy. Doch da fielen ihm schon wieder die Augen zu.

Eine sanfte, warme Hand an der Schulter weckte ihn.

Michelles Gesicht war so dicht, dass sie ihn aus der Nähe betrachtet haben musste. Sie berührte seine Stirn.

„Ty, du musst die Tabletten nehmen. Du hast leichtes Fieber.“

Er versuchte, sich aufzurichten, aber als er aufstöhnte, schlang Michelle einen Arm um ihn. Er wünschte sich, er wäre fit genug, ihre Berührung auch genießen zu können.

„Komm, ich helfe dir.“

Autor

Susan Carlisle
Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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