Kleines Glück in starken Armen

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Hübsche Hebamme sucht Freundschaft und Romantik: Nach dem Tod ihres Mannes ist Ruby endlich für einen Neuanfang bereit und schaltet eine Kontaktanzeige. Dabei schleicht sich immer wieder Dr. Ellis Webster in ihre Gedanken - der beste Freund ihres Mannes …


  • Erscheinungstag 24.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505703
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Hier also?“, fragte Ruby.

„Ja. Es ist ein Sandstrand, wir befinden uns unterhalb der Hochwasserlinie, das Wasser läuft gerade auf, und die Windrichtung stimmt auch. Geradezu perfekt also“, erklärte Ellis.

Ja, es war wirklich perfekt, bis auf den Nieselregen. Aber heute ist nun einmal der Tag, also kommt es auf das Wetter nicht an, dachte Ellis. Jener Tag vor einem Jahr hatte ein riesiges Loch in das Leben all derjenigen gerissen, die jetzt hier zusammengekommen waren.

Ruby lächelte ihn an. „Tom hat immer gesagt, dass du sehr praktisch veranlagt bist.“

Und bestimmt hatte Tom seiner Frau auch verraten, dass Ellis Webster es nie lange an einem Ort aushielt. Abgesehen von den letzten anderthalb Jahren, die er in London verbracht hatte – einzig und allein wegen Tom, der schon seit der Kindheit sein bester Freund gewesen war.

Sie hatten an derselben Uni studiert und ihre Facharztausbildung im selben Londoner Krankenhaus absolviert. Dann hatte Tom erfahren, dass er an Leukämie erkrankt war. Und Ellis war nach England zurückgekommen, um bis zum Ende für seinen besten Freund da zu sein. Er hatte Tom in jenen letzten schrecklichen Monaten auch versprochen, sich um Ruby zu kümmern. Und er war in dem einen Jahr seit Toms Tod immer für sie da gewesen. So auch heute.

Deshalb ging Ellis jetzt mit Toms Eltern und Ruby an einem verregneten Tag im September über den Strand, auf den Tag genau ein Jahr nach Toms Tod. Sie wollten einen Teil seiner Asche an Toms Lieblingsort verstreuen, mit dem sich so viele glückliche Kindheitserinnerungen verbanden. Ellis’ Kehle war wie zugeschnürt.

„Danke, dass du das alles für uns recherchiert hast“, sagte Ruby. „Ich hätte nicht einmal gewusst, ob wir eine Erlaubnis einholen müssen oder nicht.“

„Das war doch das Mindeste. Ich habe Tom schließlich auch geliebt.“

Als Ruby das erste Mal davon gesprochen hatte, Toms Asche zu verstreuen, war Ellis sofort klar gewesen, welchen Ort sein Freund sich dafür gewünscht hätte.

Nun breitete er regenfeste Decken für sie alle vier aus und packte vier Schaufeln und Eimer in leuchtenden Farben aus. Es war ein dunkler Tag, der endgültige Abschied, aber Ellis wollte sich auch an die hellen, fröhlichen Zeiten erinnern – und an Tom, wie er vor seiner Erkrankung gewesen war. Er wollte die langjährige enge Freundschaft mit ihm ehren.

„Ich weiß noch, wie gern ihr das hier als kleine Jungs gemacht habt.“ Brendas Stimme bebte, als sie ihren Eimer mit Sand füllte. „Ihr wart beide unheimlich gerne am Strand, egal ob im Sommer oder im Winter. Immer, wenn wir euch gefragt haben, was ihr unternehmen möchtet, wolltet ihr herkommen und Sandburgen bauen.“

Ellis brachte kein Wort heraus. Auch er erinnerte sich noch an jene Tage, als alles so einfach und unkompliziert gewesen war. Damals war das Leben seiner Eltern so sorgenfrei gewesen wie das von Toms Eltern. Doch Toms Eltern hatten auf den Tod ihres Kindes ganz anders reagiert als seine Eltern: Brenda und Mike, Toms Mutter und Vater, sprachen voller Liebe über Tom, statt sich zu verschließen und alles abzublocken.

In einvernehmlichem Schweigen bauten sie zu viert eine Sandburg. So wie früher, als Tom und Ellis klein gewesen waren. Nur dass jetzt Toms Witwe seinen Platz einnahm.

Als sie fertig waren, zog Ellis eine kleine Flagge aus der Tasche, die er aus einem Eisstiel gebastelt hatte und die ein Foto von Tom zierte.

Das Foto verband sich mit einer seiner schönsten Erinnerungen: Tom und er hatten die Ergebnisse der Abschlussprüfungen bekommen und laut gejubelt. Sie wollten beide in London Medizin studieren. Für Tom war das ein wichtiger Schritt dahin gewesen, sich seinen großen Traum zu erfüllen. Für Ellis war es ein wichtiger Schritt gewesen, um einem Zuhause zu entfliehen, das ihm wie ein Mausoleum vorkam.

„Er war damals achtzehn Jahre alt“, sagte Mike, Toms Vater, leise, als Ellis ihm die Flagge reichte. „Sein ganzes Leben lag noch vor ihm.“

Tom hatte nicht einmal ein halbes Menschenleben erleben dürfen. „Er war etwas ganz Besonderes“, erwiderte Ellis stockend. Wäre sein bester Freund doch noch da!

„Ja.“ Mike steckte die Flagge in den obersten Turm.

Brenda und Ruby schluckten und drückten einander die Hand.

Ellis hob den Graben fertig aus, der rund um die Burg verlief. Dann ließen sie nacheinander Toms Asche in den Graben rieseln und bedeckten ihn mit Sand. Schließlich verstreute Ruby noch Rosenblätter.

Dann verschob Ellis die Decken ein wenig, stellte zwei große Regenschirme auf, entkorkte eine Flasche Champagner und füllte vier Gläser. „Auf Tom. Mögen die Erinnerungen an ihn uns öfter zum Lächeln bringen als zum Weinen.“ Es fühlte sich zwar so an, als wäre es genau andersherum, doch er war fest entschlossen, die Freundschaft mit Tom zu feiern und sich nicht von der Trauer überwältigen zu lassen.

Mike, Brenda und Ruby wiederholten seine Worte und lächelten, obwohl ihnen Tränen in den Augen standen.

Sie sahen zu, wie die Flut langsam kam und die Sandburg mitsamt der Asche fortspülte. Rosenblätter und das Foto von Tom trieben auf den Wellen.

Danach fuhr Ellis Toms Eltern nach Hause.

„Möchtest du noch etwas mit uns essen?“, fragte Brenda an der Tür.

„Vielen Dank, aber …“ Ellis verstummte. Allein – ohne Tom – hier in dieser Stadt zu sein, war bedrückend. Am liebsten wäre er so schnell wie möglich nach London zurückgefahren, nur weg von all den Erinnerungen.

„Ach, natürlich. Du möchtest bestimmt deine Mutter besuchen, wo du schon einmal hier bist“, sagte Brenda.

Ellis brachte es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen, deshalb lächelte er nur. Er konnte seinen Eltern einfach nicht gegenübertreten, erst recht nicht an diesem Tag. Sie würden natürlich wissen, warum er hier war, und sie dachten sicher an Sally. Und wie immer würden sie sich hinter eine kühle Fassade zurückziehen, statt mit ihm zu reden oder ihn auch nur mitfühlend zu umarmen.

Das verstand Ellis zwar: Wenn man jemanden verlor, den man so sehr liebte, bestand manchmal die einzige Rettung darin, keinen weiteren Schmerz zu riskieren. Doch es fiel ihm noch immer schwer, mit diesem Verhalten umzugehen. Er hatte vor zwanzig Jahren nicht nur seine geliebte Schwester verloren, sondern auch seine Eltern. Zu seinen älteren Brüdern hatte er zwar weiterhin eine relativ enge Beziehung, aber durch seine Berufswahl war eine Kluft zwischen ihnen entstanden.

Toms Eltern hatten ihn als Teenager nach Kräften unterstützt, wofür Ellis ihnen zutiefst dankbar war. Und Tom zuliebe würde er sich nun genauso um sie kümmern, wie sie es für ihn getan hatten.

Brenda umarmte ihn. „Danke, dass du für uns da bist.“

„Das ist doch selbstverständlich.“ Das meinte Ellis ganz ernst. „Auch wenn Tom …“ Er brachte das Wort einfach nicht heraus. „… wenn Tom nicht mehr da ist, seid ihr doch immer noch Teil meines Lebens. Für mich seid ihr wie zweite Eltern, und das werdet ihr auch immer bleiben.“

Tränen traten Brenda in die Augen. Zu gerührt, um etwas zu erwidern, strich sie ihm über die Schulter. Dann nahm sie Ruby in den Arm.

„Ich schicke euch gleich eine Nachricht, wenn wir wieder in London sind“, versprach Ruby ihr.

Als sie im Auto saßen und Ellis auf direktem Weg aus der Stadt hinausfuhr, sagte Ruby erstaunt: „Wolltest du deine Eltern nicht besuchen?“

„Nicht heute.“

„Wir brauchen wirklich nicht meinetwegen direkt zurückzufahren, wenn du zu ihnen möchtest. Ich kann doch einfach bei Brenda und Mike auf dich warten oder mit dem Zug zurückfahren“, schlug Ruby vor.

Doch Ellis wollte eben nicht zu seinen Eltern, erst recht nicht an diesem Tag. Einerseits kam er sich deshalb schrecklich egoistisch vor, andererseits war es für seinen Selbstschutz einfach unerlässlich. „Ein anderes Mal“, sagte er nur. „Das mit meinen Eltern ist etwas … kompliziert.“

Ruby drückte ihm kurz die Hand. „Ich weiß“, erwiderte sie leise.

Nachdem Tom gestorben war, hatte Ellis sich ihr ein wenig anvertraut und ihr von der Tragödie erzählt, die Dunkelheit über sein Leben gebracht hatte: Seine ältere Schwester hatte vor dem Studium ein Jahr Pause gemacht und in einer abgelegenen Schule unterrichtet. Sally wurde ungewollt schwanger, bemerkte es jedoch zunächst gar nicht. Auch alle anderen glaubten, sie hätte einfach einen Virus. Als man feststellte, dass sie in Wirklichkeit an Hyperemesis gravidarum litt, an extremem Schwangerschaftserbrechen, war es zu spät: Sally war bereits zu geschwächt, es kam zu Komplikationen und Organversagen. Sie hatte das Bewusstsein verloren und war nicht wieder aufgewacht.

Ellis’ Eltern hatten sich nie vom Verlust ihrer Tochter erholt. Ihre drei Söhne hatten einfach nicht ausgereicht, um ihnen wieder Lebensfreude zu schenken und sie aus dem kalten, isolierten Leben zu retten, das sie von diesem Moment an lebten.

In einvernehmlichem Schweigen fuhren Ellis und Ruby zurück. Sie hörten Nick Drake, sanfte, melancholische Musik, die sie auch mit Tom zusammen gehört hatten und die zur Stimmung und zum Regen passte.

In London parkte Ellis vor Rubys Haus und brachte sie zur Tür.

„Vielen Dank, Ellis. Ich weiß wirklich nicht, was ich dieses letzte Jahr ohne dich gemacht hätte.“

„Gern geschehen. Du hast mir doch auch geholfen.“ Er umarmte Ruby – ein Fehler, den jetzt roch er ihr Parfüm, das süß nach Veilchen duftete. Und sie passte irgendwie perfekt in seine Arme.

Reiß dich zusammen, sie ist schließlich die Witwe deines besten Freundes, rief er sich in Erinnerung.

Auf gar keinen Fall machst du dich an diese Frau ran!

„Bis morgen bei der Arbeit“, sagte er. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst.“

„Danke, Ellis.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Und er hätte am liebsten den Kopf gedreht, sodass sie ihn auf den Mund geküsst hätte. Schon seit Monaten sehnte er sich danach, Ruby zu küssen, doch er hielt sich mit aller Macht zurück. Schließlich waren die Gefühle, die im letzten Jahr immer stärker geworden waren, völlig unangebracht. Außerdem lief er Gefahr, eine seiner engsten Freundschaften zu gefährden, wenn er sie bat, mit ihm auszugehen. Denn ziemlich sicher sah Ruby in ihm nur einen Freund. Es war also unklug, sich mehr zu wünschen, vor allem da er wirklich kein besonderes Talent für Beziehungen hatte.

Aufgrund seiner Arbeit für eine medizinische Hilfsorganisation war es damit schwierig. Entweder führte er eine Fernbeziehung, die in die Brüche ging, weil seine Freundin ihn kaum zu Gesicht bekam und irgendwann einfach keine Lust mehr hatte, ständig auf ihn zu warten. Oder er hatte kurze Affären, die vorbei waren, sobald er an einen anderen Einsatzort ging.

Seine Ehe mit Natalia war eine Ausnahme gewesen: Da hatte Ellis gehofft, diesmal könnte es anders sein. Doch er hatte sich getäuscht.

Seitdem ließ er sich nur noch auf kurze Affären ein, bei denen beide Seiten wussten, dass es im Grunde nur um den Spaß ging. So war niemand enttäuscht, wenn es vorbei war.

Wenn Ruby so weit wäre, sich wieder auf einen Partner einzulassen, dann würde sie mehr wollen als eine Affäre oder eine Fernbeziehung – also mehr, als er ihr bieten konnte. Außerdem wollte er die tiefe Freundschaft mit ihr nicht aufs Spiel setzen, die in den vergangenen anderthalb Jahren sehr wichtig für ihn geworden war. Und es war doch sicher besser, Ruby als Freundin zu behalten, als wenn sie gar nicht mehr Teil seines Lebens wäre. Also würde er sich eben einfach zusammenreißen müssen.

„Ich muss los“, sagte Ellis daher schnell, bevor er noch irgendetwas völlig Verrücktes tun würde. Zum Beispiel sie zu küssen.

Während der Heimfahrt grübelte er ununterbrochen. Seine Stelle als Facharzt für Geburtshilfe am London Victoria war befristet, denn er vertrat eine Kollegin, die derzeit im Mutterschutz war. Billie kam in ein paar Monaten zurück, und dann würde er für einen Monat im Auftrag einer Hilfsorganisation in Simbabwe eine neue Klinik mit aufbauen. Wenn er wieder im Ausland arbeitete, würde er nicht mehr ständig in Versuchung sein und nicht mehr Gefahr laufen, Ruby wehzutun.

Andererseits hatte er Tom versprochen, sich um sie zu kümmern. Eigentlich durfte er sie nicht im Stich lassen, bis er sicher war, dass sie ihren Schmerz verkraftet und einen anderen Mann gefunden hatte, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte.

Das war nicht einfach für ihn.

Doch er würde wie immer seine Gefühle unter Verschluss halten, dann würde schon alles gut werden.

Ruby blickte Ellis nach und hatte ein schlechtes Gewissen. Denn einen Moment lang war sie versucht gewesen, ihn auf den Mund zu küssen statt auf die Wange.

Wie konnte sie nur so einen Wunsch haben – ausgerechnet am ersten Todestag ihres Ehemannes? Das war egoistisch und grundfalsch.

Empört über sich selbst schloss sie die Tür.

Wie Ruby wusste, hatte Tom Ellis gebeten, auf sie achtzugeben. Wenn sie Ellis nun sagte, dass sie mehr für ihn zu empfinden begann als nur Freundschaft, würde das zwischen ihnen alles kompliziert machen. Er war ihr gegenüber immer der perfekte Gentleman gewesen. Wenn sie die Beziehung zu ihm in eine andere Richtung lenken wollte, könnte sie ihn dadurch verlieren. Und auf keinen Fall wollte sie darauf verzichten, Ellis in ihrem Leben zu haben.

Leider befürchtete Ruby jedoch, dass sie ihn ohnehin verlieren würde. Laut Tom wurde Ellis immer schnell unruhig, wenn er sich längere Zeit an einem Ort aufhielt. Bald würde er wieder für die medizinische Hilfsorganisation arbeiten, bei der er sich so wohlfühlte.

Bei Toms Tod war Rubys Herz in tausend Stücke zerbrochen, und im vergangenen Jahr hatte sie diese mühsam nach und nach wieder zusammengesetzt. Es wäre sehr dumm, sich jetzt in jemanden zu verlieben, für den eine dauerhafte Beziehung nicht infrage kam – der sich nicht dasselbe wünschte wie sie und dem seine Arbeit einfach alles bedeutete. Ellis würde zwar immer wieder zu ihr nach London kommen, doch die meiste Zeit würde sie einsam sein und auf ihn warten. Und wenn sie mit ihm ginge, würde sie furchtbares Heimweh haben und ihre Familie vermissen. Mit anderen Worten: Ellis war einfach nicht der Richtige für sie, so sehr sie sich auch zu ihm hingezogen fühlte. Sie musste mit dem Kopf denken und nicht mit dem Herzen.

Als Ruby sich plötzlich sehr einsam fühlte, wünschte sie, sie hätte Ellis gebeten, noch mit ihr essen zu gehen. Sie war zu aufgedreht, um zu lesen oder ein Kreuzworträtsel zu machen. Nicht einmal, als sie das Badezimmer geputzt hatte, bis es glänzte, hatte sie das Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben.

Dann klingelte es plötzlich, und ihr Herz machte einen Sprung.

War Ellis zurückgekommen?

Nein, natürlich nicht, was für ein dummer Gedanke.

Als Ruby die Tür öffnete, stand ihre beste Freundin Tina vor ihr – mit einem selbst gebackenen Kuchen.

„Ich dachte, du könntest heute sicher Gesellschaft gut gebrauchen“, sagte sie. „Gesellschaft und Zitronenkuchen.“

Das war Rubys Lieblingskuchen, den Tina bestimmt extra für sie gebacken hatte.

„Stimmt. Und niemanden hätte ich lieber hier als dich“, antwortete sie dankbar. Nicht einmal Ellis. Denn bei ihrer besten Freundin brauchte sie sich nicht zu schämen und schuldig zu fühlen, wie sie es in Ellis’ Gegenwart nun tat. „Vielen Dank!“ Sie umarmte ihre Freundin.

Tina kam herein, hängte ihre Jacke auf und ging in die Küche, um Tee zu kochen, wie sie es immer tat, wenn sie Ruby besuchte. „Wie war es denn heute?“

„Es war wirklich gut. Es hat geregnet, aber das machte nichts, weil Ellis regenfeste Decken und große Regenschirme dabei hatte.“ Ruby musste lächeln. „Wir haben eine Sandburg gebaut, die Asche in den Burggraben gestreut, dann mit Champagner angestoßen und zugesehen, wie die Flut Burg und Asche langsam wegspülte.“

„Das klingt geradezu perfekt. So perfekt, wie so etwas eben sein kann.“ Tina schenkte Tee ein, schnitt ihnen beiden ein Stück Kuchen ab und reichte Ruby einen dampfenden Becher. „Auf Tom.“ Sie stieß mit Ruby an. „Er fehlt mir schrecklich, und ich bin sehr froh, ihn kennengelernt zu haben. Er war einfach der netteste Kerl der Welt.“

„Ja“, erwiderte Ruby leise, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt.

„Weinen ist völlig in Ordnung“, sagte Tina mitfühlend.

„Ich möchte aber nicht mit Tränen an ihn denken, sondern mit einem Lächeln. Tom hätte nicht gewollt, dass irgendjemand traurig ist.“

„Aber?“, hakte ihre Freundin nach.

Sie und Ruby hatten sich sofort verstanden, als sie sich mit achtzehn Jahren am ersten Tag ihrer Ausbildung zur Hebamme kennengelernt hatten. Sie waren schon lange befreundet, kannten sich in- und auswendig und wussten genau, wann die andere etwas nicht sagte.

„Ach, ich habe einfach ein schlechtes Gewissen.“ Ruby war noch nicht bereit, über ihre Gefühle für Ellis zu sprechen. Doch sie wusste, dass sie mit Tina sehr gut reden konnte, denn ihre Freundin würde immer ehrlich zu ihr sein.

„Warum denn das?“

„Na ja, morgen ist der letzte Tag der traditionellen Trauerzeit: ein Jahr und ein Tag. Und Tom hat mir in seinen letzten Lebensmonaten mehrmals sehr eindringlich gesagt, er wolle nicht, dass ich alleine bleibe und um ihn trauere. Er wollte, dass ich glücklich bin und mit jemandem zusammenlebe, der mich ebenso liebt wie er.“

„Jetzt kommen mir gleich die Tränen!“ Tina umarmte sie. „Aber natürlich hatte er damit recht, du bist ja noch so jung. Neunundzwanzig, praktisch noch ein Kind!“

Ruby musste lachen, denn Tina war nur ein halbes Jahr älter als sie. „Mit dreißig ist man aber auch nicht gerade alt.“

„Nein.“ Tina sah sie an. „Ruby, soll das heißen, du möchtest dich langsam wieder mit einem Mann treffen?“

„Es ist so: Ich liebe Tom, das wird auch immer so bleiben, aber ich glaube, ich bin jetzt bereit, nach vorn zu blicken und die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Als wir heute seine Asche verstreut haben, fühlte sich das wie ein Abschluss an“, erklärte Ruby. „Aber werden mich nicht alle für herzlos halten, wenn ich nicht noch länger warte?“

„Nein. Bestimmt werden einige herumnörgeln, es sei zu früh“, gab Tina zu. „Aber man kann es nun einmal nicht jedem recht machen. Außerdem geht es nur dich etwas an. Nur du weißt doch, wann du so weit bist.“

„Ja, das stimmt.“ Ruby biss sich auf die Lippe. „Es ist nur …“ Seufzend schüttelte sie den Kopf.

„Wie du ja eben selbst gesagt hast, wollte Tom, dass du glücklich bist und einen neuen Partner findest. Seinen Segen hast du, und den Segen anderer Leute brauchst du nicht.“

Auch nicht, wenn ich mich in seinen besten Freund verliebt habe, hätte Ruby am liebsten gefragt, brachte es jedoch nicht fertig. Sie hatte sich ihre Gefühle gerade erst selbst eingestanden und musste sich noch daran gewöhnen.

„In der Neurologie gibt es einen neuen Assistenzarzt“, sagte Tina. „Ist ein wirklich netter Kerl. Single und neu in London. Vielleicht …“

„Ja, vielleicht“, erwiderte Ruby.

„Denk einfach mal drüber nach. Aber jetzt brauchen wir erstmal einen Wohlfühlfilm und noch ein Stück Kuchen.“

„Das ist eine Superidee!“

Doch es fiel Ruby schwer, sich auf den Film zu konzentrieren, weil sie die ganze Zeit an Ellis denken musste. Ellis, mit den melancholischen grauen Augen. Ellis, der es nie lange an einem Ort aushielt, der aber ihretwegen nun schon so lange hier war. Ellis, der beste Freund ihres Mannes.

Was, wenn …

2. KAPITEL

Sorgsam untersuchte Ruby Mrs. Harris.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ihre Patientin besorgt.

„Grundsätzlich bin ich sehr zufrieden“, erwiderte Ruby. „Allerdings besteht ein kleines Problem: Ihr Baby liegt statt mit dem Kopf mit den Füßen nach unten, das bezeichnet man als Beckenendlage oder Steißlage. Deswegen möchte ich mit dem Arzt über die anstehende Geburt und die verschiedenen Optionen sprechen.“

Mrs. Harris wirkte erschrocken. „Das Baby befindet sich nicht in der richtigen Position?“

„Bei einer Geburt aus der Beckenendlage spricht man von einer Steißgeburt“, erklärte Ruby. „Zu Beginn der Schwangerschaft ist es ganz normal, wenn ein Kind mit dem Kopf nach unten liegt. Meist dreht es sich bis zur Geburt dann um. Ihr Baby hat das nicht getan, das ist alles.“

„Fehlt dem Kleinen etwas?“

„Nein, gar nichts. Die Beckenendlage kommt bei ungefähr drei bis fünf von hundert Babys vor und kann unterschiedlichste Gründe haben. Vielleicht hat Ihr Kleiner einfach keine Lust, sich an Ihre Pläne für die Geburt zu halten“, beruhigte Ruby die werdende Mutter. „Ich hole jetzt Dr. Webster, dann können wir alles gemeinsam besprechen.“ Tröstend drückte sie Mrs. Harris die Hand. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Vielleicht können wir den Kleinen doch noch überreden, sich umzudrehen.“

Ruby ging zu Ellis hinüber. Als sie sein Büro betrat, machte ihr Herz einen Sprung. Statt der grünen OP-Bekleidung trug Ellis einen anthrazitfarbenen Anzug mit weißem Hemd und dezenter Krawatte. Er sah einfach fantastisch aus, wie ein männliches Model, das in einem Hochglanzmagazin Werbung für ein teures Parfüm machte.

Hör auf, ermahnte sich Ruby. Ellis ist ein Kollege und guter Freund. Es war anmaßend, sich mehr zu wünschen.

„Hallo Ellis, darf ich dich kurz entführen?“

Als er lächelte, machte ihr Herz erneut einen Sprung.

„Na klar. Gibt es ein Problem?“

„Ein Problem nicht, nur eine kleine Komplikation. Eine meiner Patientinnen wird zum ersten Mal Mutter. Sie ist in der achtunddreißigsten Woche, und ihr Baby hat es sich in der Steißlage bequem gemacht. Ich weiß, dass sie sich eine natürliche Geburt ohne Eingriffe wünscht.“ Sie wusste ebenfalls, dass viele Ärzte in Mrs. Harris’ Fall auf einem Kaiserschnitt bestehen würden. Weil Ellis viel Erfahrung außerhalb des normalen Krankenhausalltags gesammelt hatte, hoffte Ruby sehr, dass er anders an die Sache herangehen und Mrs. Harris nach Möglichkeit ihren Wunsch erfüllen würde. „Deswegen dachte ich, du könntest vielleicht mit ihr die verschiedenen Möglichkeiten besprechen.“

„Na klar, gern. Du hast ihr bestimmt schon gesagt, dass Babys sich selten an das halten, was man für die Geburt geplant hat, oder?“

Ruby lächelte. „Ja, das tue ich immer.“

„Was sind deine Gedanken zu ihrem Fall?“

„Zuerst versuchen wir, das Baby mittels einer äußeren Wendung in die richtige Position zu bekommen. Wenn das nicht funktioniert, kann ich hoffentlich einen der Geburtshelfer …“, sie sah ihn eindringlich an, „… davon überzeugen, dass wir es mit einer vaginalen Steißgeburt versuchen.“

„Ich glaube, hier auf der Station gab es nur wenige davon, seit ich hier bin“, sagte Ellis. „Und ich war bei keiner dabei. Lehnen die Ärzte hier vaginale Steißgeburten ab?“

„Mit Theo arbeite ich sehr gern zusammen“, erwiderte Ruby. Theo Petrakis, der die Entbindungsstation am London Victoria leitete, unterstützte die Hebammen und versuchte, die Eingriffe auf ein Minimum zu begrenzen. „Aber Geburten aus der Beckenendlage kommen einfach nicht so häufig vor. Ich brauche also jemanden, der genau damit Erfahrung hat.“

„Und deswegen hast du mich angesprochen.“

„Genau.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Mrs. Harris wird zum ersten Mal Mutter, wir wissen also noch nicht, ob ihr Becken groß genug ist.“

Ellis überlegte. „Gut. Wenn es mit der äußeren Wendung nicht klappt, werde ich dich unterstützen – vorausgesetzt, das Baby ist weder zu groß noch zu klein, sein Kopf ist nicht nach hinten gekippt, und ich bin überzeugt, dass das Becken der Mutter es zulässt. Du kannst mich bei Einsetzen der Wehen auch dann hinzurufen, wenn ich nicht im Dienst bin. Allerdings möchte ich dich im Gegenzug ebenfalls um einen Gefallen bitten.“

Schon wieder machte Rubys Herz einen Satz. Ob er einen Kuss wollte?

Sofort riss sie sich energisch zusammen. Das war doch einfach albern – und ziemlich unprofessionell. „Gern. Um was geht es denn?“

„Könntest du die werdende Mutter überreden, dass zwei jüngere Mitarbeiter dabei sein und zum ersten Mal eine Steißgeburt erleben können? Es geht um eine Hebamme und einen Arzt.“

„Ja! Ich wollte dich auch schon fragen, ob jemand bei der Geburt zusehen möchte.“ Ruby freute sich, dass Ellis nicht nur einen Arzt, sondern auch eine Hebamme dabeihaben wollte. „Ich möchte Mrs. Harris beruhigen und ihr versichern, dass wir alles dafür tun werden, ihr genau die Geburt zu ermöglichen, die sie sich wünscht. Ich werde ihr aber auch klarmachen, dass möglicherweise ein Kaiserschnitt notwendig sein wird, falls ein Risiko für das Baby besteht, damit sie darauf vorbereitet ist.“

„Und da wäre ich dann wieder zur Stelle“, sagte Ellis.

„Genau. Sieh sie einfach an und klimpere mit deinen langen Wimpern, und schon hast du sie überzeugt“, erwiderte Ruby. „Obwohl … vielleicht lieber doch nicht. Du siehst jetzt schon eher nach Filmstar aus als nach Arzt.“

„Sehr witzig, Ruby“, gab Ellis zurück, wirkte jedoch kein bisschen beleidigt.

Noch ein Grund, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen: Wenn sie sich ihm näherte und er sie abwies, würde er das natürlich so schonend wie möglich tun, doch ihre Freundschaft würde danach angespannt sein. Und das wollte Ruby auf keinen Fall riskieren.

Vielleicht bin ich einfach einsam und sollte Tinas Angebot annehmen, mich dem neuen Assistenzarzt in der Neurologie vorzustellen.

„Na, worüber denkst du nach?“, wollte Ellis wissen.

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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