Hot Arabian Nights - Lass dich von diesen Wüstenprinzen verführen! (4in1-Serie)

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Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt des Orients und lassen Sie sich von vier Geschichten aus 1001 Nacht verführen.

IM BANN DES SCHÖNEN FREMDEN
"Ich bin eine enorme Unannehmlichkeit?" Julia ist empört. Scheich Azhar al-Farid ist der schönste Mann, den sie jemals gesehen hat. Und der hochmütigste! Leider ist er auch ihre einzige Möglichkeit, der Wüste zu entfliehen - also überredet sie ihn zähneknirschend, ihr zu helfen. Schnell wird sie gewahr, dass Azhar keineswegs so arrogant ist, wie es scheint. Seine zärtlichen Küsse sprechen eine ganz andere Sprache … Doch als Julia im Begriff ist, ihr Herz an den attraktiven Scheich zu verlieren, muss sie erkennen, dass ihr Liebster nicht der ist, für den sie ihn hält!

DIE LADY UND DER WÜSTENPRINZ
Wie ein Prinz aus 1001 Nacht sieht Scheich Kadar aus! Bebend tritt Lady Constance Montgomery dem attraktiven Herrscher in seiner prunkvollen Marmorhalle entgegen. Aufgrund eines Unglücks ist sie an den Gestaden seines Königreichs gestrandet. So schnell wie möglich müsste sie das nächste Schiff nach Indien nehmen, wo ihr unbekannter Verlobter auf sie wartet. Doch unter Kadars sinnlichem Blick spürt Constance ein pikantes Verlangen. Und der betörende, wenn auch skandalöse Vorschlag des stolzen Wüstenprinzen führt die junge Schönheit in nie gekannte Versuchung …

SKANDALÖSE VERFÜHRUNG IM HAREM
Die wertvollen Araberpferde sind der Stolz seines Reichs, weiß Scheich Rafiq. Als eine mysteriöse Krankheit die rassigen Vollblüter befällt, lädt er einen englischen Spezialisten ein. Doch den Wüstenprinzen erwartet eine Überraschung: Tierärztin Stephanie Darvill betritt seinen Palast - eine Frau, und noch dazu die begehrenswerteste, die jemals auf den seidenen Kissen Platz genommen hat! Aber trotz des heißen Verlangens, das zwischen ihnen entbrennt, gibt Stephanie ihm zu verstehen, dass sie ihm unmöglich ihre Unschuld schenken kann. Weil sie nicht mehr unschuldig ist …

DIE WÜSTENBLUME UND DER GENTLEMAN
"Ich habe die absurde Vorstellung, dass Ihre Küsse nach Pfirsich schmecken würden." Königreich Nessarah, 1815. Zart wie eine Blüte und stolz wie eine Königin: Wer ist die geheimnisvolle Fremde, die der britische Archäologe Christopher Fordyce des Nachts mitten in der Wüste antrifft? Die schöne Tahira betört ihn mit ihrer liebreizenden Art - und entfacht in ihm zugleich ein brennendes Begehren nach ihren verlockenden Lippen. Doch nach märchenhaft leidenschaftlichen Stunden im warmen Wüstensand wird Christopher gewahr: Es kann keine gemeinsame Zukunft für ihn und seine geliebte Wüstenblume geben! Denn Tahira ist bereits einem anderen versprochen …


  • Erscheinungstag 19.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769642
  • Seitenanzahl 1024
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Marguerite Kaye

Hot Arabian Nights - Lass dich von diesen Wüstenprinzen verführen! (4in1-Serie)

1. KAPITEL

Königreich Qaryma, im Frühling 1815

Es war Spätnachmittag, und die Wüstensonne brannte unerbittlich auf ihn herab, dennoch hatte sich Azhar den ganzen Tag über kaum eine Pause gegönnt. Sein Ziel lag nach der langen Reise endlich in Reichweite, und dieses Wissen trieb ihn an. Je eher er die ungeliebte Aufgabe hinter sich brachte, desto besser. Sein Vorhaben fiel ihm nicht leicht und könnte sich als schwierig und womöglich auch schmerzlich erweisen, doch es lohnte sich. Vor zehn Jahren hatte er seine Heimat verlassen und sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Wenn er Qaryma dieses Mal den Rücken kehrte, würde es tatsächlich für immer sein.

Azhar brachte sein Kamel zum Stehen und blickte, die Augen mit einer Hand abgeschirmt, in die Ferne. Der Anblick der Wüste veränderte sich stetig. Die knochentrockenen Winde formten die Dünen beständig neu, als wäre die Landschaft lebendig wie eine große, sich windende Schlange. An diesem Tag variierten die Farben von Gold zu verbranntem Orange und dunklem Schokoladenbraun, wo die hohen Sandberge Schatten in die Dünentäler warfen. Die endlose Weite, das strahlende Blau des Himmels und die flirrende Hitze erfüllten Azhar mit Ehrfurcht und wehmütigen Erinnerungen. Seine Handelsreisen hatten ihn durch viele Wüstenlandschaften geführt, doch keine berührte sein Herz so sehr wie diese.

Früher zumindest. Vor zehn langen Jahren hatte er diese Landschaft und ihre Menschen aus seinem Herzen und seinen Gedanken verbannt. Seine Erinnerungen sollten das neue Leben nicht durchdringen, das er sich aufgebaut hatte. Sein Handelsgeschäft machte ihn unabhängig. Er war niemandem Rechenschaft schuldig und musste für niemanden Verantwortung tragen. Sobald er besagte Angelegenheit in Qaryma erledigt und einen Schlussstrich gezogen hatte, würde er endlich frei sein.

Tief unter ihm schmiegte sich die Zazim-Oase ins Tal, umgeben von einem sattgrünen Gürtel üppiger Vegetation. In der reglosen, silbriggrünen Wasserfläche spiegelten sich die Dünen so klar, als wären sie gemalt. Die Oase war weithin bekannt und bei müden Reisenden beliebt, dennoch hoffte er auf eine letzte einsame Nacht, bevor er sich der schwierigen Aufgabe stellen musste, die ihn hergeführt hatte. Der ohnehin nur kleine Hoffnungsfunke erstarb jedoch endgültig, als er ins Tal hinunterritt.

Im Schatten der Palmen stand ein Zelt. Es ähnelte dem, das seine Maultiere trugen, ein Konstrukt aus schweren Wolldecken und Tierfellen, die über einen einfachen Holzrahmen gespannt wurden. Dieses Zelt war größer als seines, ähnlich den Zelten, die Beduinen benutzten, und nicht bloß für einen einzelnen Reisenden gedacht. Suchend ließ Azhar den Blick schweifen. Die ausgeprägte Stille in der Oase kam ihm merkwürdig vor; es gab keinerlei Anzeichen von Leben, weder Mensch noch Tier. Doch niemand würde einen solch wertvollen Besitz freiwillig im Stich lassen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, stets mit dem Unerwarteten zu rechnen, und so glitt Azhars Hand unwillkürlich zu seinem Krummsäbel, während sein Kamel und die an Leinen aneinander gebundenen Lasttiere langsam den Abstieg begannen.

Julia Trevelyan fuhr abrupt aus dem Schlaf hoch. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schweißnass und kratzig vom Sand klebte ihr dünnes Leinenhemd an ihrer Haut. Die Luft im Zelt war stickig, und das Atmen fiel ihr schwer. Durch die Ritzen der Zeltplanen drang gleißendes Licht; es musste also schon spät am Nachmittag sein. Aber das war unmöglich.

Ihr Kopf schmerzte, und ihr Gaumen fühlte sich pelzig an, als wäre er mit Kamelhaar überzogen. Durstig griff sie nach der Trinkflasche neben ihrem Schlaflager, doch ihre Hände zitterten, weshalb es ihr erst nach mehreren Versuchen gelang, den Verschluss zu öffnen. Mit gierigen Schlucken trank sie das kostbare Wasser, ohne darauf zu achten, dass es ihr über Kinn und Brust tropfte. Das hämmernde Pochen in ihren Schläfen wuchs sich zu einem heftigen Schmerz aus, und ihr war glühend heiß. Rasch schüttete sie sich das restliche Wasser aus der Flasche über das Gesicht, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Hanif, ihr Dolmetscher und Führer, wäre entsetzt über eine solche Verschwendung gewesen, aber Julia war es egal, und außerdem gab es in der Oase reichlich Wasser.

Wo steckte Hanif überhaupt? Warum hatte er sie nicht längst geweckt? Und wie spät war es eigentlich? Julia tastete nach Daniels Taschenuhr, die gewöhnlich neben ihrer Schlafmatte lag, aber sie konnte sie nicht finden. Nanu, hatte sie die Uhr vielleicht woandershin gelegt? Andererseits sah es ihr gar nicht ähnlich, achtlos mit einem so wertvollen Schmuckstück umzugehen. Sie runzelte die Stirn, worauf sich der Kopfschmerz verstärkte. Sie konnte sich nicht mal erinnern, dass sie zu Bett gegangen war.

Plötzlich fiel ihr die Stille auf. Angestrengt lauschte sie. Nichts. Keine Unterhaltung drang zu ihr herüber, keine Stimmen waren vernehmbar. Nicht mal ein Rascheln. Selbst das schrille Wiehern der Maulesel und das grüblerische Blöken der Kamele waren verstummt. Trotz der Hitze erschauerte sie. Unsinn! Das bildete sie sich bestimmt bloß ein. Hanif und seine Männer waren gut für ihre Hilfe bezahlt worden. Sie würden sie hier nicht einfach allein lassen.

Mitten in der Wüste.

Angst stieg in ihr auf. So etwas Albernes. Entschlossen schob Julia die Decke zurück und stand auf. Zu schnell. Das Zelt verschwamm ihr vor den Augen, und sie schwankte. War sie etwa krank? Ein Hitzschlag vielleicht? Oder hatte sie schlicht zu wenig getrunken?

Sie ging zum Eingang an der Vorderseite des Zeltes und steckte den Kopf hinaus. Die Sonne tauchte die Umgebung in ein blendend weißes Licht. Der Tag näherte sich dem Abend. Ungläubig schaute sie sich um. Die Kamele und Maultiere waren spurlos verschwunden, ebenso wie ihre Begleiter. Bloß die kalte Asche des Kochfeuers vom vergangenen Abend zeugte noch davon, dass Menschen hier gewesen waren. Kein Laut war zu hören. Kein Palmblatt rührte sich. Sie war allein.

Wut und Verwirrung verdrängten die Angst. Warum war sie nicht eher aufgewacht? Hanif und seine Männer konnten doch unmöglich alles so leise zusammengepackt haben, ohne dass sie etwas davon bemerkt hätte. Gewöhnlich hatte sie einen sehr leichten Schlaf. Sie drehte sich um und stellte fest, dass ihre Kleider im ganzen Zelt verstreut lagen. Die große Truhe, in der sie sich befunden hatten, war umgekippt. Julias Magen rebellierte. Wo war ihre andere Truhe? In dieser Truhe befand sich der Grund, warum sie überhaupt in diese entlegene Wüste gereist war, so weit entfernt von ihrer Heimat England. „Bitte, bitte, bitte“, flüsterte sie, als sie zur Rückseite des Zeltes eilte.

Doch die Truhe war fort. Nein, das durfte nicht sein. Irgendwo musste sie doch stecken. Hektisch suchte Julia das Zelt bis in die dunkelsten Ecken ab, wühlte sich durch Unterröcke und Kleidung und schaute sogar unter dem Kissen ihres Schlaflagers nach, doch die kleine Truhe blieb unauffindbar. Und damit auch ihr wertvoller Inhalt – die detailgetreuen Zeichnungen der Wüstenpflanzen und die sorgfältig etikettierte Pflanzenprobensammlung. Julia hatte kurz vor Vollendung ihrer Aufgabe gestanden. Die Seiten ihrer Notizbücher waren fast sämtlich mit farbenprächtigen Bildern gefüllt, die kleinen Schubladen der Truhe beinahe alle randvoll gewesen. Bald hätte sie ihr Versprechen erfüllen können; ihre Freiheit war bereits in Reichweite gerückt. Doch nun schien alles vergeblich gewesen zu sein.

Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein. Bitte lass es nur ein grässlicher Albtraum sein, aus dem ich gleich erwache, betete sie stumm und sank niedergeschlagen in den Sand. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie unterdrückte sie mühsam. Sie weinte sonst nie. Ich werde es schon schaffen, redete sie sich ein. Immerhin war sie schon die vergangenen Monate auf sich allein gestellt gewesen und hatte diese Situation ausgezeichnet gemeistert. Und sie war wahrlich schon mit weitaus schlimmeren Situationen konfrontiert gewesen. Einmal war ihre Barke, mit der sie und Daniel auf einem schlammigen Fluss den Dschungel durchquerten, in eine heftige Strömung geraten und gesunken. Sie hatten sich an die Wrackteile geklammert, während sie flussabwärts trieben, bis die Wasser seichter wurden und sie ans Ufer gelangen konnten. Durch das Unglück hatten sie alles verloren. Nein, nicht alles. Seine Uhr und Brieftasche hatte Daniel bei sich getragen.

Ihre Brieftasche! Julia holte das Kissen aus der Ecke, in die sie es bei ihrer Suche geworfen hatte, aber sosehr sie auch darin wühlte, die Lederbörse mit den Goldmünzen war weg. Vermutlich hatten die Männer auch Daniels Uhr gestohlen. Nun konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie hatten über ihrem schlafenden Körper gestanden, alles durcheinandergebracht, und sie hatte nichts davon bemerkt.

Lieber Gott, was hatte sie noch verschlafen? Verspätet suchte Julia ihren Körper nach verräterischen Anzeichen ab. Als sie keine fand, atmete sie erleichtert auf. Die Vorstellung, was ihr hätte zustoßen können, ließ sie erschauern. Sie hätten ihr auch ganz leicht die Kehle aufschlitzen können.

Halt!

Wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung weiterlaufen ließ, erwartete sie nichts als Verzweiflung, und dafür hatte sie keine Zeit. „Es hat keinen Sinn, sich das Schlimmste auszumalen“, sagte sie nachdrücklich zu sich. „Mach dich nicht selbst verrückt, mach lieber eine Bestandsaufnahme deiner Situation.“ Zunächst einmal war sie zum Glück unverletzt. Ihre Goldmünzen waren allerdings gestohlen worden, ebenso wie das Andenken an Daniel, seine geliebte Uhr, aber das Geheimversteck, in dem sie ein paar Scheine aufbewahrte, hatten diese Schurken hoffentlich nicht entdeckt.

Leiser Hufschlag hielt sie jedoch davon ab, sofort nachzusehen. Vorsichtig hob Julia die Zeltplane am Vordereingang an und schaute hinaus.

Gefolgt von drei Lasttieren näherte sich ein einzelner Reiter auf einem Kamel der Oase. Sein Kopf und der Großteil seines Gesichts waren von einer weißen Kufija bedeckt, die von einem geflochtenen Band aus dunkelroten Tüchern gehalten wurde. Nur seine Augen und die hohen Wangenknochen lugten heraus. Er wirkte noch recht jung. Sie schätzte sein Alter auf höchstens fünfunddreißig. Über einem weiten dunkelroten Hemd trug er eine Abaya, einen Mantel aus ungebleichter Baumwolle. Seine langen braunen Reitstiefel bogen sich an den Spitzen nach oben. Der Staub auf seiner Kleidung verriet, dass er weit gereist sein musste. Obwohl sie ihn argwöhnisch beobachtete, schlug der Mann sie unwillkürlich in seinen Bann. Sie wusste nicht, was sie mehr an ihm faszinierte, ob seine aufrechte Haltung und die Leichtigkeit, mit der er sein Reittier führte, oder der Falke, der vor ihm im Sattel saß. Mit herablassendem Blick sah er sich um, als besäße er allein das Recht, sich in der Oase aufzuhalten.

Er schnalzte mit der Zunge, und das Kamel fiel gehorsam auf die Knie. Die Hand auf den gefährlich wirkenden Krummsäbel an seinem Gürtel gelegt stieg er ab. Aus Vorsicht beschloss Julia, sich in die Büsche am Rand der Wasserstelle zu flüchten, solange er mit dem Anbinden der Maultiere beschäftigt war.

Sie wollte sich gerade in den dunklen Schutz des Zeltes zurückziehen und auf der Hinterseite herauskriechen, um sich ein Versteck zu suchen, als sie den schlanken silbergrauen Saluki entdeckte. Leider bemerkte der Hund sie im selben Moment. Er spitzte die Ohren und drehte sich zu ihr. Hastig duckte Julia sich zurück, aber noch während sie die Plane aus Leder an der Rückseite öffnen wollte, traten zuerst der Hund und dann sein Besitzer ins Zelt.

Sie schnappte sich den nächstbesten Gegenstand als Waffe, den sie in die Finger bekam, und wandte sich den Eindringlingen zu. Der Hund stand so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihren nackten Füßen spürte, als er die Zähne fletschte.

„Bleiben Sie, wo Sie sind, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist“, befahl Julia auf Italienisch. In dieser Sprache hatte sie sich auch mit Hanif unterhalten, denn Arabisch beherrschte sie leider nur mäßig. Die wenigen Worte, die sie kannte, waren wohl kaum für die hässliche Situation geeignet, in der sie sich befand.

Der Nomade ignorierte sie und kam ungerührt weiter auf sie zu. Seinen Krummsäbel hatte er nicht gezückt, doch in der Hand hielt er einen Dolch. Julia überlief es eiskalt. Er war mindestens einen Kopf größer als sie, dabei war auch sie nicht klein. „Ich meine es ernst“, warnte sie und richtete ihre provisorische Waffe – eine Haarbürste – auf ihn. In ihrer Angst war sie ins Englische verfallen. „Wenn Sie noch einen Schritt näher kommen, werde ich …“

Er machte nicht nur einen Schritt, sondern mehrere, und alle so schnell, dass sie keine Zeit hatte, sich zu wehren. Fest presste er ihr die Hand auf den Mund, um sie vom Schreien abzuhalten. Ein starker Arm legte sich um ihre Taille und drückte sie an seinen harten, unnachgiebigen Körper. Der Dolch am Ende dieses Arms sah spitz genug aus, um Metall zu zerschneiden, ganz zu schweigen von Stoff oder Fleisch. Die Haarbürste, mit der sie sich zur Wehr hatte setzen wollen, fiel in den Sand, als Julia sich mit aller Kraft loszureißen versuchte. Der Hund bellte, griff sie jedoch nicht an.

Völlig unbeeindruckt von ihren Anstrengungen warf der Mann sie über seine Schulter und durchquerte mit ihr das Zelt. Erst, als er sich versichert hatte, dass sich außer ihr niemand dort aufhielt, setzte er sie wieder ab. Er zog die Kufija vom Gesicht und schickte den Hund mit einem Fingerschnippen als Wachposten zum Eingang.

Sehr kurzes nachtschwarzes Haar brachte seine markanten Gesichtszüge vorteilhaft zur Geltung. Er hatte eine breite Stirn, hohe Wangenknochen und ein überraschend glatt rasiertes Kinn mit einem schmalen Grübchen, das die Aufmerksamkeit auf die perfekte Symmetrie seiner Züge lenkte. Seine dichten goldbraunen Wimpern erinnerten sie an die untergehende Sonne. Seine Nase war groß, doch die Strenge, die sie seinem Gesicht verlieh, wurde durch den weichen, sinnlichen Mund gemildert, der bei einem weniger maskulinen Gesicht zu feminin gewirkt hätte. Julias Künstlerauge nahm all diese Einzelheiten in wenigen Augenblicken auf. Er war einer der attraktivsten Männer, denen sie je begegnet war. Unter anderen Umständen hätte es ihr in den Fingern gejuckt, ihn zu zeichnen und seine lässige Anmut auf Papier festzuhalten.

Er hob die Bürste auf und gab sie ihr. „Was hatten Sie damit vor? Mich zu Tode bürsten?“ Er lachte auf, doch seine Augen blieben kühl. „Was tun Sie hier? Warum sind Sie in der Wüste allein unterwegs?“

Er sprach perfektes Englisch mit einem leichten Akzent. Dieser Mann war eindeutig kein armer Nomade, wie sie zuerst angenommen hatte. Julia wich zurück, ihr Blick flog zum Zelteingang.

„Das würde ich Ihnen nicht raten“, sagte er. „Ich bin gewiss schneller als Sie. Und selbst wenn nicht, Uday holt Sie ganz sicher ein.“ Der Hund spitzte bei seinem Namen die Ohren. „Uday bedeutet der Schnellrennende, und das ist er. Schnell wie der Wind.“ Der Hund bleckte die Zähne wie zu einem verächtlichen Lächeln. Er und sein Herr passten gut zueinander. Dennoch ging Julia weiter, denn ihr fiel kein anderer Ausweg ein.

Sie hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er sie erneut hochhob und gleich darauf mitten im Zelt absetzte. „Madam, Ihnen droht mehr Schaden, wenn Sie ohne Hut, Schuhe und Wasser in die Wüste hinauslaufen, als durch meine Hände.“

Er hatte recht. Wie ärgerlich. Sie war unbewaffnet, im Gegensatz zu ihm. Und sie war nicht schneller als er, auch nicht stärker. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich der Situation mutig zu stellen. Auf keinen Fall durfte sie ihre Angst zeigen. Sie faltete die zitternden Hände und funkelte den Mann an. „Ich habe nicht die Absicht wegzulaufen. Ich bin schließlich kein Eindringling. Das ist mein Zelt, und Sie haben kein Recht, sich hier aufzuhalten. Ich verlange, dass Sie sofort gehen.“

Verblüfft musterte er sie.

„Ich habe Sie gebeten, zu gehen“, wiederholte Julia, dieses Mal auf Italienisch.

Er rührte sich immer noch nicht. „Das habe ich verstanden“, antwortete er, ebenfalls auf Italienisch, ehe er wieder ins Englische verfiel. „Dieses Zelt mag Ihnen gehören, das Königreich jedoch nicht. Sie gehören nicht hierher. Daher wiederhole ich meine Frage: Was tun Sie hier?“

Julia machte sich nicht die Mühe, ihren Ärger zu verhehlen. „Das geht Sie bei allem Respekt nichts an.“

Gereizt schüttelte er den Kopf. „Sind Sie im Besitz gültiger Einreisepapiere? Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, sich hier aufzuhalten?“

Obwohl seine Stimme schroff klang, den Dolch hatte er zumindest weggesteckt. Julias Angst schwand und machte dem Ärger Platz. So ein arroganter Kerl! Sie verschränkte die Arme. „Natürlich habe ich gültige Einreisepapiere, es hat alles seine Ordnung.“

„Ich will sie sehen.“

Fordernd streckte er die Hand aus. Sie wollte ihn schon darauf hinweisen, dass es ihm nicht zustand, auch nur irgendetwas von ihr zu verlangen, als ihr einfiel, dass er womöglich im Auftrag der hiesigen Regierung handelte und es unklug sein könnte, ihn weiter aufzubringen, vor allem, da sie seine Hilfe brauchte. „Einen Moment, ich suche sie.“

Der Vorsehung sei Dank, dass sie ihre Papiere nicht bei ihren Wertsachen aufbewahrt hatte. Julia glitt mit den Fingern vorsichtig in den kleinen Schlitz, den sie ins Leder ihrer Kleidertruhe geschnitten hatte. Zu ihrer Erleichterung befanden sich die Dokumente immer noch in ihrem Versteck, ebenso wie das schmale Banknotenbündel, das sie jedoch für den Moment dort beließ. Nachdem sie die Knickfalten ein wenig geglättet hatte, reichte sie dem Mann die Papiere. „Es ist alles korrekt ausgestellt, wie Sie sehen werden.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Das ist eine Aufenthaltsgenehmigung für das Königreich Petrisa.“

„Genau. Unterzeichnet von den zuständigen Behörden“, stimmte Julia zu. „Und dem britischen Konsul in Damaskus.“ Der ihr, ebenso wie Colonel Missett, der Generalkonsul in Kairo, haarsträubende Geschichten erzählt hatte, dass ihr Raub und sogar Mord drohen könnten, wenn sie diese Reise allein unternahm. Wie sich herausgestellt hatte, waren die Warnungen durchaus berechtigt gewesen. Ihre Motivation war jedoch so groß, dass sie jedes Risiko bereitwillig auf sich nahm und selbst das gute Zureden der beiden selbstherrlichen Gentlemen sie nicht hatte umstimmen können. Jedoch hatte sie die Herren auch nicht über die wahre Natur ihres Vorhabens aufgeklärt. Das ging nur sie etwas an. Schließlich war es ihr Leben, nicht deren. „Nun, zufrieden?“, fragte Julia.

Der Fremde runzelte immer noch die Stirn. „Wie Sie sagen, sind die Papiere in Ordnung. Es gibt nur ein Problem, und das ist, wie ich befürchte, von immenser Bedeutung. Sie sind nicht in Petrisa. Sie sind in der Zazim-Oase, und die befindet sich im Königreich Qaryma.“

Julia blickte ihn fassungslos an. Er musste sich irren. Oder er log aus unerfindlichen Gründen. Vielleicht, weil er sie für ihre Unhöflichkeit bestrafen wollte. „Unsinn, das kann nicht sein“, erwiderte sie nachdrücklich. „Ich hab noch nie von einem Land namens Karim gehört.“

„Qaryma.“

Ohje, wenn er recht hatte, saß sie tief im Schlamassel. Ohne gültige Reisepapiere war sie der Eindringling, nicht er. Sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Unbefugte Grenzüberschreitung konnte doch sicherlich nicht als Verbrechen geahndet werden, wenn es keine Absicht gewesen war, oder? Julia räusperte sich. „Mein Dragoman hat gesagt … sind Sie sicher, dass wir nicht in Petrisa sind?“

„Ich könnte mir gar nicht sicherer sein.“

Sein Ton war unversöhnlich. Er wirkte ein klein wenig einschüchternd, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er nicht log. Sie glaubte ihm. Sie war allein und hatte sich unabsichtlich strafbar gemacht. „Wie es aussieht, schulde ich Ihnen eine Erklärung“, sagte sie. „Offenbar habe ich wohl rein aus Versehen die Grenze übertreten.“

„Sie hatten doch sicher einen Führer, einen Dolmetscher, Träger. Wo sind die?“

Sein Ton ärgerte sie. Fest schlang sie die Arme um sich. „Ich bin allein durch die halbe Welt gereist. Ich bin kein hilfloses, dummes Gänschen.“ Nun ja, ein wenig hilflos fühlte sie sich im Moment schon. „Ich weiß nicht, wo mein Führer und seine Männer abgeblieben sind“, gab sie widerwillig zu. „Sie sind unerwartet mitten in der Nacht verschwunden.“

„Und die Kamele und Lasttiere?“

„Sie haben alles mitgenommen.“ Als sie die Worte laut aussprach, kam sie sich wie eine Närrin vor. Beschämt senkte sie den Blick. „Ich konnte sie nicht aufhalten. Vermutlich haben sie mir gestern Abend unbemerkt ein Schlafmittel in den Tee gegeben.“

Seine Hand glitt zum Griff seines Säbels, und er fluchte leise auf Arabisch. „Hat man Ihnen etwas angetan?“

Ihre Wangen glühten. „Nein. Ich … nein. Jedenfalls nicht auf diese Art, wenn ich Ihre Frage richtig verstehe.“

„Zum Glück. Es tut mir aufrichtig leid, Madam, dass Sie einer solchen Barbarei zum Opfer gefallen sind. Ich versichere Ihnen, dass kein Bürger von Qaryma sich derart widerwärtig gegenüber Fremden verhalten würde. Diese Schurken haben Sie vielleicht nicht misshandelt, aber sie haben unbefugt die hoheitlichen Grenzen von Qaryma übertreten und Sie dann bestohlen.“

Er wirkte nicht nur zornig, sondern auch irritiert. Erneut betrachtete er ihre Papiere und runzelte die Stirn. „Sie reisen wirklich ganz ohne Begleiter?“

„Ja, den ganzen weiten Weg von England bis hierher“, sagte Julia mit leichtem Lächeln.

Der Mann schien ihren Stolz auf diese Leistung nicht zu teilen. Vielmehr machte er einen entsetzten Eindruck. „Sie sind verheiratet“, sagte er und deutete auf den Ring an ihrer Hand. „Wo ist ihr Gatte? Ich bin mir sicher, dass selbst ein Engländer eine Frau den Gefahren einer solchen Reise nicht schutzlos ausliefern würde. Ich jedenfalls würde mit der Sicherheit meiner Gattin gewiss nicht so fahrlässig umgehen, wenn ich verheiratet wäre. Das ist eine Sache der Ehre, ganz zu schweigen …“

„Von der Tatsache, dass wir das schwache Geschlecht sind“, beendete Julia den Satz für ihn. „Zum Glück ist mein Gatte anderer Ansicht gewesen.“ Was genau genommen nicht stimmte. Daniel hatte zu ihrem großen Ärgernis ganz selbstverständlich angenommen, dass er ihr in jeder Hinsicht überlegen war. Wenn es ihm jedoch zupassgekommen war und es ihm zum Vorteil bei seinen Expeditionen gereicht hatte, war er nur allzu geneigt gewesen, ihre Talente und Fähigkeiten anzuerkennen, selbst wenn er ihr diese kurz zuvor noch abgesprochen hatte.

„Eigentlich wollte ich sagen, dass Ihr Gatte das am Hochzeitstag gegebene Versprechen einhalten und Sie beschützen sollte.“

„Ich bin durchaus in der Lage, mich selbst zu schützen“, erklärte Julia. Seine gehobene Augenbraue und sein skeptischer Blick durch das verwüstete Zelt ließen ihr die Röte in die Wangen steigen.

„Sie sagten, Ihr Gatte sei anderer Ansicht als ich gewesen.“

„Welche?“

„Nein, was ich meinte … Sie sprachen von ihm in der Vergangenheit.“

„Ich bin Witwe“, antwortete Julia. „Daniel ist vor einem Jahr an einem Fieber in Südamerika verstorben.“

„Mein aufrichtiges Beileid.“

„Danke.“ Zu Hause in Cornwall hatte sie um den Mann getrauert, den sie so viele Jahre ihres Lebens gekannt hatte, zunächst als Freund, dann als Assistenten ihres Vaters und zuletzt sieben Jahre lang als ihr Gatte. Sie vermisste immer noch den Freund, den Botaniker, den Weggefährten, aber den Gatten? Abstand, Zeit und sechs Monate des Alleinreisens ließen ihre Ehe in einem anderen Licht erscheinen.

Dass Daniel jedoch in der Tat ziemlich nachlässig mit ihrer Sicherheit umgegangen war, war nicht Angelegenheit dieses Fremden. Ebenso wie es nicht ihre Angelegenheit war, dass so ein atemberaubender Mann wie er noch ungebunden war. Dennoch benötigte sie seine Hilfe. Sie konnte gar nicht glauben, dass sie so viel kostbare Zeit verschwendet hatte, ehe sie darum bat.

Sie schenkte ihm ein hoffentlich einnehmendes Lächeln. „Nun, da Sie meine Situation kennen, werden Sie gewiss verstehen, warum ich Sie um Ihre Unterstützung bitten muss, um die Männer zu finden, die mein Vertrauen missbraucht haben. Weit können sie nicht gekommen sein, und in ihrem Besitz befindet sich etwas, das ich unbedingt wiederhaben muss.“ Er schüttelte bereits den Kopf. „Oh bitte“, unterbrach sie, als er zum Sprechen ansetzte. Ihre Verzweiflung schimmerte in ihrer Stimme durch. „Ich flehe Sie an. Die Maultiere und Kamele sind mir egal. Selbst das Geld und der Schmuck, abgesehen von Daniels Taschenuhr, die einen großen sentimentalen Wert für mich hat. Mir geht es jedoch vor allem auch um eine gewisse, für mich sehr wertvolle Sache, die mir mehr bedeutet als alle meine Besitztümer zusammengenommen. Die Männer haben mir zwar mein Gold gestohlen, aber ich besitze noch etwas Geld. Ich kann Sie bezahlen, wenn Sie …“

„Ich bin kein Dragoman, Madam, und Ihr Geld will ich ganz sicher nicht und brauche es auch nicht.“

Er musterte sie so verächtlich, dass sie unwillkürlich unter seinem Blick zusammenzuckte. „Ich bitte um Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin verzweifelt. Es ist für mich lebenswichtig, dass …“

„Nein.“ Er blieb unerbittlich. „Die Suche wäre sinnlos. Was immer sie Ihnen gestohlen haben, ist längst auf irgendeinem Markt verkauft. Diebesgut wird gewöhnlich schnell weitergegeben, und es finden sich stets skrupellose Käufer, die keine Fragen stellen, wenn sie ein gutes Geschäft wittern.“

„Aber …“

„Ich bin selbst Händler – ein ehrenwerter, wie ich hinzufügen möchte, aber ich weiß, wie diese Schurken vorgehen. Es tut mir leid. Ich wünschte, es wäre anders, vor allem wegen der Uhr, aber ich fürchte, Sie müssen Ihre Wertsachen als verloren betrachten.“

Sein Ton war unnachgiebig. Gezwungen, die Wahrheit zu akzeptieren, überfiel Julia Enttäuschung. Sie stellte sich vor, wie Daniels Truhe auf einem Souk verkauft wurde. Die für sie so wertvollen Pflanzen waren von den Dieben sicher weggeworfen worden. Ihre Farben und die kleine Kelle würden verkauft werden, aber ihre Notizbücher und Zeichnungen – nein, die wären für diese Männer wertlos. Sie ahnten nichts von ihrer enormen Bedeutung.

Die Wut kochte in ihr hoch; sie war nicht bereit aufzugeben. Wenn sie ihre Arbeit nicht retten konnte, dann musste sie eben von vorn anfangen. Auf keinen Fall würde sie nach Cornwall zurückkehren, ohne ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Sie war so weit gekommen, hatte so viele Hindernisse überwunden, sie würde sich auf keinen Fall wegen einer Bande von Schurken geschlagen geben.

„Na schön“, erwiderte Julia. „Wenn Sie mir nicht helfen wollen, diese Diebe zu fangen, würden Sie mir dann vielleicht helfen, einen vertrauenswürdigeren Dragoman zu finden? Ich bitte Sie lediglich, mich über die Grenze nach Petrisa zu bringen, mir zu helfen, mir neue Kamele und Lasttiere zu kaufen und …“

Sie hielt inne, denn er schüttelte schon wieder den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keine Zeit, umzukehren. Dringende Geschäfte führen mich in die Hauptstadt Al-Qaryma, die keinen Aufschub dulden.“

Verärgert blickte Julia ihn an. „Sie wollen mich also hier gestrandet zurücklassen, ohne gültige Papiere und ohne die Mittel, nach Petrisa zurückzukehren? Was in aller Welt soll ich denn tun?“

Eine ausgezeichnete Frage, dachte Azhar und betrachtete die Frau mit einer Mischung aus Ärger und Neugier. Sie war älter, als er anfänglich angenommen hatte, vielleicht sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. Nicht mehr in der Blüte der Jugend, aber zu jung, um Witwe zu sein, und sicher zu jung, um allein in der Weltgeschichte herumzureisen, ganz egal, für wie fähig sie sich hielt.

Auch wenn er ihr eine gewisse Furchtlosigkeit zugestand, wenn sie tatsächlich, wie sie behauptete, ganz allein von England hergereist war. Und er zweifelte nicht an ihren Worten. In ihren palmgrünen Augen schimmerten Klugheit und Aufrichtigkeit. Ihr fehlte es vielleicht an Urteilsvermögen, aber sie hatte Mut und war hartnäckig. Obwohl sie eine unerwünschte Ablenkung darstellte, fand er sie ungewöhnlich anziehend.

Dabei entsprach ihr Aussehen keineswegs dem gängigen Schönheitsideal. Dafür war sie etwas zu groß, ihr Gesicht etwas zu lang und ihre Stirn zu breit. Dennoch prägte sich ihre Erscheinung ins Gedächtnis ein, dank dieser Masse an kupferrotem Haar und ihrer großen grünen Augen. Das hässliche Nachthemd ließ ihre schlanke Figur erahnen, und ihre Haarfarbe verriet ein stürmisches Temperament. Ihr Mund hatte einen sinnlichen Schwung, wenn er nicht zu einer schmalen Linie gepresst war.

Entsetzt über die lüsterne Richtung, die seine Gedanken genommen hatten, wendete er den Blick ab. Als hätte er nicht schon genug Sorgen, musste er nun auch noch Verantwortung für eine Fremde übernehmen. Ihm blieb jedoch keine andere Wahl. Er konnte sie schließlich nicht ihrem Schicksal überlassen. Erneut flammte Zorn auf diese Schurken in ihm auf, die sie ausgeraubt hatten. Dass die Mistkerle die Frechheit besaßen, unerlaubt die Grenzen von Qaryma zu überschreiten, feuerte seine Wut noch an. Vor zehn Jahren hätte sich niemand eine solche Respektlosigkeit erlaubt. Offenbar hatte sich während seiner Abwesenheit einiges verändert, und nicht unbedingt zum Guten.

Azhar seufzte. Ein Problem nach dem anderen. Er wandte seine Aufmerksamkeit der dringendsten Angelegenheit zu. „Ich kann Sie nicht guten Gewissens hierlassen, aber ich kann Sie auch nicht zurück zur Grenze bringen. Deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als Sie mit nach Al-Qaryma zu nehmen.“

Sie sah wenig erfreut darüber aus. „Ich habe aber keine Papiere. Man wird mich ins Gefängnis werfen.“

Das hatte er selbst angedeutet. Hätte er seine Zunge bloß besser im Zaum gehalten. „Keine Sorge, ich werde Ihnen in der Stadt gültige Papiere beschaffen.“

„Wie können Sie das versprechen? Ich dachte, Sie seien Händler.“

Warum konnte sie sich nicht einfach bedanken und die Sache auf sich beruhen lassen! „Das bin ich auch und erfolgreich dazu. Deshalb habe ich einflussreiche Kontakte, Madam …“

„Trevelyan.“

„Trevelyan“, wiederholte Azhar langsam. „Das klingt nicht typisch Englisch.“

„Es ist ein kornischer Name, mein Mann und ich stammen aus Cornwall, der schönsten Grafschaft in England, Sir … Sayyid …“

Sayyid, die höfliche Anrede, auf die er jahrelang reagiert hatte. Inzwischen hatte er sich damit abgefunden, ein namenloser Mann ohne Wurzeln zu sein. „Nennen Sie mich Azhar.“

„Azhar“, wiederholte sie.

„Das bedeutet glänzend oder hell.“

„Ich heiße Julia. Ich fürchte, das bedeutet nichts Besonderes. Vermutlich würden Sie mich eher eine Last oder Bürde nennen.“

Sie verschränkte die Arme und hob dabei unabsichtlich die Brüste unter ihrem Baumwollhemd an. Zu seinem Missfallen spürte er, wie sein Blut in Wallung geriet. Seit dem Eintreffen des schicksalhaften Briefes war seine Leidenschaft gänzlich erloschen, doch nun flammte sie unpassender Weise wieder auf. Und er hatte ganz sicher keine Zeit, sich von dieser englischen Witwe bezaubern und in Versuchung bringen zu lassen, zumal sie tatsächlich das genaue Gegenteil einer Versuchung darstellte.

„Was Sie sind, Madam Julia Trevelyan, ist eine enorme Unannehmlichkeit“, sagte Azhar. „Der Tag neigt sich dem Abend zu. Ich werde auf die Jagd gehen und uns eine Mahlzeit zubereiten. Sie sind eingeladen, mir Gesellschaft zu leisten. Ich werde Sie auch nicht betäuben, womöglich aber unabsichtlich vergiften, da meine Kochkünste leider zu wünschen übrig lassen. Ich werde jedoch mein Bestes geben. Eine tote Engländerin ist schließlich das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.“

„Ich bin also eine enorme Unannehmlichkeit“, murmelte Julia, als er das Zelt verließ. „Wie unangenehm war es wohl für mich, Mr. Nennen-Sie-mich-Azhar, ausgeraubt und zum Sterben zurückgelassen zu werden.“

Da sie keine Antwort erhielt, seufzte Julia auf. Sie war höchst undankbar. Er ließ sie wenigstens nicht im Stich. Sie überlegte sich, ob sie seine Einladung zum Essen ausschlagen sollte, aber ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Sie konnte hier sitzen und schmollen oder sich ankleiden, sich zusammenreißen und die dringend benötigte Nahrung zu sich nehmen.

Sie beschloss, nicht die Märtyrerin zu spielen, und sammelte ihre Kleidung auf.

Da sie ihren Ehegatten nicht mehr verärgern und seine Missbilligung hervorrufen konnte, hatte sie nach den ersten Tagen ihrer Reise beschlossen, auf das einengende Korsett zu verzichten. Es war die reinste Folter, wenn Sand ins Korsett geriet, der bei jeder noch so kleinen Bewegung auf der empfindlichen Haut rieb.

Ihre gesamte Garderobe war für das heiße Klima ziemlich ungeeignet. Sie streifte einen groben Wollrock und eine Bluse über die Chemise und schlüpfte in eine Jacke. Bereits jetzt lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Julia, mutig und vernünftig genug zu sein, um sich eine der lockeren Tuniken zu kaufen, die für die Hitze der Wüste weitaus besser geschaffen waren. In Damaskus hätte sie beinahe mal eine gekauft, aber dann war ihr plötzlich Daniels abschätziger Gesichtsausdruck vor ihrem inneren Auge erschienen, und sie hatte ihre Meinung geändert. Was sie nun zutiefst bereute. Er selbst war stets tadellos gekleidet gewesen, ob in einem Mangrovensumpf oder auf einem Berg.

Und das, obwohl er ein Mann der Wissenschaft gewesen war. Er hatte sie seine Frau der Wissenschaft genannt. Zu Anfang war sie unglaublich stolz auf diese Bezeichnung gewesen. Inzwischen jedoch … nun ja, jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um Rückschau zu halten. Sie musste sich darauf konzentrieren, ihr Versprechen einzuhalten. Sie war so nahe dran gewesen, hatte bereits einen Blick auf das Licht wahrer Freiheit am Ende des Tunnels erhascht. Und wenn sie ihre Aufgabe erledigt hatte, durfte sie vielleicht auf eine Zukunft blicken, in der sie ihr eigenes Glück schmieden konnte. Einen Moment lang überkam sie Niedergeschlagenheit, doch sie riss sich schnell wieder zusammen. Sie würde sich in der Stadt einen neuen, verlässlicheren Führer besorgen. Vielleicht fand sie in diesem fremden Königreich auch bisher unentdeckte und seltene Pflanzen. Ein Silberstreif am Horizont, der durch die dunklen Wolken blitzte.

Sie zog die Strümpfe hoch und schnürte sich die Schuhe. Daniel hatte nie an das Schicksal geglaubt, aber Julia war nicht länger dazu verpflichtet, mit ihm einer Meinung zu sein. Sie hatte ihre eigene Meinung. Das Schicksal hatte sie mit diesem mysteriösen Mann zusammengeführt. Und nun lag es an ihr, das Beste aus der Situation zu machen.

2. KAPITEL

Die wunderschöne Wüstenlandschaft raubte Julia immer noch jedes Mal den Atem. Fasziniert beobachtete sie, wie der leuchtend orangerote Himmel in ein blasses Dunkelblau überging, als ob die Sonne bei ihrem raschen Untergang am Horizont einen Bühnenvorhang hinter sich herzog. Die wenigen Schäfchenwolken verfärbten sich in ein allmählich dunkler werdendes Grau und wurden von der sich ausdehnenden Schwärze schließlich gänzlich verdeckt. Die funkelnden Sterne schienen Julia zum Greifen nah zu sein, und der Mond leuchtete buttergelb über ihr. In seinem Schein hoben sich die Umrisse der Dünen scharf in der düsteren Landschaft ab, manche erstreckten sich sanft herabfallend ins Tal, andere ragten wie steile Klippen empor. Auch die Luft veränderte sich, von trocken und staubig zu weich und salzig. Tief atmete sie ein und hob das Gesicht zum Himmel, genoss die sanfte Brise, die leicht durch die Palmen der Oase strich.

Den Falken sah sie zuerst. Von Hanif wusste sie, dass er ein wichtiger Begleiter für jeden Wüstenreisenden war. Wie aus dem Nichts stürzte er vom Himmel herab und ließ sich auf dem Sattel des Kamels nieder. Gleich darauf tauchte Azhar aus der Dunkelheit auf, den schlanken Saluki auf den Fersen. Erneut war sie von seiner gebieterischen Ausstrahlung beeindruckt, wobei er nicht arrogant wirkte. Vielmehr schien er sich in seiner Umgebung sichtlich wohlzufühlen. Ein klein wenig einschüchternd fand sie ihn dennoch. Aber auch umwerfend attraktiv.

Umwerfend? War das das richtige Wort? Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt ein Wort dafür gab, gleichwohl zu faszinieren wie auch zu provozieren. Nein, provokant war er nicht, eher … gebieterisch. Ein Mann mit unwiderstehlicher Ausstrahlung, der jedoch selbst nicht leicht zu beeindrucken war. Unnahbar – war das der treffende Ausdruck? Nein, sie verhielt sich albern. Dennoch war Azhar unleugbar ein aufsehenerregender Mann, nach dem sich jede Frau umgedreht hätte. Julia juckte es abermals in den Fingern, seine Züge zu malen, den sinnlichen Schwung seines Mundes. Ja, es war sein Mund, mehr noch als sein gutes Aussehen oder sein gestählter Körper, der den Wunsch nach flammenden Küssen in ihr weckte. Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatte, wie sich ein flammender Kuss anfühlte. Sie hegte jedoch keinen Zweifel daran, dass Azhar sich darauf verstand. Seltsam, dass sie sich dessen so sicher war. Noch seltsamer aber war, dass allein sein Anblick ein heißes Kribbeln in ihr auslöste und höchst unziemliche Gedanken in ihrem Kopf kreisen ließ.

Offenbar hatten die flirrende Hitze und die urtümliche, fast magische Schönheit der Wüste ihr den Verstand benebelt. Als sie beobachtete, wie Azhar einige Sachen aus den Satteltaschen der Maultiere nahm, kam es ihr so vor, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, so weit von Cornwall und dem Leben, das sie kannte, entfernt, wie nur möglich. Sie konnte ein Niemand oder ein Jemand sein. Sie konnte wilde, seltsame Fantasien haben, sie sogar ausleben, und niemand würde je davon erfahren.

Nicht dass sie das wagen würde. Schon einmal hatte sie so empfunden, damals in Südamerika. Obwohl sie verheiratet waren und ganz allein, war Daniel bis ins Mark erschüttert gewesen, als sie ihn leidenschaftlich geküsst und ihm vorgeschlagen hatte, sich unter dem Sternenhimmel zu lieben. Als Azhar sich ihr näherte, errötete sie beim Gedanken an die Erinnerung und verbannte jegliche Unschicklichkeit aus ihrem Kopf.

„Sie haben sich also entschlossen, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten“, sagte er.

Julia setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Wenn es genug für zwei gibt, dann gerne.“

„Können Sie ein Feuer in Gang bringen? Meine erlegte Beute kocht sich nicht von allein.“

Ihr Lächeln erstarb. Es stimmte, statt zu träumen, hätte sie sich lieber nützlich machen sollen. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass sie sich ihr Versäumnis vorhalten lassen wollte. „Ich kann ein Feuer in Gang bringen“, erwiderte sie schroff. „Ich kann das Kaninchen, das Sie da haben, auch abziehen und sogar kochen. Geben Sie her.“

Die Bitte klang unabsichtlich wie ein Befehl. Azhars Miene wurde herablassend. Wie machte er das nur, bloß mit einem Heben der Augenbrauen? Ein kaltes Funkeln stand in seinen Augen. „Das ist kein Kaninchen, sondern ein Hase.“

Und ja, wieder einmal hatte er recht. „Dann ist der aber ziemlich klein“, entgegnete Julia. „In England sind sie doppelt so groß.“

Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und machte sich mit geschickten Händen daran, ihr Abendessen zu häuten. „Wir sind in Arabien, nicht in England. Der Hase lebt hier in einer kargen Umgebung.“

Sein Falke, der reglos im Sattel saß, beobachtete die Szene mit hoffnungsvollem Blick in den Knopfaugen. „Ich gehöre nicht zu diesen arroganten Leuten, die nur durch die Welt reisen, um zu beweisen, dass England allen anderen Nationen überlegen ist, falls Sie das denken.“

Azhar lächelte leicht – sehr leicht – aber es war dennoch ein Lächeln. Julia betrachtete das als Fortschritt. „Ich war noch nie in England“, sagte er. „Es soll grün und blühend sein, deshalb glaube ich gern, dass die Hasen dort größer sind als hier. Würden Sie jetzt bitte ein Feuer anmachen? Ich würde gern noch vor Sonnenuntergang speisen.“

Rasch entzündete sie ein Feuer und hoffte, sie wirkte dabei geschickt, denn sie war sich bewusst, dass Azhar sie nicht aus den Augen ließ. Unter seinen Blicken wurde sie unruhig. „Sehen Sie, ganz so unfähig bin ich nicht.“

„Stimmt.“ Der Hase lag inzwischen im Topf, und der Falke und der Hund fraßen bereits die Stücke, die Azhar ihnen gegeben hatte. Aus den Falten seines Kaftans holte er eine Handvoll duftender Wildkräuter hervor. Er goss Wasser in den Topf und stellte ihn übers Feuer.

„Es ist nicht meine Schuld, dass die von mir angeheuerten Männer sich als Schurken herausgestellt haben“, meinte Julia. Sein „Stimmt“ hatte sie geärgert. Ist es meine Schuld? fragte sie sich. Hätte Daniel verlässlichere Führer ausgewählt? Wenn er hier gewesen wäre, hätte er sicher nicht gezögert, dies zu behaupten. Nein, er hätte einen Weg gefunden, ihr die Schuld zuzuschieben. Sie erinnerte sich daran, dass er sie auch für den Untergang der Barke verantwortlich gemacht hatte. Sie habe ihn im entscheidenden Moment abgelenkt, hatte er gesagt, als sie durchnässt und zitternd auf dem schlammigen Ufer des Flusses lagen. Da sie froh gewesen war, noch am Leben zu sein, hatte Julia ihm nicht widersprochen und später – oh, später hatte sie das getan, was sie immer tat, und versucht, den Vorfall aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie hatte geglaubt, es sei ihr gelungen. Merkwürdig, dass ihr so viele dieser Erinnerungen in letzter Zeit wieder durch den Kopf gingen. Was sie an etwas anderes erinnerte.

„Azhar, darf ich Sie etwas fragen, über das ich mich schon die ganze Zeit wundere? Warum hat Hanif so lange gewartet, um mich auszurauben?“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich reise schon seit über einem Monat mit ihm durch die Wüste. Warum jetzt erst? Warum hat man mich nicht schon am ersten Abend oder in der ersten Woche betäubt und ausgeraubt?“

„Ein ganzer Monat!“ In Azhars Augen glitzerte Wut. „Das lässt darauf schließen, dass diese Banditen absichtlich gewartet haben, bis sie die Grenze von Petrisa überschritten haben.“

„Aber warum?“

Er presste die Lippen zusammen. „Dafür kann ich mir nur einen Grund vorstellen. Sie hielten es für sicherer. Was bedeutet, dass die Gesetze in Qaryma sehr viel laxer verfolgt werden“, meinte er grimmig. „Falls dem so ist, haben sich die Dinge grundlegend verändert.“

„Verändert? Sie waren also schon länger nicht hier?“

„Zehn Jahre“, antwortete Azhar. „Seit zehn Jahren war ich nicht zu Hause.“

„Zu Hause? Sie sind in Qaryma zu Hause?“ Fragend blickte Julia ihn an.

Azhar fluchte innerlich. Die Bemerkung war ihm unabsichtlich herausgerutscht. Er hatte ein Haus, aber kein Zuhause. „Ich war es, jetzt nicht mehr“, sagte er. „Erklären Sie mir doch bitte, womit Sie sich so lange in der Wüste beschäftigt haben.“

Es klang eher wie ein Befehl statt wie eine Bitte, aber die Worte hatten die gewünschte Wirkung. Obwohl sie kurz zögerte, akzeptierte Julia den Themenwechsel. „Pflanzen“, sagte sie. „Ich sammele Pflanzenproben. Ich bin Botanikerin.“

Überrascht lachte er auf. „Pflanzen! Sie sind hier, um Pflanzen zu sammeln?“

„Eher Wurzeln und Samen“, erwiderte Julia. „Hauptsächlich aber fertige ich Skizzen von den Pflanzen und ihrer Umgebung an und mache mir Notizen zu ihren Nachbarpflanzen und derlei Dinge.“

„Sie sind also eine Künstlerin, Madam Trevelyan?“

„Julia, bitte. Wenn ich Sie Azhar nennen darf, sollten Sie Julia zu mir sagen. Ich bin recht geschickt im Zeichnen.“

„Und wo sind Ihre Bilder?“, hakte er nach, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Weg“, bestätigte sie. „Ebenso wie meine Farben, Notizbücher und all meine Proben. Sie waren in einer Truhe, mit vielen kleinen Schubladen und Einsätzen.“

Sie runzelte die Stirn und verschränkte die Finger. Ihre Entschlossenheit, nicht die Fassung zu verlieren, war weitaus anrührender als der Anblick von Tränen. „Deshalb wollen Sie diese Truhe also unbedingt zurückhaben. Ist sie Ihnen denn noch wichtiger als die Uhr Ihres Gatten?“, fragte Azhar.

Julia nickte und zwang sich zu einem Lächeln. „Wie Sie jedoch so unmissverständlich klargemacht haben, ist alles sicher längst verkauft. Ich hoffe und würde es sehr schätzen, wenn Sie mir in Al-Qaryma dabei helfen könnten, einen anderen Führer zu finden.“ Ein weiteres Lächeln. „Jemanden, der vertrauenswürdiger ist als Hanif.“

Nun erstaunte sie ihn sehr. Jede andere Frau – ja sogar jeder andere Mann – in ihrer Lage hätte sich sicher nach Hause geflüchtet, um sich die Wunden zu lecken. „Sie können doch nicht ernsthaft weiter die Wüste durchstreifen wollen, nach allem, was passiert ist.“

„Es ist mein einziger Wunsch. Ich muss von vorn anfangen. Bitte Azhar.“ Sie schaute ihn aus großen grünen Augen an. „Helfen Sie mir.“

„Was hatten Sie denn mit den Pflanzen vor? Wollten Sie sie verkaufen? Durch meine Handelsreisen ist mir bekannt, dass es einen lukrativen Markt für exotische Pflanzen gibt. Botanische Gärten gewinnen zunehmend an Beliebtheit.“

„Ja, mein Gatte und ich haben verschiedene botanische Gärten mit Pflanzen versorgt, die wir von unseren Reisen nach Südamerika mitgebracht haben. Daniel war jedoch eigen und weigerte sich, seine wissenschaftlichen Forschungen dem Kommerz zu opfern, weshalb er keine Zahlung dafür annahm. Ich allerdings hätte angesichts unserer angespannten finanziellen Lage gern eine Aufwandsentschädigung angenommen. Aber das ist nicht der Rede wert.“

Ein Gatte, der seine Frau der Armut aussetzte, gleich, welch wissenschaftliche Prinzipien er hatte, war für Azhar durchaus der Rede wert, aber er sprach es nicht aus. „Was ist denn dann der Punkt?“, fragte er.

„Ein Buch. Das Buch meines Gatten. Sein Opus Magnum. Sein Lebenswerk.“ Julia senkte den Blick und schwieg gedankenverloren, ehe sie den Kopf schüttelte, wie um wieder aufzuwachen. „Es ist ein Traktat. Ein umfassend bebilderter Pflanzenführer über seltene exotische Pflanzen. Aber er ist noch nicht vollständig, und es war sein sehnlichster Wunsch, sogar sein einziger Wunsch auf dem Totenbett, dass ich sein Werk für ihn vollende.“

Ihr Ton verwirrte ihn. Sie klang spröde. Vielleicht versuchte sie lediglich, ihre Trauer zu kaschieren.

„Ein großes Kompliment“, meinte er, „Sie damit zu beauftragen.“

Julia zuckte mit den Schultern. „Mein Vater war ein bekannter Naturwissenschaftler, ein Experte der Flora und Fauna von Cornwall. Ich habe sein Buch illustriert. Daniel habe ich kennengelernt, als Papa ihn als Assistenten einstellte. Noch vor unserer Verlobung habe ich Zeichnungen von Pflanzen für ihn angefertigt und natürlich auch während unserer siebenjährigen Ehe. Ich bin mit ihm gereist, habe Notizen gemacht, gezeichnet und gemalt. Daher ist dieser Auftrag von Daniel auch nicht als Kompliment gedacht. Es gab lediglich niemand anderen, der dafür besser geeignet gewesen wäre.“

Ihre Erklärung, vorgebracht mit tonloser Stimme, irritierte ihn noch mehr. War sie gefühllos, oder waren die Gefühle zu stark? Azhar tappte im Dunkeln. „Diese Reise durch die halbe Welt ganz allein … ist das so etwas wie eine Pilgerreise?“

„In gewisser Weise schon, da ich dieses Vorhaben unbedingt beenden muss. Aber nur, damit ich unbelastet meine eigene Reise beginnen kann. Das Lebenswerk meines Gatten stand für mich bisher immer an erster Stelle, und das wird auch weiter so sein, bis ich diese letzte eheliche Pflicht erfüllt habe. Allmählich werde ich meiner Aufgabe jedoch überdrüssig. So, nun hab ich es gesagt. Endlich habe ich es ausgesprochen.“

Finster blickte sie ihn an, als ob sie ihn auffordern wollte, sie dafür zu tadeln, aber Azhar war so erschrocken über ihren spontanen Ausbruch, dass er schwieg.

Julia fasste sein Schweigen als Verachtung auf. „Sie halten mich für kaltherzig, oder?“, fragte sie. „Sicher denken Sie, ich sei egoistisch und gefühllos, aber Sie kennen die Fakten nicht.“

Sie wollte sich ihm offenkundig anvertrauen, und Azhars Neugier war geweckt. „Was weiß ich nicht?“

Einen Moment zögerte sie. Er konnte erkennen, in welchem Moment sie die Vorsicht in den Wind schoss, und fragte sich, ob sie wusste, wie deutlich ihr Gesicht ihre Emotionen widerspiegelte. Vermutlich nicht.

„Daniel hat mir auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, dass ich sein Meisterwerk vollenden soll“, erklärte sie. „Selbst auf dem Totenbett dachte er an nichts anderes als an sein Buch. Natürlich hab ich ihm mein Wort gegeben, wie hätte ich auch einem Sterbenden seinen letzten Wunsch verweigern können?“

Was sollte er darauf antworten? Die Parallelen zu seiner eigenen Situation waren bemerkenswert. Spielte das Universum ihm einen Streich?

Zum Glück schien Julia keine Antwort zu erwarten. „Das reichte Daniel jedoch nicht“, fuhr sie fort. „Ich musste auch noch versprechen, dass ich es geheim halten würde. Nicht einmal meinem Vater darf ich verraten, dass Daniel das Traktat nicht selbst beendet hat. Ich musste ihm versprechen, dass ich allein nach Arabien reisen würde, um die noch fehlenden Kapitel zu vervollständigen. Ich musste versprechen, dass ich die Illustrationen anfertige und das Werk als Buch binden lassen, nachdem ich von allem Kopien angefertigt habe. Als Foliant und Quartoausgabe. Er bestand nachdrücklich auf dieser Art der Bindung. Außerdem nannte er mir eine Reihe von Namen, denen ich die fertigen Exemplare zuschicken soll. Zuvor soll ich mir noch die Erlaubnis von Mr. Joseph Banks, dem Präsidenten der Royal Society, für eine Widmung einholen und in Daniels Namen eine posthume Mitgliedschaft einfordern.“ Sie brach ab und runzelte die Stirn, den Blick auf ihre Finger gerichtet, mit denen sie jedes Versprechen abzählte. Dann glättete sich ihre Stirn. „Ach ja, und ich musste versprechen, dass ich Mr. Banks davon überzeuge, Daniel auch die Mitgliedschaft in der Royal Horticultural Society of London zu gewähren.“

„Ihr Gatte hatte wohl großes Zutrauen in Ihre Überzeugungskraft“, stellte Azhar fest.

„Nein, Daniel hatte großes Vertrauen in seine jahrelangen umfassenden Forschungen“, entgegnete Julia. „Sein Buch ist eine ausgezeichnete Arbeit und seine Kategorisierung sehr innovativ. Es ist sein Erbe an die Wissenschaft, und es verdient Anerkennung. Ich werde sicher keine große Mühe haben, Mr. Banks dazu zu überreden, Daniels letzten Wunsch zu erfüllen.“

Julia strich sich die Haare aus dem Gesicht und schaute Azhar an. „Ich dachte immer, dass Daniel sich wegen seiner Liebe zur Wissenschaft die Anerkennung seines Werkes in den höchsten wissenschaftlichen Kreisen so sehr ersehnte. Dafür respektierte ich ihn. Inzwischen glaube ich jedoch, er strebte vielmehr nach Ruhm und Ansehen – und danach, sich einen unvergesslichen Namen zu machen.“

Azhar bildete sich seine eigene, extrem nachteilige Meinung über Julias toten Gatten, aber er hielt sich klugerweise zurück. „Macht es denn einen Unterschied?“, fragte er.

Julia presste die Lippen zusammen und lächelte. „Nein, ich glaube nicht. Welche Gründe er auch hatte, meine Aufgabe bleibt dieselbe.“

„Sie haben sich eine sehr schwere Last aufgebürdet.“

„Das dachte ich zuerst auch, und ganz gewiss ist es keine leichte Aufgabe. Andererseits finde ich das Reisen sehr befreiend. Ich fühle mich nicht einsam. Ich komme gut mit mir allein zurecht. Und von den Vorkommnissen des vergangenen Abends einmal abgesehen, bin ich begeistert von der Schönheit Arabiens. Außerdem“, fügte sie hinzu, und ihr Lächeln nahm einen bitteren Zug an, „hatte ich keine Wahl. Man kann einem Sterbenden den letzten Wunsch nicht verweigern.“

Azhar runzelte die Stirn. Ihre Worte entsprachen wortwörtlich den Überlegungen, die ihn hierhergeführt hatten. Morgen würde er sein Reiseziel erreichen. Aber plötzlich wollte er nicht mehr an morgen denken. Noch nicht. „Sie sind also auf Befehl Ihres Gatten ganz allein hier?“

„Verstehen Sie jetzt, warum ich es ironisch fand, als Sie mich fragten, ob ich seine Erlaubnis hätte?“, antwortete Julia. „Daniel kommandiert mich noch aus dem Grab herum, und das ebenso erfolgreich wie vor seinem Tod.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Aber nicht mehr lange. Ich beende dieses Buch, löse mein Versprechen ein, und dann ist Schluss. Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach den Wünschen anderer gerichtet und auf Anweisung gezeichnet. Erst für meinen Vater, dann für Daniel. Ich habe mir meine Freiheit verdient und bin fest entschlossen, sie auch zu genießen.“

Freiheit. Die vergangenen zehn Jahre hatte sich Azhar frei gefühlt, doch sobald er den Brief erhalten hatte, war ihm bewusst geworden, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte. Freiheit verlangte, dass man alle Bänder durchschnitt, alle Brücken hinter sich abbrach und sich aller Lasten und Pflichten entledigte, so wie Julia es gesagt hatte. Die vergangenen zehn Jahre hatten ihn verändert und ihn zu dem Mann geformt, der er nun war. Er lebte das Leben, das ihm gefiel. Nicht der Brief mit der unerwünschten und unerwarteten Neuigkeit hatte ihn hergeführt. Nicht einmal der Befehl aus dem Grab. Es war dieses Bedürfnis nach einem Schlussstrich, nach wahrer Freiheit, weshalb er diese beschwerliche Reise auf sich genommen hatte.

Er und Julia verfolgten das gleiche Ziel. „Sie streben nach Freiheit. Es wäre ungehobelt von mir, Sie bei diesem höchst begrüßenswerten Unterfangen nicht zu unterstützen.“

Sie strahlte ihn an. „Sie helfen mir also, einen Führer, Kamele und Farben zu besorgen? Oh, werde ich denn überhaupt Farben kaufen können?“

Um so wenig bat sie ihn. Furchtlos stellte sie sich allen Gefahren. Sie hatte ihr Ziel fest im Blick. Das konnte er nur zu gut verstehen. Widerstrebend zollte er ihr Bewunderung. Für ihre Hartnäckigkeit. Ihren Mut. Ihre Entschlossenheit, das Beste aus einer unangenehmen Situation zu machen. Nicht eine Träne hatte sie vergossen. Sie hatte sich auch nicht theatralisch seiner Gnade ausgeliefert oder die Jungfrau in Nöten gespielt, obwohl ihre Lage dies mehr als gerechtfertigt hätte. Sie erwartete nicht von ihm, dass er sie rettete und ihr jegliche Mühen abnahm. Sie wünschte sich lediglich seine Unterstützung, damit sie sich selbst helfen konnte. Sie war wirklich eine höchst außergewöhnliche Frau. „Ich helfe Ihnen“, sagte er. „Ich bringe Sie nach Al-Qaryma. Dort werden Sie alles bekommen, was Sie brauchen.“

Ihr Gesicht leuchtete auf. „Danke, Azhar. Vielen Dank.“

Zu seiner Überraschung ergriff sie seine Hand und drückte einen Kuss darauf. Ihr Mund fühlte sich warm auf seiner Haut an. Sein Körper reagierte sofort, und das Blut schoss ihm in die Lenden. Entsetzt entriss er ihr seine Hand.

„Es tut mir leid. Ich wollte nicht. Ich hab nicht nachgedacht. Ich …“

Ihre Verlegenheit überdeckte zum Glück sein eigenes Unbehagen. „Es war ein langer, aufwühlender Tag.“ Azhar rührte im Topf. „Sie müssen hungrig sein. Essen wir, und danach sollten Sie sich ausruhen. Wir werden in aller Frühe nach Al-Qaryma aufbrechen.“

Sie aßen direkt mit den Fingern aus dem Topf. Julia, die sich inzwischen an diese Sitte gewöhnt hatte und daran dachte, nur die rechte Hand zu benutzen, aß mit großem Appetit. Das fehlende Besteck machte ihr ebenso wenig aus, wie die Notwendigkeit zu teilen.

Ihr Geständnis hatte sie hungrig gemacht. Sie konnte nicht glauben, dass sie ihre geheimsten Gedanken einem völligen Fremden anvertraut hatte. Sie hatte sich selbst in einem grellen, sehr unvorteilhaften Licht gezeigt. Sie war nicht stolz auf ihre Gefühle. Sie hatte sogar starke Gewissensbisse deswegen, umso mehr noch, da sie ihre Empfindungen nun ausgesprochen hatte. Ihr Groll musste laut und deutlich bei Azhar angekommen sein, dennoch hatte er sie nicht verurteilt. Im Gegenteil, in seinen wenigen Worten hatte sie sein Mitgefühl gespürt. Außerdem hatte es ihr gutgetan, ihre Gefühle endlich zu äußern. Daniel hatte seine ganze Leidenschaft für sein Buch aufgespart und sie damit gezwungen, auch ihre Leidenschaft unter Verschluss zu halten. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt zu heißer Leidenschaft fähig war, denn beim ersten und einzigen Mal, als sie es gewagt hatte, die Initiative zu ergreifen, hatte Daniel sie barsch zurückgewiesen. Danach hatte sie sorgfältig darauf geachtet, ihren Gatten nicht mehr zu verärgern, und hatte deshalb nur noch verhalten auf seine seltenen Avancen reagiert. Das hatte ihn offenbar zufriedengestellt. Jedenfalls hatte er nie unzufrieden gewirkt, was wohl auf dasselbe rauskam.

Das Flattern in ihrem Bauch, als sie Azhars Hand geküsst hatte, brachte Julia ins Grübeln. Es hatte sich angefühlt, als würden zwischen ihnen Funken sprühen; als gäbe es eine direkte Verbindung von seiner Hand zu ihren Lippen, die ein Kribbeln in ihr ausgelöst hatte. Dabei hatte sie nur seine Hand geküsst!

Zu ihrer und seiner unbändigen Verlegenheit. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie warf ihm verstohlen einen Blick zu, als er die Reste ihrer Mahlzeit ein wenig abseits an seinen Saluki verfütterte, und schon hatte sie ihre Antwort. Azhar war schlicht der atemberaubendste Mann, dem sie je begegnet war.

Auch der faszinierendste. Er verriet nicht viel von sich. Er war ein reicher Händler. Er war unverheiratet. Er war lange seiner Heimat fern gewesen, zehn Jahre. Mehr wusste sie nicht über ihn. Der Grund für seine lange Abwesenheit stand definitiv nicht auf der Liste der Dinge, über die er sich bereitwillig mit ihr unterhalten würde, und sie wollte ihm auf keinen Fall die Stimmung verderben. Am besten hielt sie sich an unverfängliche Themen.

„Vielen Dank“, sagte sie, als er zu ihr zurückkam und die Finger an einem großen Tuch abwischte. „Ich habe noch nie einen so delikaten Hasen gegessen.“

Er belohnte sie mit einem Lächeln. „Nicht einmal einen dicken englischen?“

„Nicht einmal einen dicken englischen“, sagte Julia und lachte. Sie lehnte sich zurück und schaute in den Nachthimmel. „Im Haus meines Vaters in Marazion Bay gibt es ein Teleskop, aber die Sterne in der Wüste wirken so nah, dass man meinen könnte, man braucht gar keins. Ich habe versucht, sie zu malen, aber es ist unmöglich, solche Schönheit einzufangen.“

„Sie beschränken Ihre Kunst also nicht nur auf Pflanzen?“

„Ich hatte kaum Zeit, etwas anderes zu malen, aber nein, das tue ich nicht. Wenn ich mein Vorhaben beendet habe, kann ich malen, was ich will. Und vielleicht auch das, was andere Leute wollen, denn irgendwie muss ich mir ja meinen Lebensunterhalt verdienen.“

Azhar hob die Brauen. „Hat Ihr Gatte denn nicht für Sie vorgesorgt?“

„Das Wenige, das wir besaßen, wird nach dieser Reise und der Herstellung seines Buches aufgebraucht sein. Daniel hat angenommen, dass ich wieder zu meinem Vater ziehe.“

„Aber Sie haben andere Vorstellungen?“

„Ich liebe meinen Vater, aber ich tausche ganz gewiss nicht einen Befehlshaber gegen den anderen“, antwortete Julia trocken. „Damit will ich nicht sagen, dass er unfreundlich oder lieblos ist. Wie Daniel ist mein Vater ein gutmütiger Despot. Freundlich, liebevoll, aber selbstsüchtig. Papa und Daniel haben beide angenommen, dass meine Zeit ganz allein ihnen gehört und ihre Wünsche auch meine sein müssen. Es ist keinem von beiden je in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht eigene Wünsche haben könnte. Das meine ich, wenn ich ihn als gutmütigem Despoten bezeichne.“

„Sie haben eine sehr bildliche Art, die Dinge zu beschreiben.“

„Aber Sie verstehen mich, oder? Ihr Vater …“

„Ist tot.“

Seine Miene wurde undurchdringlich. Er hatte sich nicht bewegt, dennoch kam es ihr so vor, als hätte er sich körperlich von ihr abgewendet. Eine recht erfolgreiche Methode, ein Thema zu beenden, obwohl dieses Verhalten ihre Neugier anstachelte. Rasch gemahnte sie sich, dass sie ihn nicht erzürnen durfte. Das Schweigen zog sich in die Länge und wurde unangenehm. Sie musste etwas sagen. Egal, was.

„Kennen Sie die botanischen Gärten in Kairo, Azhar?“

Ein ausdrucksloser Blick war die Antwort.

„Sie entstanden unter Napoleons Besatzung. Ein Monsieur Delile war damals der Direktor, ein Brieffreund meines Gatten. Monsieur Delile hat die botanischen Kapitel von ‚Reisen in Unter- und Oberägypten geschrieben‘, wissen Sie.“

„Nein, weiß ich nicht.“

„Und es ist Ihnen auch egal“, sagte sie ernüchtert. „Sie möchten lieber allein sein.“

„Nein!“ Nicht nur Julia, auch sein Hund zuckte bei diesem barschen Ausruf zusammen. Azhar schnitt eine Grimasse. „Verzeihen Sie. Diese Reise ist … ich bin …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Bitte, bleiben Sie. Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Reise. Haben Sie in Kairo auf dem Weg nach Damaskus einen Zwischenhalt eingelegt? Diese Stadt kenne ich gut. Eins meiner Häuser liegt am Stadtrand.“

Julia musterte ihn argwöhnisch. Sie war weitaus mehr daran interessiert, was ihn so … aufwühlte. Ja, das war das richtige Wort. Doch sie kannte ihn bereits gut genug, um das Thema nicht weiterzuverfolgen. „Sie haben also mehr als ein Haus? Dann ist Ihr Handelsgeschäft, worin auch immer Sie Handel betreiben, wohl sehr lukrativ?“

„Seidenstoffe und Gewürze hauptsächlich. Ich arbeite hart – und ja, es ist lukrativ. Ich reise sehr viel und habe Häuser in Damaskus und Neapel. Mehrere Monate des Jahres verbringe ich jedoch in Ägypten. Ich bin gut bekannt mit Colonel Missett, Ihrem Generalkonsul, der jedoch in Kürze seine Position an einen Mr. Salt abgeben wird.“

„Das wusste ich gar nicht. Meinen Sie vielleicht Henry Salt? Der Name ist recht ungewöhnlich. Ich frage mich, ob es derselbe Mann ist.“

„Sie kennen ihn?“

„Ein wenig. Ich hab natürlich sein Buch über seine Reise nach Abessinien gelesen.“

„Natürlich?“

Julia nickte. „Natürlich, weil Mr. Salt ebenfalls ein Brieffreund meines Gatten war.“

„Tatsächlich habe auch ich Mr. Salts Reisebericht gelesen. Ich mache Geschäfte in Abessinien. Ich fand seine Ansichten … interessant.“

„Sie meinen, sie entsprachen nicht den Ihren?“

„Unsere Erfahrungen unterscheiden sich beträchtlich.“

„Weil Ihre Interessen hauptsächlich kommerzieller Natur sind? Soweit ich weiß, bestand Mr. Salts Mission auch darin, den Handel voranzutreiben. Werden Sie die Bekanntschaft in Kairo pflegen? Obwohl, ich glaube, dort hat eigentlich der Khedive das Sagen. Sind Sie …?“

Azhar lachte. „Ja, mit ihm bin ich auch gut bekannt. In meinem Geschäft zahlen sich gute Beziehungen aus. Erlauben Sie mir Ihnen zu sagen, Madam … Julia, dass Sie eine höchst ungewöhnliche Frau sind.“

„Soll ich das jetzt als Kompliment oder Beleidigung auffassen?“

„Als Kompliment“, meinte Azhar. „Ganz eindeutig als Kompliment.“

Im Feuerschein glitzerten seine Augen wie geschmolzenes Gold. Ganz sicher bildete sie sich das Aufflackern von Verlangen darin nur ein. Gewiss spiegelten sich nur die tanzenden Flammen darin, aber einen Moment lang ließ sie zu, dass er ihren Blick festhielt, und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn er sich zu ihr beugte und sie küsste. Wieder verspürte sie ein Flattern und erschauerte. Doch unvermittelt erinnerte sie sich daran, wie unangenehm berührt er ihr vorhin die Hand entrissen hatte, und landete unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen. Entschlossen stand sie auf und brach den magischen Zauber, der ohnehin nur einseitig gewesen sein konnte. „Es ist spät, und ich bin sehr müde.“

Auch Azhar stand auf, mit einer katzenhaften Grazie, die sie wohl nie beherrschen würde. „Im Morgengrauen brechen wir auf.“

„Was ist mit meinen Sachen, dem Zelt, meinen Kleidern …?“

Azhar winkte ab. „Meine Maultiere können das Nötigste tragen, und ich schicke jemanden, der den Rest holen wird.“

Er wollte jemanden schicken! Also hatte er Familie in Al-Qaryma. Julia fügte diesen Informationsfetzen der kurzen Liste mit Dingen hinzu, die sie über ihn wusste. „Danke“, sagte sie. „Dass Sie heute mein Retter waren und mir Hilfe angeboten haben, obwohl Sie sich um dringende Angelegenheiten kümmern müssen. Ich bin sicher, das Letzte, was Sie gebrauchen können, ist, sich mit einer unbequemen Engländerin zu belasten.“

„Einer kornischen Engländerin“, ergänzte Azhar sanft. „Gute Nacht, Julia.“

„Sie haben Ihr Zelt doch noch gar nicht aufgeschlagen.“

„Gute Nacht, Julia“, sagte er nachdrücklich.

Er wollte also Wache halten. Und er wollte allein sein. Und er wollte nicht, dass sie dazu eine Bemerkung machte. Sie wurde immer besser darin, seine stummen Botschaften zu verstehen. „Gute Nacht, Azhar.“

Es war ein langer Tag gewesen. Julia klammerte sich an den schrecklich unbequemen kastenförmigen Sitz hinter Azhar und fühlte sich schon ganz taub. Sie bemühte sich, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, die sie plagte, seit sie auf dem Kamel ritten. Der Ritt auf dem zutreffend benannten Wüstenschiff machte sie seekrank. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie auf einem der Maultiere hätte reiten dürfen, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war. Da diese jedoch ihr noch verbliebenes Gepäck tragen mussten, wäre die Last zu groß geworden.

Die anfängliche Begeisterung, Azhar so nah zu sein, war verflogen. Ihr war unerträglich heiß in ihrem Wollrock. Das Laken, das er als Schutz um ihren Kopf gewickelt hatte, bot mehr Schutz vor der Sonne als ihr Hut, dennoch hatte sie Kopfschmerzen, und ihre Augen tränten vom Sand. Ihre Haut war schweißnass. Nie im Leben hatte sie sich unattraktiver gefühlt.

Im krassen Gegensatz dazu sah Azhar bei Tageslicht noch attraktiver aus. Seine Haut war golden gebräunt, die Farbe ähnelte den Sanddünen im Schatten. Seine Augen glänzten dunkelbraun; goldene Tupfer funkelten darin. Sein Haar wirkte fast pechschwarz, als er den Turban abnahm, um ihn neu zu falten. Kein einziger Schweißtropfen glänzte auf seiner Stirn, während ihr die Haare am Gesicht und im Nacken klebten. Es war so ungerecht und reichlich ärgerlich, dass ihm die Hitze gar nichts auszumachen schien. Gelegentlich trank er aus einer Feldflasche, während sie sich zurückhalten musste, ihre nicht in einem einzigen gierigen Schluck zu leeren.

Als die Sonne am Zenit stand, hatten sie ihre Reise kurz unterbrochen, wobei Julia davon überzeugt war, dass er die Pause nur ihretwegen eingelegt hatte. Während sie erschöpft im Schatten geruht hatte, hatte Azhar den Blick über die endlose Sandfläche schweifen lassen. Die gerunzelte Stirn und der energische Mund hatten ihm eine gewisse Strenge verliehen, die ihn eher einschüchternd statt attraktiv wirken ließ. Hunderte Fragen hatten ihr auf der Zunge gebrannt, zum Beispiel, wo sie die Nacht verbringen würden, doch mit jeder Meile, die sie zurücklegten, war er abweisender und unnahbarer geworden.

„Al-Qaryma.“ Azhar zügelte das Kamel auf einer Düne, und Julia, die beständig „Ich werde nicht erbrechen“ vor sich hin murmelte, erwachte aus ihrer Trance. Er schnalzte mit der Zunge, worauf das Kamel niederkniete, und sprang mit beeindruckender Eleganz ab, ehe er ihr half, hinunterzuklettern.

Ein Blick in die Ferne, und ihre Übelkeit war vergessen. Die kleine Stadt erhob sich glitzernd in der Nachmittagssonne vor sattgrünen Feldern. Gebäude drängten sich aneinander, unterbrochen von Brunnen, die durch graue schmale Straßenbänder verbunden waren. Über alldem thronte auf dem Gipfel eines Hügels ein großer Palast mit strahlend weißem Kuppeldach. Links und rechts erhoben sich schmale smaragdgrüne Türme mit goldenen Spitzen. „Es ist wunderschön“, sagte Julia gebannt. „Wie eine magische Stadt. Liebe Güte, Sie müssen diesen Anblick vermisst haben. Wenn ich hier zu Hause wäre, wüsste ich nicht, ob ich je fortgehen würde, geschweige denn zehn Jahre lang fortbleiben könnte.“

Azhar starrte in die Ferne und zog die Brauen zusammen. „Es ist unbestritten schön, aber selbst ein goldener Käfig ist immer noch ein Käfig“, sagte er.

„Was für eine seltsame Bemerkung. Was soll das heißen?“

„Es heißt, dass diese Stadt nicht länger mein Zuhause ist. Mein Horizont ist nicht länger auf dieses Königreich beschränkt. Ich habe kein Zuhause. Kein Volk. Keine Heimat. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Mein Herz und mein Leben gehören mir allein.“

„Sie müssen ein sehr einsames Leben führen.“

Sein Lächeln war flüchtig und eindeutig verführerisch. „Nur, weil ich entschlossen bin, mir niemals eine Ehefrau aufzubürden, heißt das nicht, dass ich die Gesellschaft von Frauen nicht genieße.“

„Ich bezweifle, dass sie meine Gesellschaft genossen haben“, erwiderte Julia keck, weil sein Lächeln ihr direkt unter die Haut ging. „Ich war Ihnen nur eine Last.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie unterschätzen sich.“

Wollte er sie necken? Er konnte doch nicht ernsthaft meinen, dass er ihre Gesellschaft schätzte! Seine Miene war nicht zu deuten. „Was hat Sie hierhergeführt, Azhar? Sie waren ziemlich lange weg.“

„Nicht lange genug. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal zurückkehren würde. Unsere Situation gleicht sich in gewisser Weise, wie ich gestern festgestellt habe“, sagte er düster. „Es wird Sie überraschen, dass ich ganz ähnliche Gründe für meine Reise habe wie Sie. Auch ich bin hier, um mir meine Freiheit zu sichern. Und auch ich bin auf Wunsch eines toten Mannes hier.“

„Was bedeutet das? Welcher tote Mann? Azhar …“

Er ging jedoch bereits zu seinem Kamel zurück. „Keine weiteren Fragen. Jetzt muss gehandelt werden. Alles wird sich zu gegebener Zeit klären.“ Er schnalzte mit der Zunge, und das Tier fiel erneut gehorsam auf die Knie.

Völlig verwirrt ließ sich Julia von ihm auf das Kamel helfen. Er stieg vor ihr in den Sattel und ließ das Tier wieder aufstehen. Die kleine Karawane zog in das Tal, an dem blauen Wasser der Oase vorbei, den leuchtend grünen, bewässerten Feldern, und Julia hatte alle Hände voll zu tun, im Sattel zu bleiben, während die Farben und Gerüche sie nahezu berauschten.

Fragen wirbelten ihr durch den Kopf, aber im Moment würde sie keine Antworten erhalten. Sie ritten durch die sich schlängelnden Straßen, an Plätzen mit plätschernden Brunnen und geschlossenen Souks vorbei. In der Luft hing noch der Geruch nach Zimt und Pfeffer, Kardamom und Kümmel. Die Leute starrten ihnen hinterher, stießen sich an und riefen weitere Leute herbei. Es war ungewöhnlich, dass eine Frau auf demselben Kamel ritt wie ein Mann, das wusste Julia. Aber lag es nur daran, dass sie so viel Aufmerksamkeit erregten? Vielleicht galt das Interesse ihrer westlichen Kleidung. Womöglich hatten die Leute noch nie eine Engländerin gesehen. Ja, das musste es sein. Es kam ihr so vor, als ob die ganze Stadt sie angaffen würde. Sie fühlte sich äußerst unbehaglich und war froh, dass sie sich hinter ihrem improvisierten Schleier verstecken konnte. Azhar hatte sein Gesicht nicht bedeckt. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass eine ständig wachsende Menge ihnen folgte. Ihr Raunen war selbst über den Hufschlag der Tiere zu hören, aber Azhar hielt den Blick nach vorn gerichtet. Die Schar der Menschen hinter ihnen wuchs sich zu einer regelrechten Prozession aus; ihr Gemurmel klang wie Wehklagen. Nein, nicht Wehklagen. Die Stimmen klangen nicht traurig. Die Gesichter der Frauen konnte sie nicht sehen, aber die Männer lächelten, und die Kinder lachten.

„Azhar“, zischte Julia. „Was ist hier los?“

Er antwortete nicht. Vor ihrer kleinen Karawane warfen sich die Einwohner von Al-Qaryma in den Staub. Irgendjemand bestreute ihren Weg mit Rosenblüten. Rosenblüten! Die Menschenflut hinter ihnen war in Jubelgesang ausgebrochen. Glocken begannen zu läuten. Das war mehr als nur Gastfreundschaft. Nicht an ihr waren sie interessiert, sondern an Azhar. Zehn Jahre waren vergangen, und dennoch liefen alle Menschen aus ihren Häusern, um seine Rückkehr zu feiern. Warum? Wer um Himmels willen war er?

Eine erste Ahnung kam ihr, als er das Kamel vor dem Palast zügelte. Zwei Wachposten, mit glänzenden Krummsäbeln bewaffnet und in makelloses Weiß gekleidet, öffneten die Tore und fielen auf die Knie. Weitere Wachen stellten sich in einer Reihe zu beiden Seiten auf und salutierten. An den hohen Fenstern des Palastes, die auf den Hof hinausgingen, konnte Julia Gesichter erkennen, während die Stadtbewohner in den Hof strömten. Als Azhar schnalzte und das Kamel auf die Knie ging, verstummte die Menge.

Azhar stieg ab. Auch Julia ließ sich auf den Boden gleiten. Ihr Körper war inzwischen in kaltem Schweiß gebadet.

„Azhar“, flüsterte sie. Er blickte jedoch zum großen Eingang des Palastes, in dem ein Mann aufgetaucht war.

Gekleidet in einen goldenen Kaftan, den Turban mit kostbaren Edelsteinen besetzt, kam der Mann auf sie zu. Er war groß und früher sicher attraktiv gewesen, inzwischen hatte er jedoch Fett angesetzt. Seine pausbäckigen Wangen und sein breites Kinn zierte ein perfekt gestutzter Bart. Er wirkte gebieterisch und arrogant, und um seinen Mund lag ein gereizter Zug. Er hatte ganz eindeutig eine Machtstellung inne, und Julia vermutete, dass er diese weidlich zu seinem Vorteil ausnutzte. Er war ein Mann, der nicht nur Respekt, sondern auch Unterwürfigkeit verlangte. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät, sank Julia auf die Knie und beugte den Kopf.

Zu ihrem Erstaunen machte Azhar keine Anstalten, es ihr nachzutun. Unter gesenkten Lidern beobachtete sie ihn, während der andere Mann mit gezwungenem Lächeln vor ihnen stehen blieb. Er verbarg seine Abneigung kaum, und Julia erschauerte unwillkürlich. Der Hof war voller Menschen und die Spannung spürbar. Dann sprach der Mann nur ein Wort. Julia beherrschte die Sprache nicht besonders gut, deshalb war sie sich nicht ganz sicher, ob er Azhar tatsächlich gerade Bruder genannt hatte. Nein, das konnte nicht sein. Die beiden waren sich überhaupt nicht ähnlich.

Azhar neigte kaum merklich den Kopf, und der majestätische Mann ließ sich ächzend auf die Knie nieder und küsste Azhars Hand. Nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte, wandte er sich der Menge zu. Er sprach die rituellen Willkommensworte und dankte Allah für Azhars Ankunft.

Beifall brandete auf; die Menge hieß ihn ebenfalls willkommen. Julia konnte sich nicht länger zurückhalten. „Azhar!“ Die plötzliche Stille machte ihr bewusst, dass sie vermutlich jegliche Höflichkeitsregel des königlichen Protokolls gebrochen, wenn nicht sogar Hochverrat begangen hatte, aber nun war es zu spät. „Azhar“, sagte sie und stand auf. „Würden Sie mir bitte erklären, was in aller Welt hier vorgeht?“

Er drehte sich zu ihr um, und es schien, als hielte die Menge gemeinsam den Atem an. „Julia, darf ich Ihnen meinen Bruder vorstellen, Prinz Kamal, Scheich al-Farid. Kamal, das ist Madam Julia Trevelyan. Sie wird einige Tage unser Gast sein.“

Wie in Trance machte Julia einen Knicks, obwohl der Mann sie völlig ignorierte und irgendetwas über ihren Kopf hinweg zu Azhar sagte. „Ich verstehe das nicht“, meinte sie und wieder keuchte die Menge auf, weil sie ihren König unterbrochen hatte, aber es war ihr inzwischen egal. „Wenn das Ihr Bruder ist, dann sind Sie …“

„Scheich al-Farid, Kronprinz Azhar von Qaryma“, beendete Azhar. „Willkommen in meinem Königreich.“

3. KAPITEL

Azhar setzte die Tasse an den Mund und schluckte die letzten Tropfen Kaffee hinunter. Die dicke dunkle Flüssigkeit, die er stets ungesüßt trank, brannte sich durch seine Kehle und verstärkte das ungute Gefühl, das ihn die ganze Nacht wach gehalten hatte. Seine erste Nacht im Palast seit zehn Jahren. Allerdings hatte er weder den Palast noch sein früheres Leben in all diesen Jahren vermisst. Vielmehr hatte er jeden Gedanken daran unterdrückt. Vermutlich ein Fehler. Denn nun, da er aus seinem normalen Leben gerissen worden war und so abrupt in sein altes hatte zurückkehren müssen, fühlte er sich von der Situation überfordert. Die Stadt inmitten der Wüste übte einen mächtigen Reiz auf ihn aus. Er hatte die mystische Schönheit seines Landes nie vergessen, doch die Erinnerung daran verbannt. Der Anblick von Al-Qaryma hatte ihn in den Tiefen seiner Seele berührt. Es gab viele andere Wüsten, viele wunderschöne Städte, doch hier, in diesem Königreich, in dieser Stadt, lebte sein Volk.

Sein Volk?

Nein. Die Menge, die ihm gestern durch die Straßen gefolgt war, die er nicht gegrüßt hatte, war nicht sein Volk. Es war das Volk seines Vaters, und nun würde es das Volk von Kamal werden.

Wie aufs Stichwort ertönte ein leises Klopfen an der Tür, gleich darauf trat ein Diener ein, der Kamal ankündigte. Erneut staunte Azhar darüber, wie sehr sich sein Bruder verändert hatte. Kamal war immer schon ein gieriges Kind gewesen, mit einer Vorliebe für Naschereien und Kuchen, und er hatte sich nie bemüht, diese Gier zu zügeln. Die Jugend hatte ihn jedoch davor bewahrt, dass man ihm seine Zügellosigkeit ansah. Nun, mit neunundzwanzig, wirkte sein Bruder mindestens zwei Jahre älter als Azhar, obwohl er tatsächlich sogar zwei Jahre jünger war.

Azhar bemühte sich, seine Gedanken hinter höflichem Gebaren zu verstecken, und stand auf, nachdem sein Bruder den Raum betreten hatte. „Gut, dass du kommst. Wir hatten gestern gar keine Gelegenheit, uns ungestört zu unterhalten. Es ist schön, dich zu sehen, Kamal. Steh bitte auf, es gibt keinen Grund, warum du vor mir niederknien solltest. Du weißt ja, dass ich keinen großen Wert auf Förmlichkeiten und das Hofzeremoniell lege.“

Der angebotenen brüderlichen Umarmung wich sein Bruder aus und beugte sich über Azhars Hand. „Die Dinge liegen nun so kurz vor deiner Krönung jedoch anders. Als König wird von dir erwartet, dass du das Hofprotokoll befolgst.“

Gestern war es Azhar noch nicht aufgefallen, doch nun lag eine deutlich vernehmbare Schärfe in Kamals Ton. „Lass dir versichern, dass ich weder erwartet noch gewollt habe, Nachfolger unseres Vaters zu werden“, erwiderte Azhar und setzte sich auf den Sessel am Fenster. Er winkte Kamal, es ihm nachzutun. „Der Brief kam ziemlich überraschend.“

„Vaters Gesundheit hat sich stetig verschlechtert. Im vergangenen Jahr war er sogar zu schwach, um seine Pflichten als König zu erfüllen. Ich musste die Regentschaft übernehmen. Mit seinem Segen, wie ich hinzufügen möchte.“

„Dieser Pflicht bist du sicher verantwortungsvoll nachgekommen.“

„Man tut sein Bestes, wie ich in aller Bescheidenheit sagen möchte, gleich, wie lange die Verantwortung auf meinen Schultern lastet. Doch diese Bürde übergebe ich nun dir, mein Bruder.“

Ja, sein Bruder war ihm eindeutig feindlich gesinnt. Verständlich, wenn man bedachte, dass er befürchtete, Azhar wolle ihm die Macht nun wieder nehmen. Auch die Tatsache, wie sehr es Kamal genoss, Macht und Einfluss auszuüben, hatte Azhar verdrängt. Er könnte seinen Bruder ganz leicht beruhigen, doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er damit besser noch warten sollte. Obwohl sein Entschluss unwiderruflich feststand, hatte ihn die Erfahrung gelehrt, dass es manchmal besser war zu schweigen, bis es an der Zeit zum Handeln war. Mit Schweigen konnte man zuweilen viel erreichen. Bestimmt konnte er mehr in Erfahrung bringen, wenn er Kamal erst einmal in seliger Ungewissheit ließ, denn mit Wissen kam man noch viel weiter als mit Schweigen. Der richtige Zeitpunkt, um seinen Entschluss zu verkünden, würde schon bald genug kommen, aber noch war es nicht so weit.

„Als ich erwähnte, dass der Brief für mich überraschend eintraf“, sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht, „meinte ich nicht das Dahinscheiden unseres Vaters, sondern die Tatsache, dass ich als rechtmäßiger Erbe auf den Thron steigen soll.“

Kamal machte einen erstaunten Eindruck. „Du machst Scherze. Und es ist ein geschmackloser Scherz, wie ich hinzufügen möchte. Als ob der König je in Erwägung gezogen hätte, dich zu enterben.“

„Mir ist es ernst. Ich habe angenommen, dass ich nie wieder hierher zurückkommen würde.“

„Und dennoch bist du hier“, erwiderte Kamal mit angespanntem Lächeln. „Ich wusste es. Ich habe gewusst, dass du nicht widerstehen könntest, dein Königreich einzufordern, obwohl du dir vor all diesen Jahren jedes Recht darauf verwirkt hast.“

Azhar krümmte sich innerlich, ob der kaum verhohlenen Feindseligkeit, obwohl er sich äußerlich nichts anmerken ließ und sich in Erinnerung rief, dass die Empfindungen seines Bruders nachvollziehbar waren. Kamal hatte ihn schon immer um seinen Status als Kronprinz beneidet und es gehasst, als zweiter Sohn keine Machtbefugnisse zu haben. Daher war es kein Wunder, dass er nun annahm, Azhar sei gekommen, um sein Erbe anzutreten. Sein Groll war verständlich, wenn auch enttäuschend. „Du tust mir unrecht“, sagte er. „Ich hatte keine Ahnung, dass ich Anrecht auf dieses Königreich habe. Unser Vater …“

„Oh bitte, erspar mir die Schauspielerei! Du warst immer sein Lieblingssohn, und das weißt du auch sehr gut, Azhar. Der Erstgeborene, der Bevorzugte. Immer. Nichts, was ich je tat, war ihm gut genug.“

Sein Neid war schrecklich vertraut. Azhar hatte fast vergessen, wie gereizt Kamal reagierte, wenn etwas nicht nach seinem Willen lief. Diesen Wesenszug hatte er mit ihrem Vater gemeinsam. Auch das hatte sich offenkundig nicht geändert. Seine Worte jedoch …

„Du weißt sehr wohl, dass dieser Vorwurf völlig haltlos ist“, sagte Azhar. „Als ich ging, hat er mir verboten, je wiederzukommen. ‚Wenn du dich mir widersetzt und jetzt gehst, gehst du für immer. Diese Entscheidung ist unwiderruflich‘ waren seine Worte. Sie haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.“

„Was hätte er auch sonst sagen sollen, da du doch fest entschlossen warst, ihm den Gehorsam zu verweigern?“

Azhars Miene verhärtete sich. „Er hat mir keine andere Wahl gelassen. Es gibt eine Welt außerhalb von Qaryma, und die wollte ich erkunden, um mir ein Bild davon zu machen. Unzählige Male habe ich ihn um Erlaubnis gebeten.“

„Und je mehr du darum gebeten hast, desto entschiedener hat er dich abgewiesen und umso entschlossener wurdest du, dich ihm zu widersetzen. In diesem Sinn warst du sein Ebenbild“, sagte Kamal. „Störrisch, entschlossen, jedem den eigenen Willen aufzuzwingen und keine andere Meinung als die eigene gelten zu lassen. Wie ironisch, dass der Mann, der behauptet hat, er wolle nie König werden, nun einen König abgibt, der unserem Vater bis aufs Haar gleicht.“

In dieser Hinsicht irrte sich Kamal. Azhar hatte die Krone nie gewollt. Er war nur deshalb gekommen, um dies unter Beweis zu stellen. Obwohl er wusste, dass Kamal ihn absichtlich provozierte, bot das Gespräch die perfekte Gelegenheit, um seinen Bruder aus seiner leidvollen Ungewissheit zu erlösen. Allerdings bestärkte Kamals Verhalten Azhar nur in seiner Entscheidung, seinen Bruder noch eine Weile im Dunkeln zu lassen. Im Gegensatz zu ihm hatte sich Kamal dem Willen ihres Vaters stets gebeugt, und wie es den Anschein hatte, ganz ohne jeglichen Ingrimm.

„Um auf den Punkt zurückzukommen“, sagte Azhar. „Der Brief war eine große Überraschung. Als ich ging …“

„Ich habe nie verstanden, warum du überhaupt wegwolltest, Azhar“, fiel ihm sein Bruder ins Wort. „Alles, was du dir wünschen kannst, gibt es hier. Dennoch konntest du dir den Sand von Qaryma nicht schnell genug von den Füßen streifen, nicht wahr?“

„Ich hatte nie vor, für immer zu gehen. Hätte er mir die Erlaubnis gegeben, vor meiner Volljährigkeit zu reisen, hätte ich jegliche Bedingungen akzeptiert, die er mir bei meiner Rückkehr auferlegt hätte. Aber er verweigerte mir die Erlaubnis und zwang mich, bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag zu warten. Danach konnte er mir nichts mehr vorschreiben und mich auch nicht mehr daran hindern, mich auf die Reise zu begeben. Stattdessen hat er mir dann die Rückkehr verboten. Als ich ging, stellte unser Vater unmissverständlich klar, dass der Preis für meine Wanderlust ein lebenslanges Exil sein würde.“

Kamal schnaubte. „Das hat er doch nur aus Verzweiflung gesagt, damit du hierbleibst. Er hat die Hoffnung nie aufgegeben, dass du auf Knien zu ihm zurückgekrochen kommst und um Vergebung bittest. Man hätte meinen sollen, dass er froh darüber gewesen wäre, einen zweiten Sohn zu haben, dem er den Thron vermachen konnte. Einen Sohn, der sich im Gegensatz zu seinem Erstgeborenen gehorsam und respektvoll zeigte und mit Freuden die Regentschaft übernommen hätte. Aber nein, er wollte dich. Immer ging es nur um dich. Mir hat er es lediglich überlassen, dich nach seinem Tod zurückzuholen. Noch dazu hat er den Rat damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass ich seinem Wunsch auch ganz sicher nachkomme. Deutlicher hätte er seine Verachtung für mich gar nicht zum Ausdruck bringen können.“

„Wenn dem so ist, warum hat er darauf bestanden, dass der Brief erst nach seinem Tod abgeschickt wurde? Er hat dich zum Regenten ernannt. Warum hat er mich nicht vorher herbeizitiert, damit ich seinen Platz einnehme?“

„Zehn Jahre, Azhar. Zehn Jahre ohne ein einziges Wort von dir!“, stieß Kamal verbittert aus. „Vergiss nicht, du hast uns allen klargemacht, dass du zu seinen Lebzeiten niemals zurückkehren würdest.“

„Er hat gewusst, dass ich es nicht so weit kommen lassen wollte. Er konnte mich zu Lebzeiten nicht dazu bringen, dass ich mich ihm füge. Dieser Brief war sein Versuch, mir noch aus dem Grab heraus, seinen Willen aufzuzwingen.“

„Und wie es aussieht, ist es ihm gelungen“, sagte Kamal schadenfroh. „Unser Vater war ebenso launisch wie nachtragend. Vielleicht wollte er dich dafür bestrafen, dass du Qaryma den Rücken und vielmehr noch ihm den Rücken gekehrt hast, indem er dir keine Möglichkeit zur Versöhnung ließ. Nun ist es dafür zu spät, und du wirst mit dieser Schuld, die du dir auf dein Gewissen geladen hast, leben müssen. Armer Azhar.“

Wut über den sarkastischen Ton seines Bruders kämpfte gegen das Bedauern an, das er verspürte. Doch sein Stolz hielt beides fest unter Verschluss. „Mich verlangt es nicht nach Versöhnung, ich habe kein Verbrechen begangen“, entgegnete Azhar schroff und stand auf. „Du treibst es zu weit, Bruder.“

„Verzeih mir.“ Kamal fiel auf die Knie, und Azhar hielt ihn nicht davon ab. „Die letzte Zeit war nicht leicht für mich. Ich habe versucht, deine Interessen zu wahren, aber ich wusste ja nicht, wann du kommen würdest und ob du überhaupt kommen würdest.“

„Das war nachlässig von mir. Ich hätte dir längst danken sollen, dass du meine Aufgaben übernommen und dich um das Königreich gekümmert hast“, sagte Azhar versöhnlich und gebot Kamal aufzustehen.

„Deine lauwarmen Worte sind der einzige Dank, den ich je erhalten werde“, antwortete sein Bruder. „Dir ist sicher nicht entgangen, wie erfreut die Leute über deine Ankunft waren.“

Er hatte sich tatsächlich sehr bemüht, dies nicht zu bemerken. Azhar winkte ab. „Eine schlichte Respektsbezeugung. Nicht mehr.“

„Sie können deine Krönung kaum erwarten.“

„Weil eine Krönung eine große Feier mit sich bringt“, erwiderte Azhar trocken. „Gut Ding will Weile haben. Ich bin gerade erst angekommen.“

„Aber solange du nicht gekrönt bist, kannst du gewisse Privilegien als König nicht wahrnehmen. Die Befugnisse, die mir als Regent verliehen wurden …“

„… kannst du gewiss noch eine Weile behalten, dessen bin ich mir sicher. Du bleibst schließlich noch der Regent.“

„Natürlich, wenn es dein Wunsch ist, aber … Ich hab angenommen, dass du die Regentschaft sofort übernimmst.“ Kamal musterte ihn verwirrt.

Azhar wusste selbst nicht genau, was er eigentlich bezweckte, außer dass er Zeit schinden wollte. Er drehte sich zum Fenster und betrachtete den Brunnen im Hof. Im Palast gab es fünfundzwanzig davon. Er hatte sie mal gezählt. Seltsam, dass ihm eine solch nutzlose Einzelheit im Gedächtnis haften geblieben war. Seine Reise war von einem gewissen Drang bestimmt worden, dem Bedürfnis, endlich die Fesseln zu zerschneiden, die ihn an diesen Ort banden. Doch bei seiner Ankunft war dieses drängende Bedürfnis verschwunden. Er hatte keinen Zweifel an seinem zukünftigen Weg, aber er musste sich noch überlegen, wie er ihn am besten beschreiten sollte.

Dazu brauchte er jedoch Zeit, damit er sich davon überzeugen konnte, dass Kamal als König geeignet war. Falls nicht, brauchte er wiederum Zeit, um ihn zu einem König zu formen. „Ich brauche Zeit“, sprach Azhar seine Gedanken aus und drehte sich zu seinem Bruder um. „Ob du es glaubst oder nicht, es kam für mich unerwartet, dass ich mein Erbe antreten soll, und ich bin diesem Land lange ferngeblieben. Daher muss die Krönung warten. Ich brauche Zeit, um mich mit allem wieder vertraut zu machen. Inzwischen wirst du die Regentschaft weiterhin übernehmen, und ich werde mir überlegen, wie die Machtübergabe am besten stattfinden sollte.“

„Und wie lange soll diese Übergangszeit andauern?“

Er hatte keine Ahnung. „Morgen werde ich dich und den Rat über meine Pläne informieren.“

„Und die Frau?“

Julia. Der Gedanke an sie war so erfrischend wie das Eintauchen in das kühle klare Wasser einer Oase. Julia, seine Verbindung zur Außenwelt, sein Prüfstein. Gestern hatte sie ihn nach dem Schreck über seine Enthüllung und erschöpft von der anstrengenden Tagesreise an seinem Ärmel festgehalten und ihn gebeten, über all dem Trubel seiner Rückkehr nicht zu vergessen, dass er ihr helfen wollte. Als ob er das vergessen könnte.

„Madam Trevelyan ist eine Botanikerin aus England.“ Genauer gesagt aus Cornwall, dachte er.

„Was bedeutet sie dir?“

„Ich hab sie allein in der Zazim-Oase angetroffen. Ihr Dragoman und seine Männer haben sie in der Nacht ausgeraubt und ihrem Schicksal überlassen.“

„Diese dummen Ausländer! Die Wüste ist kein Ort für eine alleinreisende Frau. Was hat sie sich dabei gedacht?!“

Azhar ballte die Hände zu Fäusten. „Ich mache mir mehr Sorgen um deine Gedanken. In einer unserer größten Oasen wurde eine schändliche Tat begangen. Diese räuberischen Bastarde hätten es gar nicht wagen dürfen, unsere Landesgrenze zu übertreten, ganz zu schweigen davon, unser Land in dieser infamen Weise zu entehren.“

Kamals Wangen röteten sich. „Ein Königreich ohne König ist geschwächt, da ist es doch kein Wunder, wenn es zu solchen Verbrechen kommt. Wie soll ich auch ohne Krone Respekt verlangen?“

Verdien ihn dir, dachte Azhar grimmig. Respekt kann man nicht einfordern. Er gewann jedoch nichts dabei, seinen Bruder noch mehr gegen sich aufzubringen. „Ich konnte Madam Trevelyan selbstverständlich nicht allein, ohne Nahrung und Führer zurücklassen, daher hab ich sie mitgebracht. Jeder Ehrenmann hätte das Gleiche getan.“

Kamal zuckte mit den Schultern. „Wie du schon sagtest, die Zazim-Oase ist eine unserer größten Oasen und bei Reisenden beliebt für eine Rast. Bald genug wäre jemand gekommen, der sich um sie hätte kümmern können. Ich hätte gedacht, dass du als künftiger König von Qaryma dringendere Angelegenheiten zu erledigen hättest.“

„Als zukünftiger König von Qaryma bin ich auch für das Wohlergehen und die Sicherheit der Menschen in diesem Königreich verantwortlich, ob sie nun Einheimische oder Gäste sind.“ Plötzlich war Azhar Kamals Gesellschaft leid, und er klatschte laut in die Hände. Sofort wurde die Tür geöffnet. „Bis morgen, Bruder“, sagte er und ließ Kamal keine andere Wahl, als sich zu verbeugen und zu gehen. Azhar lächelte in sich hinein. Seine privilegierte Stellung hatte auch Vorteile.

Julia hatte in den ihr zugewiesenen luxuriösen Gemächern ein heißes Bad genommen. Danach war sie auf das riesige Bett gesunken und sofort in einen erholsamen Schlaf gefallen. Den darauffolgenden Morgen verbrachte sie damit, auf eine Nachricht von Azhar zu warten. Sie wusste, dass er sich um wichtige Dinge kümmern musste, doch er hatte versprochen, sie nicht zu vergessen. Deshalb war sie erleichtert und erfreut, als ein Dienstbote ins Zimmer kam und ihr schweigend bedeutete, ihr zu folgen. Vielleicht wollte er mit ihr zum Markt gehen, damit sie die nötigen Vorräte einkaufen konnte. Je eher sie mit ihrer Arbeit beginnen konnte, desto besser.

Sie folgte dem Dienstboten durch zahlreiche marmorgeflieste Korridore, die von gläsernen Deckenlichtern erhellt wurden. Der Mann machte riesige schnelle Schritte und zwang sie, fast zu rennen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Durch die offenen Bogengänge, an denen sie vorbeikamen, konnte sie gedämpfte Stimmen hören. Vor mehreren düster wirkenden, schweren Türen standen Wachen in schlichten weißen Tuniken und Hosen. Krummsäbel hingen an ihren Ledergürteln. Was bewachten sie – oder wen? Wie viele Menschen gab es in diesem Palast, dieser Stadt innerhalb der Stadt? Und wohin führte sie dieser Mann? Wen sollte sie treffen? Völlig orientierungslos folgte sie ihm um eine weitere Ecke in einen Flur, der vor einer der riesigen bewachten Türen endete.

„Wo sind wir hier?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Selbst wenn der Mann sie verstand, würde er ihr nicht antworten. Er wich bereits zurück, und der Wachmann vor der Tür winkte sie näher, mit einem Ausdruck im Gesicht, der keinen Widerspruch duldete. Tief durchatmend trat sie an ihm vorbei in das Zimmer.

Bloß war es kein Zimmer. Sie befand sich auf einer niedrigen Terrasse, die zu einem der schönsten Gärten führte, die sie je erblickt hatte. Zypressen standen in Gruppen und spendeten Schatten. Mit Mosaiken gepflasterte Wege schlängelten sich an gepflegten Beeten vorbei, die in allen Farben leuchteten und ein exotisches Blütenfeuerwerk entfachten. Große Marmorsäulen reihten sich vor einem großen Teich mit bunten Fischen. Wasser sprudelte aus den Mündern von Steindelfinen im Brunnen am hinteren Ende. Ihre Sinne waren überwältigt von Gerüchen und Geräuschen. In einer anderen Ecke speiste ein weiterer Brunnen ein wie eine Oase anmutendes Beet mit Kakteen und anderen Sukkulenten, von denen Julia manche noch nie zuvor gesehen hatte. Ein weiterer gewundener Weg führte sie zu einem Tor, hinter dem sich ein blühender Rosengarten erstreckte. Wie Sterne am Nachthimmel ragten die Blüten empor, so viel größer und leuchtender als jene, die sie von zu Hause kannte. Unter ihren Füßen konnte sie das Gurgeln des komplexen unterirdischen Bewässerungssystems spüren. Als sie um die nächste Ecke bot, stand sie in einem Hain mit Orangen-, Zitronen- und Limettenbäumen. Weitere Marmorsäulen und rustikale Brücken überspannten die Flüsse des Bewässerungssystems, die an der Oberfläche plätscherten. Schließlich erreichte sie einen kleinen Pavillon, der an einen griechischen Tempel erinnerte. Im Eingang stand Azhar. Er wirkte wie ein Gott, der gerade vom Berg Olymp herabgestiegen war.

Über der weiten Hose trug er einen knielangen dunkelblauen Kaftan, der am Kragen mit schwarzen Schnüren geschlossen war. Die Bänder betonten seine breiten Schultern und die muskulöse Brust. Er trug keinen Turban und im Sonnenlicht schimmerte sein pechschwarzes Haar wie Seide. Er war wirklich ein außergewöhnlich gut aussehender Mann.

Prinz. Kein Mann, ein Prinz. Kronprinz sogar. Diese bedeutende Einzelheit durfte sie nicht vergessen. Rasch sank sie in einen Knicks. „Eure Hoheit.“

„Azhar reicht völlig, wenn wir allein sind, Julia.“

Ermutigt durch sein Lächeln, gab sie dem Reiz des einladenden Schattens nach und trat zu ihm in den Pavillon. „Ich hab noch nie einen solch wundervollen Garten gesehen. Das schiere Ausmaß der verschiedenen Pflanzenarten raubt mir den Atem. Das Bewässerungssystem muss sehr ausgeklügelt sein, damit solch unterschiedliche Gattungen wie Rosen und Sukkulenten in dieser erbarmungslosen Hitze einträchtig nebeneinander wachsen können. Mein Vater wäre erstaunt und sicher auch neidisch.“

„Ah ja, ich erinnere mich daran, dass Sie erzählten, ihr Vater sei Botaniker und ein gutmütiger Despot, wie Sie sich ausdrückten.“

„Sie müssen mich für höchst respektlos halten. Ich war ein wenig überreizt und auch erschöpft.“

„Und das aus gutem Grund. Ich kenne keine Frau, die nach diesen Geschehnissen nicht erschöpft gewesen wäre. Bitte nehmen Sie doch Platz und trinken Sie mit mir eine Tasse Pfefferminztee.“

„Danke.“ Sie setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Er setzte sich ebenfalls. „Ich fühle mich geehrt, dass Sie die Zeit gefunden haben, mir eine Audienz zu gewähren.“

„Sie gehören nicht zu meinen Untertanen, Julia, das ist keine Audienz. Ich möchte Ihnen jedoch versichern, dass ich das Versprechen, das ich Ihnen gegeben habe, nicht vergessen habe.“

Weil sie sich an seinen Ärmel gehängt und ihn angebettelt hatte, sie nicht zu vergessen. Bei dem Gedanken daran färbten sich ihre Wangen schamrot. „Ich habe Sie vor Ihren Untertanen in Verlegenheit gebracht. Als ich heute Morgen aufwachte, war ich entsetzt über mein unziemliches Verhalten.“

„Ich hätte Sie vorwarnen sollen, was mich in Al-Qaryma erwartet. Also hab ich mir Ihr Verhalten selbst zuzuschreiben.“

„Ein wenig“, stimmte sie zu. „Aber ernsthaft, Azhar, es war offensichtlich, dass Ihnen die Heimkehr nicht leichtfiel, auch ohne dass sie einer anstrengenden Engländerin Rechenschaft ablegen.“

„Einer kornischen Engländerin“, sagte er schmunzelnd. „Wie Sie sehen, erinnere ich mich an Ihre Worte.“

Wieder einmal wechselte er das Thema. Julia zögerte kurz, aber vielleicht bekam sie keine Gelegenheit mehr, ungestört mit ihm zu reden, daher fuhr sie fort: „Und ich erinnere mich deutlich daran, dass Sie erwähnten, Sie hätten sich geschworen, nie wieder nach Qaryma zurückzukehren. Und doch sind Sie hier.“

Azhar schüttelte den Kopf. „Das stimmt, aber nicht aus freien Stücken. Als ich Qaryma verließ, dachte ich, es sei für immer. Wie es aussieht, hatte mein Vater jedoch andere Vorstellungen. Trotz unserer Differenzen hat er mich kurz vor seinem Tod vor drei Monaten als Thronerben auserkoren.“

„Das meinten Sie gestern also, als Sie sagten, Sie seien auf Wunsch eines Toten hier.“ Aus einem Impuls heraus kniete Julia neben ihm nieder und ergriff seine Hand. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Die Rückkehr unter solch tragischen Umständen muss Ihnen großen Kummer bereiten.“

Azhar machte sich steif und entzog ihr seine Hand. „Mein Vater und ich hatten uns entfremdet. Ich brauche Ihr Mitleid nicht.“

Mit brennenden Wangen erhob sich Julia. „Das ist kein Mitleid, sondern aufrichtige Anteilnahme. Gleich, welche Differenzen auch zwischen Ihnen und Ihrem Vater herrschten, dieser Palast, die Stadt, das ganze Königreich muss voller Erinnerungen für Sie sein. Ich an Ihrer Stelle würde es als äußerst schmerzlich empfinden, an einen Ort zurückzukehren, der so viele Erinnerungen weckt, aber ich bin ja auch nur eine einfache Sterbliche. Vermutlich sind Prinzen gegen solche menschlichen Gefühle immun.“

Sie wartete auf den unvermeidlichen Tadel, doch als Azhar aufstand, ging er weder schweigend fort noch befahl er ihr, den Garten auf der Stelle zu verlassen. „Gestern bei unserer Ankunft habe ich halb erwartet, dass mein Vater am Tor erscheint und mir den Eintritt verwehrt“, gestand er. „Und als ich dann seinen Platz beim Abendmahl einnehmen sollte, musste ich mich zwingen, nicht insgeheim nach ihm Ausschau zu halten. Er hatte eine solch starke Präsenz, weshalb ich kaum glauben kann, dass er nicht länger unter uns weilt.“ Er packte sie am Arm und drehte sie zu sich. „Obwohl er erst vor drei Monaten gestorben ist, war er für mich schon seit zehn Jahren tot, doch die Erinnerungen, die Geister der Vergangenheit lauern überall. Damit haben Sie recht. Sie sind … Ich finde das beunruhigend.“

„Du liebe Güte! Ein Prinz, der menschliche Gefühle hegt und nicht dagegen gefeit ist.“

Azhar lächelte. „Nur gefeit gegenüber gewissen Gefühlen. Ist es Ihnen möglich, die Tatsache zu vergessen, dass ich ein Prinz bin?“

„Sie sind aber nicht nur ein Prinz, sondern sogar ein Kronprinz.“ Julia runzelte die Stirn. „Und ein Scheich, haben Sie gesagt. Ihr Bruder, ist er auch Prinz und Scheich? Das ist für mich sehr verwirrend.“

„In meinen Augen sind die Titel des britischen Adels weitaus verwirrender“, sagte Azhar. „Scheich ist lediglich ein Ehrentitel, der einem Mann von hoher Stellung und Einfluss verliehen wird. Als Söhne des Königs sind Kamal und ich Prinzen. Als Erstgeborener bin ich Kronprinz. Und da mein Vater ihn ausgewählt hat, um seinen Willen zu vollstrecken, als er selbst nicht mehr dazu in der Lage war, ist Kamal auch Regent.“

„Ich soll also vergessen, dass Sie ein Scheich, Prinz und Kronprinz sind, der bald König wird? Das ist ganz schön viel verlangt“, meinte Julia bedauernd. „Werde ich meine Meinung aussprechen dürfen, ohne Sorge haben zu müssen, in ein Verlies geworfen zu werden?“

Azhars Lächeln wurde breiter. „Ich denke, nicht einmal die Aussicht, in den Kerker geworfen zu werden, könnte Sie davon abhalten, Ihre Meinung auszusprechen. Sie sind eine höchst außergewöhnliche Frau.“

„Erst ungewöhnlich und jetzt sogar außergewöhnlich. Ich fühle mich geschmeichelt.“

„Ehrlich gesagt wollte ich Ihnen gar nicht schmeicheln. Ich bin noch nie zuvor jemandem wie Ihnen begegnet.“

„Wenn Sie noch mehr solche Nicht-Komplimente aussprechen, wird mir das ganze Lob noch zu Kopf steigen.“

„Für eine Frau, die ganz allein um den halben Globus gereist und betäubt, ausgeraubt und von einem Fremden in ein abgelegenes Königreich verschleppt worden ist, haben Sie eine bemerkenswert schlechte Meinung von sich. Ich zolle Ihnen höchsten Respekt, dass sie sich dennoch einer Aufgabe widmen, die jeden anderen – ob Mann oder Frau – in die Flucht geschlagen hätte.“

„Denken Sie nicht eher, dass mein Gatte sehr viel von mir erwartet hat?“

„Ihr Gatte hat Ihnen gewiss sehr viel zugetraut. Ob er jedoch durchdacht hat, was er auf dem Sterbebett von Ihnen verlangt hat …“

„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Mir ist bewusst, dass ich mich gestern Abend unziemlich verhalten habe, weil ich Sie am Ärmel festgehalten habe und … und … Nun, ich weiß, dass Ihre Zeit kostbar ist. Ich brauche auch nur ein paar Kamele und einen Führer, und dann falle ich Ihnen nicht länger zur Last. Wenn Sie so freundlich wären, mir ein paar meiner Geldscheine in die hiesige Währung zu wechseln, dann kann ich alles Nötige einkaufen. Ich habe allerdings nur britische Pfund bei mir, aber als Händler können Sie diese sicher als Zahlungsmittel bei Ihren Geschäften verwenden. Ich brauche auch Zeichenmaterial und Aquarellfarben. Und Kleidung. Ich bin fest entschlossen, mir geeignetere Kleidung anzuschaffen. Ich denke jedoch, dass ich sämtliche Einkäufe an einem Tag, höchstens zwei, erledigen kann, daher …“ Sie brach ab, denn sie hatte das Gefühl, dass sie zu viel plapperte. „Daher“, wiederholte sie lahm, „werde ich Ihnen nicht mehr lange zur Last fallen.“

„Sie sind mir keine Last. Ich habe überhaupt keine Sorge, dass Sie unsere Gastfreundschaft ausnutzen werden. Im Gegenteil, Sie sind mir in diesem Palast willkommen, solange Sie hierbleiben möchten.“

„Danke, aber bleiben kann ich nicht. Ich muss von vorn anfangen – Pflanzen suchen und neue Zeichnungen davon anfertigen. Und dann ist da noch die Sache mit meinen Reisedokumenten.“

„Um Ihre Reisedokumente müssen Sie sich nicht sorgen. Ganz offensichtlich verfüge ich über die nötige Befugnis, Ihnen die Erlaubnis zu geben, in diesem Land zu bleiben, solange Sie es wünschen.“

„Ja, ganz offensichtlich.“ Julia verdrehte die Augen. „Wie konnte ich das nur vergessen?!“

„Sie haben es vergessen.“ Azhars Gesicht erhellte ein Strahlen. „Gut! Ich hoffe, Sie können meinen Status auch weiterhin vergessen. Wäre Ihnen das möglich, was meinen Sie? Nein, antworten Sie noch nicht. Kommen Sie erst mit. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten.“

Zwar hatte Azhar keinen Plan im Sinn gehabt, als er sie zu sich in den Garten bestellte, doch die Idee, die in seinem Kopf Gestalt annahm, hatte durchaus ihre Vorzüge. Azhar führte Julia vom Pavillon auf einen der sich durch den Limettenhain schlängelnden Pfade. „Das ist der größte der Palastgärten; es gibt noch weitere. Mit dem, wie Sie es nennen, ausgeklügelten Bewässerungssystem werden zahlreiche Pflanzen versorgt, die typisch für diesen Teil der Wüste sind. Ich verfüge zwar nicht über Ihre Kenntnisse, aber ich könnte ein Gespräch mit unserem Obergärtner arrangieren.“

„Ich spreche kein Arabisch, Azhar, und …“

Er winkte ab. „Ich kann Ihnen auch einen Dolmetscher besorgen.“

Sie erreichten die Gartenmauer und schauten auf das die Stadt umgebende Grün unter ihnen herab. Der Anblick war noch atemberaubender, als Azhar ihn in Erinnerung hatte. Als er sich zu Julia umdrehte, stellte er fest, dass sich seine Bewunderung auch in ihrem Gesicht spiegelte.

Türkisblaues Wasser, smaragdgrüne Büsche, sonnengelbe Felder und gepflegte Obstplantagen erstreckten sich vor ihnen bis zu einer unsichtbaren Grenze, hinter der sich wie aus dem Nichts die Wüste ausbreitete. Im späten Morgenlicht glitzerten die Sandmassen hellgolden und silbrig, geschmeidig und glatt, ehe sie sich zu imposanten Dünen und felsigen Außenposten erhoben.

„Es ist schrecklich schön“, murmelte Julia.

„Schrecklich?“

„Die Natur ist wunderschön, kann aber auch tödlich sein. Es ist, als ob man an einem Bergsee steht, der blau und ruhig erscheint, doch unter der Oberfläche dunkel und gefährlich ist. Man verspürt das Verlangen, in die Fluten einzutauchen, obwohl man weiß, dass die Kälte tödlich sein kann. Diese Wüste – Ihre Wüste – weckt in mir dasselbe Gefühl. Ich möchte am liebsten hineinlaufen, immer weiter. Vermutlich halten Sie mich jetzt für albern.“

„Nein. So hätte ich es zwar nicht ausgedrückt, aber Ihre Beschreibung trifft genau die Gefühle, die ich für Qaryma verspüre. Schrecklich schön.“

„Sie haben Ihre Heimat vermisst, nicht wahr? Trotz allem, was Sie sagten, glaube ich, dass Sie Ihr Land sehr vermisst haben.“

Es stimmte, dass ihm dieses Land und seine Leute einmal sehr am Herzen gelegen hatten. Er hatte sein Schicksal auch niemals infrage gestellt. Bis er gegangen war und es in die eigenen Hände genommen hatte. Er hatte seinem Land den Rücken gekehrt und sein Herz gegen alle Erinnerungen gestählt. Es wäre dumm gewesen, diesen hart erarbeiteten Schutzschild nun fallen zu lassen. Diesen Schild, der seine ebenfalls hart erworbene Freiheit schützte. „Nein“, sagte Azhar nachdrücklich. „Ich habe es nicht vermisst.“

Julia musterte ihn zweifelnd. „Das kann ich nur schwer glauben. Sehen Sie sich all das an. Es ist so schön und gehört Ihnen.“

„Ich habe viele Orte gesehen, die mindestens genauso schön sind.“

„Ich auch, aber nur Cornwall ist meine Heimat, Azhar. Was ist so falsch daran, zuzugeben, dass man sich dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, verbunden fühlt? Immerhin ist er ein untrennbarer Teil von uns.“

Ihre Worte bereiteten ihm Unbehagen, weil sie seine Gedanken spiegelten. „Ich habe keine Heimat“, erwiderte er störrisch.

„Nun schon, Euer Hoheit.“

Sowohl ihr Ton wie auch ihre Worte ärgerten ihn. „Wie können Sie es wagen …“

„… einem Prinzen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen?“ Julia verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn herausfordernd an. „Na los, holen Sie die Wachen, und lassen Sie mich wegen Hochverrats verhaften. Aber seien Sie gewiss, ich werde nicht zögern, mich damit zu verteidigen, dass ich lediglich Ihren königlichen Befehl befolgt und vergessen habe, dass Sie ein Prinz sind. Vor Gericht wird der Fall abgewiesen werden.“

Wieder einmal brachte sie Azhar zum Lachen. „Das bezweifle ich, da das Gericht mir Rechenschaft schuldig ist. Aber ich zolle Ihnen Respekt, Madam, weil Sie meinen königlichen Befehl so wirkungsvoll umgesetzt haben.“

Julia deutete einen Knicks an. „Danke.“

Ihre Worte nahm sie jedoch nicht zurück, und sie entschuldigte sich auch nicht dafür. So schmerzlich manche ihrer Ansichten auch sein mochten, er konnte darauf vertrauen, dass sie ihm immer offen die Meinung sagen würde. Und genau das wünschte er sich von ihr. „Wie lange würde es wohl dauern, wenn Sie Ihre Arbeit hier beenden würden?“

Sie schüttelte den Kopf, erstaunt über den plötzlichen Themenwechsel. „Ich weiß nicht. Vielleicht einen Monat, wenn ich geeignete Pflanzen finde.“

Einen Monat. Ein Monat war mehr als genug, um jegliche Bedenken auszuräumen. Kamal mangelte es an Erfahrung, vielleicht auch an Urteilsvermögen. Er war schwach, immer schon gewesen, was daran lag, dass niemand je von ihm erwartet hatte, Stärke zu zeigen. Im Lauf des Monats hätte Azhar gewiss reichlich Gelegenheit, sich über das Königreich und seinen Bruder ein Bild zu machen, etwaige Schwächen auszumerzen und Kamal Führung und Rat zu geben. Dadurch konnte er Qaryma fähigen Händen überlassen und mit reinem Gewissen gehen.

Es bereitete ihm jedoch Sorge, sein Handelsimperium so lange sich selbst zu überlassen. Sein Verwalter kümmerte sich zwar momentan um die Geschäfte, aber er hatte dem Mann keine umfassenden Vollmachten gegeben. Zudem liebte Azhar den Schlagabtausch beim Feilschen und Handeln. Er mochte die Risiken und Gefahren, denen er sich auf seinen Handelsreisen stellen musste. Er genoss das Hochgefühl, wenn ein Handel sich als erfolgreich erwies, und sogar jene Geschäfte, die nicht den gewünschten Erfolg brachten, weil sie ihn vor neue Herausforderungen stellten. All das gefiel ihm, ein Leben auf Reisen, das allein von seinem Ehrgeiz bestimmt wurde. Er würde es vermissen, aber einen Monat würde er es im Palast schon aushalten. Einen Monat, mehr brauchte es nicht, dessen war er sich sicher. Dann würde er sich seine Freiheit zurückholen, dem goldenen Käfig entfliehen und dabei auch Julia helfen, ihre Freiheit zu gewinnen. Ein ausgezeichneter Plan.

„Ein Monat“, sagte Azhar und lächelte sie an. „Ausgezeichnet. Dann sind wir uns einig?“

„Einig worin?“, fragte sie verdutzt.

Azhar traf gern schnelle Entscheidungen. Das war eines seiner Erfolgsgeheimnisse. Dennoch hatte ihm sein Bauchgefühl an diesem Morgen geraten, nichts zu überstürzen. Die Erleichterung darüber, dass er einen Plan gefasst hatte, wie er seine Ziele erreichen konnte, war enorm. Und Julia spielte eine Rolle in diesem Plan. In seiner Begeisterung hatte er allerdings vergessen, ihr die Sache zu erklären. „Dass Sie als mein geschätzter Gast hier weilen“, entgegnete er. „Mit ungehindertem Zugang zu den Gärten und dem Königreich sollten Sie in der Lage sein, die benötigten Pflanzen zu finden und Zeichnungen davon anzufertigen. Und dass Sie mir erlauben, Ihr persönlicher Führer zu sein.“

Julia machte vor Staunen große Augen. „Aber wie können Sie … ich meine, sind Sie nicht viel zu beschäftigt damit, Ihre königlichen Pflichten zu erfüllen? Die Leute rechnen gewiss mit …“

„Ich überlasse Kamal einstweilen noch die Regierungsgeschäfte. Wenn ich Sie durch Qaryma begleite, kann ich mir einen Eindruck von meinem Königreich und den Menschen verschaffen, während Sie die Flora dokumentieren.“

„Das ist ein sehr großzügiges und, wie ich sagen muss, höchst unerwartetes Angebot, Azhar. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum Sie mir so viel Zeit widmen wollen, da Sie sich doch sicher um viel wichtigere Angelegenheiten kümmern müssen.“

Und das meinte sie ernst. Was war ihr Gatte bloß für ein Narr gewesen, dass er diese wundervolle Frau so wenig wertgeschätzt hatte. „Es wird eine sehr nützliche, um nicht zu sagen erhellende Maßnahme sein, mein … dieses Königreich durch Ihre Augen zu sehen. Ich bitte Sie im Gegenzug lediglich darum, Ihre Ansichten mit mir in Ihrer unnachahmlichen unverblümten Art zu teilen.“

„Selbst wenn sie nicht vorteilhaft sein sollten?“

„Vor allem, wenn sie nicht vorteilhaft sein sollten.“ Sie runzelte wieder die Stirn. Er wünschte, sie würde sich nicht so sehr anstrengen, seine Worte zu deuten. Es gab einige Fragen, die er lieber nicht beantworten wollte. „Sind wir nun im Geschäft, Julia?“

Julia zögerte noch immer. „Mir erscheint, dass Sie ein ziemlich einseitiges Geschäft eingehen, und das, obwohl Sie doch so ein erfolgreicher Händler sind. Soweit ich das erkennen kann, liegt der Gewinn ganz auf meiner Seite.“

„Nicht, wenn mein Gewinn aus Ihrer erfrischenden Gesellschaft besteht.“

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich meine es ernst. Ihnen ist doch bewusst, dass Sie mir weitaus mehr anbieten als das, was ich mit Hanif als Führer hätte erreichen können? Wenn ich mich nicht täusche, liegt diese Wüste südlicher als je ein westlicher Botaniker gereist ist. Das wird Daniels Buch einzigartig machen.“

Dieses Ziel hatte er weder im Sinn gehabt noch scherte er sich auch nur einen Deut darum, doch er hielt seine Zunge im Zaum. „Dann können Sie sich Ihrem Versprechen mit einem besonders guten Gefühl entledigen.“

Er erntete ein strahlendes Lächeln dafür. „Sie verstehen mich wirklich. Danke, Azhar. Haben Sie vielen Dank.“ In Julias Augen trat ein vergnügtes Funkeln. „Ich bin Ihnen so dankbar, dass ich im Gegenzug gern verspreche, mich so aufrichtig, kritisch und deutlich gegenüber diesem Königreich und seinem Herrscher zu äußern, wie ich es vermag. Auf meine unnachahmliche Art, natürlich.“

4. KAPITEL

Julia rieb sich die Augen, schob die Decke zurück und setzte sich in dem Himmelbett auf. Es stand auf einem Podest in der Mitte des Zimmers und war mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Prächtige Gemälde von üppigen grünen Pflanzen, farbenprächtigen Vögeln und anderen exotischen Tieren schmückten die Wände. Das Buntglasfenster ließ ein weiches, bunt geflecktes Licht ins Zimmer. Die Farben tanzten auf dem hellen Marmorboden, der sich angenehm kühl unter ihren Füßen anfühlte. Es war noch früh, aber sie war viel zu aufgeregt, um an Schlaf zu denken, denn heute sollte sie mit Azhar den Palast zum ersten Mal wieder verlassen und sein Königreich erkunden.

Am gestrigen Abend hatte er ihr eine Nachricht zukommen lassen und darin auch noch einmal ihre vor zwei Tagen getroffene Vereinbarung bestätigt. Offenbar hatte er den Ältestenrat inzwischen von seinem Entschluss, die Regentschaft einstweilen noch seinem Bruder zu überlassen, in Kenntnis gesetzt. Sie fand es verwunderlich, dass ein so selbstbestimmter Mann wie Azhar dazu bereit war, einen anderen Entscheidungen für sich treffen zu lassen, selbst wenn dieser andere der eigene Bruder war und seit der Erkrankung des Vaters bereits auf dem Thron saß. Und dennoch … ihr erschien es merkwürdig, dass der im Sterben liegende König seinen Erben nicht früher zu sich zitiert hatte. Azhar hatte dies damit erklärt, dass sein Vater und er sich entfremdet hätten. Was wohl bedeutete, dass Azhar nicht nach Qaryma hatte zurückkehren können – oder wollen –, solange sein Vater lebte. Er hatte damit gerechnet, dass sein Vater ihn enterben und seinem Bruder das Zepter übergeben würde. Die Schlussfolgerung war nachvollziehbar. Auch im englischen Adel kam es aus unterschiedlichen Gründen vor, dass ein zweiter Sohn als Erbe eingesetzt wurde. Und Azhars Bruder? Hatte auch er angenommen, dass er König werden würde? Julia kannte zwar die Gebräuche und Gesetze von Qaryma nicht, aber sie hielt dies für wahrscheinlich, da Azhar seiner Heimat so lange ferngeblieben war.

Zehn Jahre. Inzwischen hatte sich bestimmt vieles verändert. Vermutlich tat Azhar gut daran, sich erst einmal einen Eindruck über Land und Leute zu verschaffen, bevor er die Macht übernahm. Das würde seinem Bruder zudem Zeit geben, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er zurücktreten musste. Julia verzog das Gesicht. Sie sollte sich kein Urteil über den Mann erlauben, da sie kaum mehr als ein paar Augenblicke in seiner Gesellschaft verbracht hatte, doch Kamal war ihr auf den ersten Blick unsympathisch gewesen. Sie hatte den Eindruck, dass er das Zepter nicht freiwillig abgeben würde. Die ganze Situation kam ihr vor wie ein Märchen – der attraktive Prinz, der nach zehn Jahren in der Ferne nach Hause kommt, um seinen bösen Bruder vom Thron zu stoßen. Was nicht hieß, dass Kamal böse war. Andererseits war er auch nicht besonders liebenswert.

Julia lächelte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass ihre Fantasie solche Blüten trieb. Aber sie war auch nicht daran gewöhnt, in einem Palast aufzuwachen. Noch nie zuvor auf ihren Reisen, nicht mal in Büchern, hatte sie derartigen Luxus und solch zauberhafte Schönheit erlebt. Sie öffnete die Schiebetür zum Salon. Kunstvoll gefertigte Rahmen schmückten die Fenster, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten und den Raum mit Licht durchfluteten. Es war der perfekte Platz für ihre Arbeit.

Azhar hatte ihr auf wundersame Weise Skizzenbücher, Kohlestifte, Bleistifte und Aquarellfarben beschafft und ihr bringen lassen; alles lag nun für ihre Arbeit auf dem Tisch bereit. Es war sehr freundlich von ihm gewesen, dass er sich die Zeit dafür genommen hatte, obwohl er so viel wichtigere Dinge erledigen musste. Sie hatte den Morgen mit Zeichnen im Garten verbracht und sich dann in diesen herrlichen Salon zurückgezogen, um der sengenden Nachmittagshitze zu entgehen und ihre Zeichnungen mit Farbe zu gestalten. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie war von einem Prinzen gerettet und in sein Märchenschloss gebracht worden – ihr Herzenswunsch hatte sich erfüllt! Julia lächelte. Sie fühlte sich wie im Märchen, auch wenn sie nicht gerade das Inbild einer Märchenprinzessin abgab. Azhar hingegen war sehr wohl ein Märchenprinz. Ein extrem gut aussehender, umsichtiger und fürsorglicher Märchenprinz, der sie zwar ungewöhnlich und unnachahmlich fand, aber in einem Monat schon wieder aus ihrem Leben verschwunden sein würde. Besser, sie gewöhnte sich nicht zu sehr an seine charmante Gesellschaft, sein anziehendes Lächeln und seine Art, Vertraulichkeiten aus ihr herauszulocken, die sie keinem anderen preisgeben würde.

Doch wenn sie nicht vergaß, dass sie nur einige Wochen in einer anderen Welt weilen durfte, konnte sie einen Monat lang all diesen Luxus unbeschwert genießen. Unter den bloßen Füßen spürte sie den dicken weichen Teppich, der in leuchtenden Farben gewebt war. Ein riesiges Sofa nahm die gewächshausgroße Nische vor dem Fenster ein. Es war mit Kissen und Troddeln aus goldener Seide verziert. Weitere Sitzgelegenheiten boten große Kissen und mehrere niedrige goldfarbene Stühle, die um einen Tisch herum arrangiert waren. Vor den Fenstern hingen lange weiße Vorhänge, die den Raum vor der Hitze schützten. Auch die Decke war reich geschmückt mit einem Gitterfries in Gold, Scharlachrot und Smaragdgrün.

Sie zog die Vorhänge zurück und schaute auf die Terrasse und den Hof hinaus. Der Anblick fesselte sie immer noch so sehr wie an den vorangegangenen Tagen. Unfähig, dem Reiz des frühen Morgenlichts zu widerstehen, öffnete sie die Terrassentür und trat hinaus.

Der Hof gehörte ihr ganz allein, denn er war von hohen Mauern umschlossen und nur von ihrem Zimmer aus zugänglich. Es war bereits ziemlich warm, doch die Luft schmeckte immer noch feucht und salzig. Die Sonne hing noch tief am hellblauen Himmel, über den vereinzelt dicke rosafarbene Wolken wanderten. In einer Ecke wuchs ein Zitronenbaum, eine Bank bog sich halbmondförmig um seinen Stamm. Ein langer rechteckiger Brunnen ergoss sich unterhalb der Fenster bis zur Mauer. Hohe, akkurat gestutzte Jasminsträucher reihten sich in Keramiktöpfen wie Wachposten auf einer Seite des Brunnens entlang. Als Julia mit den Fingern über die von Tau benetzten Blätter strich, hüllte sie der berauschende Duft der zarten weißen Blüten ein. Zwei Stufen führten nach unten zum Brunnen, der von schimmernden türkisen Fliesen umrahmt war. Sie hob den Saum ihres Nachtgewandes an und tauchte die Zehen in das kühle Nass. Ein angenehmes Frösteln überlief sie, als das Wasser um ihre Füße schwappte und dann bis hinauf zu ihren Waden und Knien, als sie die Stufen hinunterging. Fast hätte sie der Versuchung nachgegeben, ganz in den Brunnen einzutauchen, als ein Geräusch von der Terrasse sie aufschreckte.

Rasch watete Julia aus dem Wasser; der Saum ihres Nachthemdes klebte an ihren feuchten Knöcheln. Die Zofe senkte den Kopf, doch nicht schnell genug. Julia sah noch ihr rasch unterdrücktes Schmunzeln. „Guten Morgen, Aisha“, grüßte Julia auf Arabisch, faltete die Hände und neigte den Kopf, wie es der Brauch war.

Das Mädchen winkte sie lächelnd zum Tisch, auf dem es das Frühstück angerichtet hatte.

Shukran. Danke, Aisha“, sagte Julia. Sie setzte sich auf ein großes Sitzkissen und zwang sich zu warten, bis sie bedient wurde. Sie wusste, wenn sie sich selbst bediente, würde sie das Mädchen vor den Kopf stoßen. Aisha schenkte Kaffee aus der großen Silberkanne in eine zarte Porzellantasse. Das Gebräu war dickflüssig, tintenschwarz und süß. Es gab Kuchen mit kandierten Früchten und Nüssen, mit Puderzucker bestäubt, cremiger Joghurt mit Honig und dazu Melone, Pfirsiche und Obst, das Julia noch nie zuvor gesehen hatte. Die Früchte waren zu zarten Blüten geschnitzt und wurden mit Orangenwasser serviert.

„Esst mit Freude und bleibt gesund“, wünschte das Mädchen auf Arabisch. Julia kannte die Redewendung inzwischen und wusste, dass sie vor jeder Mahlzeit ausgesprochen wurde.

„Shukran“, sagte sie erneut und kam sich dabei völlig unzulänglich vor. In Gedanken nahm sie sich vor, ihren Wortschatz schleunigst zu erweitern. Sie kreuzte die Beine unter sich und aß mit Appetit. Hingerissen schloss sie die Augen, als der buttrige lockere Kuchen auf ihrer Zunge zerfloss. Der bittersüße Kaffee rann ihr heiß durch die Kehle und vertrieb die letzten Körnchen Schlaf. Gesättigt reinigte sie sich die Finger in einer Kupferschale mit Wasser. Rosenblüten schwammen darin und verströmten einen zarten Duft. Im selben Moment kam Aisha zurück und öffnete die Tür zum Schlafzimmer, um Julia zu bedeuten, dass es Zeit wurde, sich anzukleiden.

Das Gewand, das auf dem Bett bereitlag, gehörte ihr jedoch nicht. Statt des dicken braunen Rocks und ihrer weißen Leinenbluse erwarteten sie zarte Stoffe in leuchtenden Farben. „Für mich?“, fragte sie; Aisha nickte. Obwohl es sich nicht gehörte, ein solch großzügiges Geschenk anzunehmen, zögerte Julia nur kurz. Azhar hatte das Gewand sicher nicht selbst ausgewählt. Sie würde ihm die Kosten erstatten. Sie mochte ihm nichts schuldig sein und war auch nicht auf Almosen angewiesen, aber es wäre unhöflich gewesen, die Kleidung abzulehnen.

Das Gewand war nicht nur praktisch, sondern auch wunderschön. Der hellgrüne weiche Kamiz hatte weite Ärmel, die an den Handgelenken eng zuliefen. Darunter trug sie eine Pluderhose in derselben Farbe, und ein breiter Gürtel aus ineinander verflochtenen verschieden grünen Seidentüchern zierte ihre Hüften. Anschließend ließ Aisha sie in die Abaya schlüpfen, einen leichten Mantel, der von einem hübschen aufgestickten Perlenband zusammengehalten wurde. Zum Schluss drapierte Aisha das Kopftuch auf Julias Kopf und befestigte es mit einem bunten Seidenband. Der dazu passende Schleier war aus hauchzartem Stoff, durch den sie mühelos atmen konnte. Gelbe knöchelhohe Kalbslederschuhe mit zulaufender Spitze, die sich so federleicht anfühlten wie Halbschuhe, vervollständigten ihr Aussehen. Verwundert betrachtete Julia das exotische Geschöpf, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Sie sah aus wie eine arabische Prinzessin. Wer hätte das gedacht!

„Euch gefallen?“, fragte Aisha in gebrochenem Englisch.

„Ja, mir gefällt es sehr“, antwortete sie und drehte sich. In England hätte diese Kleidung als skandalös gegolten, obwohl sie keinerlei Haut zeigte, und sie konnte auch verstehen, warum. Das dünne Material schmiegte sich weich an ihren Körper und betonte ihre eindeutig nicht in ein Korsett gezwungenen Kurven. Aisha hatte Julias Haar mit geschickten Händen in einen langen dicken Zopf geflochten, den sie ihr über die Schulter legte, und der weiche Stoff fühlte sich auf ihrer Haut zärtlich wie eine Liebkosung an. Sie sah völlig anders aus und fühlte sich auch anders. Ein sinnliches Wesen, geschaffen für die Wüste. Auch geschaffen für einen Wüstenprinzen? Was würde Azhar von dieser neuen Julia halten? Mehrmals schon hatte er sie als außergewöhnlich und unnachahmlich bezeichnet und ihr versichert, dass er ihre Gesellschaft als angenehm empfand. In dieser der Wüste gemäßen Kleidung fühlte sich Julia zum allerersten Mal in ihrem Leben eines solchen Kompliments für würdig. Wieder drehte sie sich vor dem Spiegel. Das Kopftuch, der Schleier und ihr Zopf wirbelten mit ihr. Sie fühlte sich dekadent und tollkühn und ja, auch begehrenswert. Natürlich war das alles nur ein Bild der Fantasie, eine romantische Täuschung, aber eine, die sie herrlich ablenkte.

Ein Monat blieb ihr in dieser wundervollen Stadt, ehe sie sich wieder der Realität stellen musste. Für einen Monat würde sie sich erlauben, dieses reizvolle Wesen zu sein. Einen ganzen Monat lang würde sie die Gesellschaft des Mannes genießen, der sie zu einem neuen Menschen gemacht hatte. Was auch immer sich daraus ergeben würde. Nach einem Monat würde die Fata Morgana verblassen, und sie würde wieder Julia sein. Aber noch war es nicht so weit.

Azhar wartete auf dem Haupthof des Palastes auf Julia, umringt von einem kleinen Kreis Wachmänner. Die verschiedenen Gesten deuteten an, dass er wohl eine Reihe Befehle gab. Abgesehen von einem scharlachroten Turban, der von einem goldenen Seidenband gehalten wurde, trug er dieselbe schlichte Kleidung wie bei ihrer ersten Begegnung in der Oase. Im Gegensatz zu Kamal strahlte er eine angeborene gebieterische Aura aus und hatte es nicht nötig, seine Stellung durch auffällig prächtige Kleidung zu unterstreichen. Die Wachen schenkten ihm ihre volle Aufmerksamkeit. Eine leichte Brise ließ seinen Mantel aufwehen und gab den Blick auf den Kaftan darunter preis, der seine schlanke, muskulöse Gestalt betonte. Die Mischung von Strenge und Schönheit in seinen Zügen raubte Julia erneut den Atem. Verlegenheit stieg in ihr auf, und sie fühlte sich plötzlich unsicher in ihrer neuen Kleidung, auch, weil sie nicht wusste, wie sie ihm in Gegenwart anderer begegnen sollte. Unschlüssig blieb sie im Türbogen stehen und wartete darauf, dass er sie bemerkte. Als sein Blick auf sie fiel, entließ er die Männer mit kurzen Worten und schritt eilig zu ihr.

„Vergeben Sie mir, dass ich Sie warten ließ. Ich bin der Ansicht, dass die Palastwachen nicht effektiv genug eingesetzt werden. Manche Vorgehensweisen sind, wie ich festgestellt habe, unglaublich umständlich und lächerlich verschwenderisch. Wie es aussieht, teilen die Männer meine Meinung. Deshalb habe ich einige Veränderungen veranlasst, doch ich muss mich später genauer damit auseinandersetzen. Übrigens Veränderung …“ Azhar betrachtete sie anerkennend. „Mein Kompliment, Julia. Sie haben sich auf bemerkenswerte Weise von einer englischen Rose in eine Wüstenblume verwandelt.“ Er ergriff ihre Hand, hob sie sich an die Lippen und hauchte einen Kuss darauf. Schauer jagten ihr über den Rücken.

„Mir ist in dieser Kleidung auf jeden Fall nicht mehr so warm, und sie ist auch sehr viel bequemer“, antwortete sie, obwohl im Moment genau das Gegenteil der Fall war. „Ich bin Ihnen für Ihre Umsicht und Großzügigkeit zu Dank verpflichtet. Natürlich werde ich Ihnen die Ausgaben erstatten, sobald ich Geld wechseln konnte.“

„Natürlich.“ Azhars Ton war ebenso sachlich wie ihrer, aber seine Augen und seine entschlossene Miene sagten etwas anderes.

„Das ist mir ernst. Es gehört sich nicht, wenn ich …“

Azhars Miene verhärtete sich. „Julia, ich denke, Sie haben die Grenzen der Etikette längst überschritten, als Sie allein in die Wüste reisten, aber wenn es Sie glücklich macht, werde ich die Ausgaben notieren, die Sie mir verursachen.“

„Ich wollte Sie nicht kränken. Es tut mir leid.“

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Manchmal vergesse ich, dass die Sitten und Gebräuche in Ihrem Land sich sehr von den unseren unterscheiden.“ Azhars Miene wurde weicher. „Sie sind mir ein geschätzter Gast, Julia. Als Ihr Gastgeber ist es meine Pflicht, sicherzustellen, dass Sie jeglichen Komfort genießen und es Ihnen an nichts mangelt. Und Sie können gewiss nicht abstreiten, dass diese unangemessene englische Kleidung hier nicht sehr komfortabel für Sie gewesen ist.“

„Ich habe wie ein ausgewrungener Abwaschlappen ausgesehen, wenn ich ehrlich bin. Danke, dass Sie zu sehr Gentleman waren, um mir das in aller Deutlichkeit zu sagen.“

Azhar lachte. „Ich hab keine Ahnung, was das ist, aber selbst wenn dem so wäre, läge mir nichts ferner, als einen solchen Vergleich anzustellen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, dass dieses Gewand eindeutig eine Verbesserung zu vorher darstellt. Und wenn wir jetzt genug über Mode gesprochen haben, würde ich vorschlagen, wir reiten los, solange die Sonne noch tief am Himmel steht. Haben Sie Ihre Zeichenutensilien dabei?“

„Ja. Auch dafür möchte ich Ihnen danken, und dies gehört eindeutig auch auf meine stetig wachsende Ausgabenliste.“

„Nun, Sie werden meine Finanzen sicherlich nicht zu sehr strapazieren. Ich weiß nicht, welche Ausstattung Sie für Ihre botanischen Studien noch benötigen. Stellen Sie mir doch einfach eine Liste zusammen, dann lass ich die Sachen auf Ihr Zimmer bringen. Und jetzt sollten wir aufbrechen.“

Er ging ihr voran über den Hof, wo zwei Kamele auf sie warteten. Julia sank das Herz. Nachdem sie bereits zuvor auf ihrer Reise mehrere vergebliche Versuche unternommen hatte, auf ein Kamel zu steigen, wobei sie sich peinlich bewusst gewesen war, dass Hanif und seine Männer hinter vorgehaltener Hand über sie lachten, hatte sie es vorgezogen, auf einem der Maultiere zu reiten. Im Nachhinein war das ein Fehler gewesen, hatte es ihrem Dragoman doch ihre Unerfahrenheit verraten. Sie konnte Azhar unmöglich bitten, ihr ein Maultier zu bringen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ohne Hilfe in den hohen Sattel steigen konnte, ganz zu schweigen davon, ob sie imstande war, das Tier zu lenken.

Azhar verstaute ihre Zeichenutensilien in den Satteltaschen seines Tiers und übernahm die Zügel von seinem Dienstboten, den er danach entließ. Auf sein Schnalzen hin kniete sich das Tier hin und machte dabei dieses merkwürdige stöhnende Geräusch, das alle Kamele machten, wenn sie sich hinknieten.

„Soll ich Ihnen helfen?“, fragte er. „Es gibt einen Trick.“

„Ich weiß“, erwiderte Julia grimmig. Ihre Handflächen waren feucht, als sie sich dem anderen Kamel näherte und ein Schnalzen versuchte. Der Laut, der jedoch aus ihrem Mund kam, ähnelte leider eher dem Gackern eines leicht verängstigten Huhns. Sie wagte einen weiteren Versuch – und, oh Wunder, irgendwie musste es ihr gelungen sein, ein annähernd angemessenes Geräusch zu erzeugen, denn das Kamel ging, wenn auch widerwillig, laut murrend in die Knie. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass sie schnell aufsteigen musste, ehe das Kamel seine Meinung änderte und sie wieder herunterplumpste. Rasch versuchte sie, auf den hohen Sitz zu klettern. Im selben Moment beschloss das Kamel, ohne Rücksicht auf Azhars Fuß, den er ihm befehlend aufs Vorderbein gestellt hatte, plötzlich wieder aufzustehen.

Als das Tier die Hinterbeine streckte und Julia nach vorn fiel, zog Azhar an den Zügeln und rief ihr etwas zu. Verzweifelt klammerte sie sich an den Sattelknauf und konnte sich dadurch oben halten. Puh, das war noch einmal gut gegangen. Beim letzten Mal war der unvermeidliche zweite Versuch, sie abzuwerfen, gelungen, weil sie nicht damit gerechnet hatte. Dieses Mal war sie jedoch darauf vorbereitet. Schnell beugte sie sich nach vorn, als das Kamel unvermittelt die Vorderbeine streckte, und hielt sich fest. Dadurch konnte sie verhindern, rückwärts aus dem Sattel zu purzeln und auf ihrer Kehrseite zu landen. Da die Ehre für beide Seiten wiederhergestellt war, stand das Kamel brav still, und Julia atmete tief durch, ehe sie Azhar ein triumphierendes Lächeln schenkte, das jedoch schnell verblasste, als sie seinen grimmigen Blick bemerkte.

„Ich habe angenommen, Sie wissen, was Sie tun.“

„Nun ja, in der Theorie …“

Er fluchte leise. „In der Theorie? In der Praxis hätten Sie Ihr Leben verlieren können.“

„Unfug! Ich bin schon mehrere Male aus dem Sattel gefallen und hab mir nie etwas getan, wenn man davon absieht, dass ich ein wenig durchgeschüttelt wurde.“

Wieder fluchte er. „Sie hätten sich den Hals brechen können. Ich dachte, da Sie über einen Monat in der Wüste verbracht haben, wären Sie mit dem Aufsteigen vertraut. Hat dieser Schuft von Dragoman Ihnen denn gar nichts beigebracht? Wie um alles in der Welt sind Sie vorangekommen?“

„Ich bin auf einem Maultier geritten“, gestand Julia. „Und ehe Sie mir nun vor Augen führen, dass ich dadurch mein eigenes Verderben heraufbeschworen habe, das ist mir längst selbst klar.“

Sie senkte den Blick. Der Boden war ziemlich weit entfernt, und die Pflastersteine sahen im Gegensatz zum Wüstensand ziemlich hart und tödlich aus. Julia erschauerte. „Es tut mir leid. Wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie, dass Sie eine tote Engländerin nicht gebrauchen können.“ Der Scherz brachte ihr ein leichtes Lächeln ein.

„Eine kornische Engländerin“, ergänzte Azhar. „Aber es stimmt schon. Ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie es vermeiden würden, sich selbst umzubringen, solange Sie unter meiner Obhut stehen. Können Sie sich im Sattel halten, wenn ich Ihr Kamel führe?“

Julia wollte die Zügel verlangen, überlegte es sich dann aber anders. „Ich denke schon.“

„Falls Sie irgendwann Zweifel daran haben sollten, geben Sie mir sofort Bescheid“, forderte Azhar knapp. Mit einer geschmeidigen Bewegung stieg er auf sein Kamel und zog ihres neben sich her. Überraschend ergriff er ihre Hand und drückte sie. „Meine Zeichnungen sehen aus wie Krakeleien. Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn man zugibt, etwas nicht zu können, Julia.“

Die Märkte öffneten bereits, als sie durch die betriebsamen Straßen von Al-Qaryma ritten. Der vertraute Duft der Gewürze mischte sich mit der morgendlichen Frische. Ich könnte mich in jeder anderen Stadt im Orient befinden, sagte Azhar sich und zog sich die Kufija tief ins Gesicht, ohne den Menschen, die sich zu seinen Füßen verbeugten, und der Schar Kinder, die ihnen folgte, Beachtung zu schenken. Der Rat hatte recht missbilligend reagiert, als er es kategorisch abgelehnt hatte, dass die zeremoniellen Audienzen und Festlichkeiten vorbereitet wurden, die einer Krönung vorausgingen. Die Menschen warteten bereits seit drei Monaten. Da kam es auf einen Monat mehr auch nicht mehr an.

Noch erstaunter war der Rat gewesen, als er sich geweigert hatte, den Thron sofort einzunehmen. Kamal war jedoch bereits seit über einem Jahr Regent von Qaryma, sicher war er fähig genug, ihn noch eine Weile zu vertreten. Das hatte Azhar den Ratsmitgliedern mit deutlichen Worten zu verstehen gegeben und gefragt, ob sie anderer Meinung seien. Die Antwort auf seine Frage war nicht einstimmig ausgefallen. Einige neuere Mitglieder des Rates hatten sich begeistert gezeigt, die Älteren hatten sich jedoch mit einem Urteil zu den Fähigkeiten seines Bruders zurückgehalten. Noch verhaltener hatten sie allerdings auf Azhar reagiert. Traditionalisten, Männer, die seinem Vater während seiner Regierungszeit treu ergeben waren. Azhar war sich nicht sicher, ob sie ihn dafür verurteilten, dass er gegangen oder zurückgekommen war. Er stieß ein ungehaltenes Seufzen aus. Es war gleichgültig. Sie mussten seinem Wunsch entsprechen, eine andere Wahl blieb ihnen nicht. Er brauchte weder ihre Einwilligung noch ihre Billigung. Wenn er sie erst über sein Vorhaben aufgeklärt hatte, würden sie sein Handeln schon verstehen. Obwohl er auch ihr Verständnis nicht benötigte. Im Moment zählte einzig, dass er das Beste aus der Zeit machte, die er sich erkauft hatte. Und dabei die Gesellschaft der ungewöhnlichen und einzigartigen Frau in seiner Begleitung genoss.

Als sie die Stadt und die unerwünschte Aufmerksamkeit der Menschen hinter sich gelassen hatten, lenkte Azhar Julias Kamel neben seines. In ihrem Gewand wirkte sie gleichermaßen exotisch und doch nicht orientalisch. Die weichen Stoffe betonten ihre zierliche, weich gerundete Figur. Die leuchtenden Farben brachten ihre lebhaften grünen Augen und das glänzende kupferrote Haar zum Strahlen. Sie hatte die Beine um den Sattelknauf geschlungen. Ein verführerischer Streifen zarter Haut blitzte über ihrem Stiefel unter dem Bund ihrer Pluderhose hervor. Als er den Blick von ihrem Bein löste, stellte er fest, dass sie ihn beobachtete und versuchte, seine Stimmung einzuschätzen. Er lächelte hinter der Kufija. „Möchten Sie die Zügel selbst halten?“

Ihr Blick wurde argwöhnisch. „Ich bin keine schlechte Reiterin, Azhar, aber ich denke, dass ich niemals die Kunst meistern werde, ein Kamel zu lenken. Was ich auch nicht unbedingt lernen muss, da sie in England eher selten anzutreffen sind.“

„Zweifellos wären englische Kamele, wenn es sie gäbe, zweimal so groß wie unsere abgemagerten Wüstenschiffe.“

„Sie verspotten mich.“

„Nein, ich necke Sie bloß“, erwiderte Azhar und brachte die Kamele zum Stehen. „Aber mir gefällt nicht, dass Sie sich selbst verspotten, indem Sie sich die Fähigkeit absprechen, ein Kamel reiten zu können.“

„Ich kann es tatsächlich nicht, obwohl ich einen ganzen Monat in der Wüste verbracht habe. Ich bin wohl ein hoffnungsloser Fall.“

„Sie sind sehr hart mit sich selbst. Hätte Ihr Dragoman sich mehr angestrengt, es Ihnen beizubringen, bin ich mir sicher, dass Sie diese Kunst schon längst beherrschen würden.“

„Daniel wäre darin sicher nicht so zuversichtlich gewesen wie Sie.“

Azhar umfasste die Zügel fester. „Daniel ist jedoch nicht hier, um seine Missbilligung zu zeigen.“ Der Mann war ein Narr gewesen. Er hatte ganz offenbar jede Gelegenheit genutzt, um seiner Gattin ihre Unzulänglichkeiten vorzuhalten. Es lag jedoch kein Sinn darin, sie dafür zu schelten, dass sie einen solch himmelschreienden Unsinn geglaubt hatte. Sie brauchte Ermunterung. „Möchten Sie also kurz die Zügel übernehmen, Julia?“

„Und wenn es mir durchgeht?“

„Das ist höchst unwahrscheinlich. Es erfordert einige Mühe, ein Kamel dazu zu bringen, irgendetwas zu tun. Nicht umsonst steht es in dem Ruf, ein äußerst störrisches Tier zu sein.“ Sie wirkte immer noch nicht überzeugt und beäugte misstrauisch den Abstand vom Sattel zum Boden. „Selbst wenn Sie auf Ihre entzückende Kehrseite fallen sollten, Julia, der Sand ist recht weich. Im Hof war das eine völlig andere Sache.“

Ihre Augen über dem Schleier weiteten sich. „Sie halten meine … meine Kehrseite für entzückend?“

Azhar lachte. „Höchst entzückend.“

„Wie seltsam. Niemand hat sie je so bezeichnet.“ Julia zog die Stirn kraus. „Ehrlich gesagt hat sie bisher noch niemand je in irgendeiner Weise erwähnt.“

„Vielleicht sind die Männer in Ihrer Bekanntschaft alle höchst unaufmerksam“, erwiderte Azhar. „Ganz zu schweigen von undankbar.“

„Vielleicht liegt es an der Kleidung.“

„Ich bewundere nicht die Kleidung, sondern die Frau, die sie trägt.“

Sie war ihm nahe genug, dass er sehen konnte, wie sie unter dem hauchzarten Schleier errötete. Nahe genug, um dem Drang nachzugeben, mit seinen Fingern über die seidige Länge ihres Zopfes zu streichen. Nahe genug, dass er ihr scharfes Einatmen hörte, als er diesem Verlangen nachgab. Nahe genug, um sein Bein an ihres zu schmiegen und mit den Fingern über den sich weich bauschenden Ärmel ihres Kamiz nach oben zu streifen und ihr seine Hand auf die Schulter zu legen. Er war ihr so nah, dass er sah, wie sich das Feuer der Begierde, das in ihm aufflammte, in ihren Augen widerspiegelte. So verführerisch nah, dass er fast mit seinen Lippen die ihren berühren konnte.

Doch als er sich zu ihr beugte, blökte sein Kamel unvermittelt, und Julia geriet ins Schwanken. Rasch fasste Azhar die Zügel fester, die er beinahe losgelassen hätte. „Es gibt eine alte Redensart, dass in der Wüste ein Kamel wertvoller ist als ein Königreich“, meinte er bedauernd. „Doch für das Liebesspiel ist es gänzlich ungeeignet.“

Julia umklammerte den Sattelknauf und wusste nicht, was sie auf diese unverfrorene Bemerkung erwidern sollte. Dabei hatte das Gespräch ganz unverfänglich mit dem Erlernen des Reitens auf einem Kamel angefangen, ehe er auf ihre Kehrseite zu sprechen gekommen war – ihre entzückende Kehrseite – und sie gleich darauf beinahe geküsst hätte? Wie war es möglich, dass aus einer harmlosen Unterhaltung so schnell eine schlüpfrige geworden war? Ihr schwirrte der Kopf, und ihr ganzer Körper kribbelte. Zum ersten Mal hatte sie keine Schwierigkeiten, Azhars Miene zu lesen, denn sie spiegelte exakt ihre Gefühle.

„Azhar …“ Sie brach ab, da sie immer noch nicht wusste, was sie sagen sollte, und zuckte mit den Schultern. „Ich würde gern die Zügel übernehmen, vorausgesetzt, Sie geben gut auf mich acht.“

„Ein höchst umsichtiger Vorschlag.“ Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

Julia lachte. „Ich weiß nicht, ob ich das, was ich vorhabe, als umsichtig bezeichnen würde.“

„Vielleicht nicht, aber es ist weitaus weniger gefährlich als das, was ich beinahe getan hätte. Und ich rede hier nicht von körperlichen Gefahren. Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten.“

„Ihnen ist sicher bereits bewusst, dass dies nicht der Fall ist. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen“, fuhr sie kühn fort, „ich habe Sie küssen wollen.“

Wieder entlockte sie ihm damit ein Lachen. „Das nennt man wohl einen glücklichen Zufall“, sagte er. „Denn genau das wollte ich auch. Allerdings hätte ich einen passenderen Moment wählen sollen.“

Die Art, wie er sie anschaute, machte sie nicht nur wagemutig, sondern weckte in ihr auch entschieden sinnliche Begierden. „Dann hoffe ich, dass du beim nächsten Mal einen geeigneteren Moment wählst“, sagte sie, ergriff die Zügel und trieb ihr Tier an.

Es wäre eine höchst effektvolle Geste gewesen, wenn denn alles reibungslos verlaufen wäre. Leider verweigerte das Kamel den Gehorsam und blieb wie angewurzelt stehen. Julia zog fester an den Zügeln. Das Kamel drehte ihr den Kopf zu und versuchte recht ungalant, sie zu beißen. Erschrocken ließ sie die Zügel locker, und zu ihrer Verwunderung setzte sich das Tier in Bewegung und verfiel in einen langsamen Trott.

„Ich dachte, du verstehst es in der Theorie“, meinte Azhar, als er auf seinem Kamel zu ihr aufschloss.

„Da habe ich mich offensichtlich geirrt. Was muss ich tun, um die Richtung zu wechseln?“

„Wenn du mir erlaubst, vor dir herzureiten, wird dein Kamel meinem von selbst folgen.“

„Und wie halte ich es an?“

Azhar lachte. „Tu genau das, was du getan hast, um es zum Laufen zu bringen. Vor uns liegt ungefähr ein einstündiger Ritt bis zur Oase. Schaffst du das?“

Julia riskierte einen Seitenblick. Sie ritt ein Kamel in dieser wunderschönen Wüste, die in dem Königreich lag, das diesem wunderbaren Mann gehörte. Ein Mann, der ihre Kehrseite für entzückend hielt. Ein Mann, der sie ebenso sehr küssen wollte wie sie ihn. „Ich weiß, ich werde noch bedauern, dass ich das sage, aber im Moment habe ich das Gefühl, ich könnte alles schaffen.“

Eine Stunde später bedauerte sie ihre Worte tatsächlich zutiefst. Ihre Kehrseite fühlte sich ganz und gar nicht entzückend an, sondern taub. Sie war unglaublich erleichtert, als Azhar sein Kamel vor ihr zügelte. Nachdem sie, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten, ihr Kamel ebenfalls zum Stehen gebracht hatte, ließ sie sich einfach in den Sand hinuntergleiten und stellte schmerzhaft fest, dass er nur sehr dünn über einer Schicht bröckeliger roter Steine lag.

„Hast du dir wehgetan?“

Benommen schüttelte sie den Kopf und ließ sich von Azhar auf die Füße helfen. Die beste Methode gegen die durch den schwankenden Sattel hervorgerufene Übelkeit war, wie sie festgestellt hatte, sich auf einen Punkt vor sich zu konzentrieren. Daher hatte sie ihre Aufmerksamkeit während des Ritts auf Azhars Rücken geheftet. Nun schaute sie sich erstaunt um. „Wie heißt dieser Ort?“

Azhar nannte den arabischen Namen. „Das bedeutet ‚Oase der roten Steine und des tosenden Wasserfalls‘“, erklärte er. „In der Übersetzung ist der Name nicht ganz so wohlklingend, eher prosaisch.“

„Dieser Ort ist ganz und gar nicht prosaisch. Er ist atemberaubend.“

Die Oase war klein und lag geschützt im Schatten einer halbkreisförmigen Felsformation, die etwa hundert Meter in die Höhe ragte. Der Wasserfall stürzte sich inmitten der Felsen hinunter in einen tiefen See. Das Wasser hatte in jahrelanger Arbeit die seltsamsten Formen in den Felsen gegraben. Silbergrünes Moos bedeckte den Boden zwischen den Bäumen, die fast so hoch wie die Felsen in den Himmel hineinragten. Ihre seltsam silbrig grün schimmernden Kronen spiegelten sich auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche. Die Luft war erfrischend kühl und feucht, der durch den Felsüberhang entstehende Schatten eine willkommene Abkühlung von der gleißenden Sonne, die bereits erbarmungslos auf sie herabbrannte, obwohl es nicht viel später sein konnte als zehn Uhr.

Niedrige rote Steinhäuser reihten sich entlang der schattigen Seite am See. Sie verschmolzen fast mit ihrer Umgebung, weshalb Julia sie zuerst gar nicht wahrnahm. „Es ist so still“, sagte sie. „Wohnt hier niemand?“

„Zu dieser Tageszeit sind die Männer in der Diamantenmine, die etwa zwei Stunden von hier entfernt liegt“, erklärte Azhar. „Nur die Frauen sind zu Hause.“

„Und vermutlich wollen sie sich einem Fremden nicht zeigen. Obwohl … Mir fällt gerade auf, dass man dich in Al-Qaryma bei unserer Ankunft sofort erkannt hat, obwohl du zehn Jahre fort warst.“

Azhar band die Kamele an. „Ich bin als erwachsener Mann gegangen, Julia, und ich habe meine Jugend nicht hinter verschlossenen Palastmauern verbracht.“

Sie malte sich aus, wie er seine Tage wohl verbracht hatte, bis sie von einem Willkommensruf aus dem größten Haus aus ihren Gedanken gerissen wurde. Eine alte Frau stand in der Tür, ihr faltiges Gesicht war unverschleiert, und ihre Arme waren zur Begrüßung ausgestreckt. Als er sie entdeckte, leuchtete Azhars Gesicht auf. „Johara“, sagte er zu Julia. „Sie ist Kräuterkundlerin. Ich hatte befürchtet … aber ich hätte mir denken können, dass sie noch hier sein würde. Vermutlich ist sie unsterblich. Komm, ich mache euch miteinander bekannt.“

Er erreichte Johara rechtzeitig, um die Frau davon abzuhalten, vor ihm auf die Knie zu fallen, und zog sie in eine Umarmung, während er sie in seiner Sprache begrüßte.

„Madam Julia Trevelyan“, stellte Azhar sie vor.

Das vom Alter gezeichnete Gesicht der Frau strahlte. Ihre Haltung war gebeugt, und sie wirkte zerbrechlich, doch ihre Augen leuchteten in hellem, durchdringendem Blau. Ein forschender Blick stand darin. Kräuterkundlerin, weise Frau, Heilerin oder Hexe, je nachdem, welcher Kultur sie angehörten, wurden solche Frauen genannt, und Julia war ihnen auf ihren Reisen schon oft begegnet. Sie wusste daher, dass man ihnen sowohl mit Respekt als auch mit einer gewissen Furcht begegnete. Sie sank auf die Knie und beugte sich über Joharas raue knotige Hand. Dabei murmelte sie die traditionellen Begrüßungsworte in ihrem gebrochenen Arabisch.

Nachdem er ihr wieder aufgeholfen hatte, erntete sie von Azhar ein anerkennendes Nicken und einen Blick von der alten Frau, den man nur als neugierig bohrend bezeichnen konnte. Sie brach in einen Schwall arabischer Worte aus, den sie mit zahlreichen Gesten untermalte. Julia beobachtete derweil, wie sich die anderen Türen öffneten und Frauen jeden Alters herausströmten. Zwei, drei, manchmal sogar vier aus jedem Haus. Sie waren verschleiert. Eine nach der anderen kam heran. Den Blick zum Boden gerichtet, fielen sie in zwei Reihen hinter der Kräuterkundlerin und ihrem Kronprinzen auf die Knie.

Verlegen rückte Julia zur Seite. Azhar, der mit dem Rücken zu den Frauen stand und ins Gespräch mit Johara vertieft war, schien sie gar nicht wahrzunehmen. Julia zupfte an seinem Ärmel, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, und deutete über seine Schulter. Widerwillig, so schien es ihr, drehte er sich um. Hatte er die Frauen absichtlich ignoriert? Verärgerung – oder war es Scham? – huschte über sein Gesicht, ehe er einige Grußworte aussprach und ihnen bedeutete, dass sie aufstehen sollten. Sie erhoben sich langsam, doch in ihren Augen las Julia, dass sie sich mehr von ihm erhofften. Azhar drehte sich jedoch um und unterhielt sich leise weiter mit Johara.

„Wir sind zum Tee eingeladen“, sagte er schließlich zu Julia und nahm sie beim Arm, um sie ohne einen weiteren Blick auf die anderen Frauen in das Haus der Kräuterkundlerin zu geleiten.

„Das war ziemlich grob, wenn ich das sagen darf.“ Julia machte sich frei. „Die Frauen wollen ihrem zukünftigen König bloß ihre Ehrerbietung ausdrücken, und du hast ihnen buchstäblich den Rücken gekehrt.“

Azhars Miene verhärtete sich. „Ich verdiene keine …“ Abrupt brach er ab. Als er weitersprach, klang er sichtlich angespannt. „Noch bin ich nicht ihr König. Ich bin noch nicht gekrönt.“ Eine leichte Röte breitete sich auf seinen Wangen aus.

„Das ist doch Haarspalterei“, erwiderte sie. „Ist dir ihre Bewunderung peinlich?“ Seine harsche Reaktion verwunderte sie, und dann fiel ihr ein, dass er bei seiner Ankunft die Menge ebenfalls ignoriert hatte, die ihnen durch die Straßen zum Palast gefolgt war. „Mir erscheint das alles seltsam, also auf die Knie fallen und Hände küssen. Aber ich komme auch aus einem Land, das einen König hinter Schloss und Riegel verfrachtet hat und an seiner Stelle einen übergewichtigen, überaus verwöhnten und offen gestanden übermäßig reizbaren Gecken auf den Thron gesetzt hat.“ Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Prinzregenten George und Kamal fiel Julia unvermittelt auf. Nun war sie es, die errötete. „Ich wollte deinen Bruder natürlich nicht mit König George vergleichen. Das ist bloß … Ich meine, ich bin sicher, dass dein Bruder kein …“ Wüstling? Schwerenöter? „... verschwenderischer Liederjan ist.“

„Ach ja? Du scheinst ihn ja gut zu kennen. Und das, obwohl du weniger als fünfzehn Minuten in seiner Gesellschaft verbracht hast.“

Azhar bedachte sie mit herablassendem Blick. Statt sie einzuschüchtern, erregte er damit jedoch nur Julias Ärger. „Ich verfüge über gute Menschenkenntnis“, sagte sie.

„Ja, die ist so gut, dass du einen Dieb als Führer angeheuert hast.“

„Oh! Das ist höchst …“ Sie hielt einen Moment inne. „Natürlich hast du recht. Ich hätte nicht so vorschnell über einen Mann urteilen sollen, den ich kaum kenne. Mit Prinz George bin ich zwar auch nicht persönlich bekannt, aber er ist wegen seiner ausschweifenden Gewohnheiten im ganzen Land verrufen und … und … Nun ja, wir kommen vom Thema ab, Azhar. Auch wenn es dir unangenehm ist, die Frauen haben nichts weiter getan, als dir Respekt zu zollen, weil du ihr Prinz bist.“

„Auch ein Prinz muss sich Respekt erst verdienen, Julia.“ Azhar nahm den Turban ab, faltete ihn neu und setzte ihn wieder auf. „Ich hab nicht grob sein wollen. Ich …“

Eine Frau mit einem großen Tablett voller Teegeschirr näherte sich, und er brach ab. Johara folgte ihr und bedeutete ihren Gästen, sich auf die Kissen vor dem niedrigen Tisch zu setzen. Nachdem der süße Minzetee eingeschenkt war, wandte sich Azhar an Johara und bat sie, Julia ihr Handwerk zu erklären. Er übersetzte ihre Worte und Julias eifrige Fragen. Obwohl sie einige der erwähnten Pflanzen bereits kannte, waren ihr viele andere fremd. Fragen über Fragen stellte sie Johara mit Azhars Hilfe. Die alte Frau verfügte über ein beinah enzyklopädisches Wissen. Schließlich klatschte Johara in die Hände und rief eine ihrer Töchter. Das Buch, das man kurz darauf vor ihr auf den Tisch legte, war ein in dunkelrotes Leder gebundener Foliant und eindeutig antik. „Das ist eine große Ehre für dich“, sagte Azhar. „Dieses Buch ist schon seit mehr als zweihundert Jahren in Joharas Familie und wird von Mutter zu Tochter weitergereicht.“

Die Bilder waren so schön, dass Julia der Mund vor Staunen offen stand. Pflanzen, Blumen, Bäume und Wurzeln, eine Art pro Seite, darunter waren Rezepte für Medizintränke und Salben, wie sie annahm, in säuberlicher arabischer Schrift notiert. Vorsichtig blätterte Julia die Seiten um und fuhr die detaillierten Zeichnungen mit den Fingern nach. „Die sind wundervoll. Bitte sag Johara, dass ich mich sehr geehrt fühle und noch nie solch hervorragende Zeichnungen gesehen habe. Shukran“, sagte sie und legte die Hände aneinander. „Bitte sag ihr, dass ich ihr zutiefst dankbar bin.“

„Johara sagt, dass du die Zeichnungen gern kopieren darfst, wenn du möchtest. Die Rezepte jedoch nicht, sonst wird dich und deine Familie ein Fluch befallen“, meinte Azhar. „Diese Warnung würde ich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich dachte jedoch, dass du es vielleicht vorziehst, die Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung zu zeichnen. Viele davon wachsen hier in der Oase. Joharas Tochter wird sie dir zeigen, wenn du möchtest.“

„Wenn ich möchte! Wann können wir anfangen? Oh, ich wollte nicht unhöflich sein, aber …“

„Aber du willst mit deiner Arbeit beginnen“, sagte Azhar lächelnd. „Wir haben ungefähr vier Stunden Zeit, dann müssen wir aufbrechen.“

„Danke. Oh vielen Dank. Aber was wirst du solange machen, während ich arbeite?“

„Ich habe zehn Jahre aufzuholen, Julia, und möchte erfahren, wie es den Menschen hier in dieser Zeit ergangen ist. Gewiss wird mir nicht langweilig werden.“

Während Azhar darauf wartete, dass Johara die Frauen des Dorfes zusammenrief, beobachtete er mit gemischten Gefühlen, wie Julia mit Joharas Tochter zum anderen Ende der Oase ging. Die Ehrlichkeit, die er von ihr gefordert hatte, hatte ihren Preis. Sie war zu scharfsichtig. Vermutlich nahm sie mehr wahr, als sie ihm gegenüber zugab. Und ganz sicher wäre es ihm auch lieber gewesen, wenn sie manche Gedanken für sich behielt.

Ihre Scharfsichtigkeit bereitete ihm Unbehagen und entlockte ihm Vertraulichkeiten, die er von sich aus nie preisgegeben hätte. Sie zwang ihn, sich den Fakten zu stellen, die er lieber ignorieren würde. Zum Beispiel der uneingeschränkten Bewunderung seines Volkes. War den Menschen denn nicht klar, dass er sie im Stich gelassen hatte? Er hatte Groll bei seiner Heimkehr erwartet, zumindest aber Ablehnung. Wenn sein Bruder sich nur mehr angestrengt hätte, sich bei den Leuten beliebt zu machen! Er hatte zehn Jahre Zeit gehabt, sich als würdiger Nachfolger zu präsentieren. Andererseits war Kamal schon immer der Überzeugung gewesen, dass allein sein hoher Stand bereits Respekt und Anerkennung verdiente. Julia hatte Kamal mit dem englischen – wie nannte sie ihn doch gleich? – verschwenderischen Liederjanprinzen verglichen, und Azhar schmunzelte unwillkürlich. Die Bezeichnung war passend, das ließ sich nicht bestreiten. Er war sich nicht ganz sicher, was ein Liederjan war, aber er hatte eine ungefähre Ahnung.

Ja, Julia sah zu viel, aber Julia sah nicht das ganze Bild. Wenn sie es kennen würde, dann würde sie verstehen … Azhar unterdrückte jeglichen weiteren Gedanken daran. Er brauchte ihre Ehrlichkeit, aber nicht ihr Verständnis. Er musste sich vor ihr nicht rechtfertigen. Auch wenn sie mit ihrer Bemerkung über die Bewunderung der Leute recht hatte. Seltsam, dass er keine Gewissensbisse hegte, weil er Kamal und den Rat hinters Licht führte, obwohl er darauf achtete, niemanden anzulügen. Sein Volk zu täuschen, indem er einen Teil der Wahrheit verschwieg, bereitete ihm jedoch Unbehagen. Vor den Häusern hatten sich die Frauen versammelt. Was er vorhatte, war nur zu ihrem Besten. Und zu seinem. Es war der einzig mögliche Weg. Doch bis es so weit war, schuldete er ihnen, wie Julia hervorgehoben hatte, Respekt, ob er nun gekrönt war oder nicht. Sorgfältig faltete er seine Kufija neu und ging nach draußen.

5. KAPITEL

Am frühen Abend kehrten sie in den Palast zurück. Azhar trug Julias Zeichenutensilien zu ihren Gemächern und legte sie auf dem Tisch im Salon ab.

„Ich danke dir für den heutigen Tag, Azhar. Ich habe an einem Nachmittag mehr Zeichnungen anfertigen können als zuvor in zwei oder drei Tagen in der Wüste. Ich wünschte nur, ich würde deine Sprache besser beherrschen. Ich habe Hunderte Fragen, die ich Johara gern gestellt hätte. Sie verfügt über mehr Wissen als jede Kräuterkundlerin, der ich je begegnet bin.“

„Und du bist auf deinen Reisen vielen Kräuterkundlerinnen begegnet?“, fragte er.

„Ja, einigen. Sie waren mir eine große Hilfe bei der Zusammenstellung von Daniels Buch.“ Julia unterdrückte ein Gähnen. „Verzeihung, es war ein langer Tag und ein sehr ergiebiger dazu. Zumindest aus meiner Sicht. Es tut mir leid, dass ich dir keine große Hilfe sein konnte.“ Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Er hatte den Turban abgenommen und stand vor dem Fenster, den Blick auf den kleinen Innenhof gerichtet. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was du von mir erwartest.“

„Dass du deine Meinung sagst, so wie heute“, erwiderte Azhar. „Ich wollte die Frauen im Dorf gewiss nicht kränken, doch das habe ich. Das hast du ganz richtig erkannt und mich wissen lassen, und dafür bin ich dir dankbar.“

„Das Wichtigste ist doch, dass du deinen Fauxpas wiedergutgemacht hast“, sagte Julia. „Ich habe gesehen, wie du mit ihnen gesprochen hast.“ Sie gesellte sich zu ihm und öffnete eines der langen Fenster, um die leichte Abendbrise hereinzulassen. „Dir sind sie wichtig, gleich, wie sehr du das leugnen möchtest.“

Azhar trat auf die Terrasse hinaus und bedeutete ihr zu folgen. „Es ist meine Pflicht, mich ehrenhaft zu verhalten, das ist alles.“

„Weil du ein Prinz bist, meinst du?“

„Ja, aber auch ein Mann.“

„Wie könnte ich an deinem Ehrgefühl zweifeln. Du hättest mich einfach in der Oase zurücklassen können, aber das hätte dein Gewissen nicht zugelassen, und dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Dem Mann, nicht dem Prinzen.“

Die Dämmerung setzte ein, und obwohl sie sich mitten in der Stadt befanden, legte sich zu dieser Zeit des Abends eine friedliche Stille wie ein Mantel über den Palast. Azhar umfasste Julia mit einem Arm und drehte sie zu sich. Nur wenige Schichten Baumwolle und Seide trennten sie noch voneinander. Er legte die Hände auf ihren Rücken. „Julia?“

In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Mit den Fingern strich sie durch sein kurzes seidig-weiches Haar. „Azhar?“

„Jetzt sitzen wir nicht auf einem Kamel.“

„Nein, wir sitzen eindeutig nicht auf einem Kamel.“

„Und ich frage mich, ob es wohl möglich ist, dass dieser Moment …“

„… der passende ist?“

„Genau.“ Er beugte den Kopf. „Meiner bescheidenen Meinung nach ist er sehr passend. Und ziemlich günstig, wenn ich das sagen darf.“

Sie schloss die Augen, als seine Lippen über ihre streiften und ihr einen wohligen Schauer über die Haut jagten. Er ließ sich Zeit und drückte sie mit der Hand auf ihrem Rücken an sich, während ihre Münder miteinander verschmolzen. Er küsste sie, als ob er sie kosten wollte. Die Mischung aus Dämmerlicht, aufgestauter Hitze, die auf Julias Haut glühte, und der Liebkosung des verführerischen Mannes, der sie fest in seinen Armen hielt, ließ ihr die Sinne schwinden und das Blut heiß durch die Adern rauschen. Das Feuer des Verlangens, das schon den ganzen Tag gegenwärtig gewesen war, flammte erneut auf. Sie glitt mit den Fingern seinen Rücken hinauf und genoss das Gefühl der zarten Seide unter ihren Händen, als er den Kuss vertiefte. Sanft berührte er ihre Zunge mit seiner, und Julia stieß einen kleinen Wonneseufzer aus. Und dann, so langsam, wie er ihn begonnen hatte, beendete er den Kuss und löste sich sanft von ihr.

Blinzelnd schlug Julia die Augen auf. War das der feurige Kuss, den sie sich ausgemalt hatte, als sie allein in der Wüste gewesen waren? Ihr war ganz sicherlich heiß dabei geworden, aber womöglich gab es verschiedene Stufen hitziger Leidenschaft. „Ich bin noch froher als sonst, dass wir nicht auf einem Kamel sitzen“, sagte sie. „So hat mich noch niemand geküsst. Vielen Dank.“

„Gern geschehen, Julia. Es war mir ein großes Vergnügen, buchstäblich.“ Azhar gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich muss dich jetzt verlassen. Mein Bruder erwartet mich zum Abendessen, und morgen habe ich dringende Geschäfte zu erledigen, die mich wohl einige Tage beschäftigen werden.“

„Willst du die Arbeit der Palastwachen neu verteilen?“

„Unter anderem. Wie ich heute aus den Gesprächen mit den Frauen in der Oase erfahren habe, gibt es Probleme mit der Einfuhr einiger notwendiger Vorräte. Das muss geprüft werden. Außerdem machen gewisse Händler im Souk Ärger, weil … aber das interessiert dich sicher nicht.“

„Ich dachte, du wolltest solche Angelegenheiten Kamal überlassen?“

Azhar zuckte mit den Schultern. „Im Handelsgeschäft kenne ich mich aus. Es ist einfacher, wenn ich mich selbst darum kümmere.“

Julia verkniff sich ein Lächeln. Ihrer Ansicht nach war es ihm wohl eher unmöglich, sich nicht darum zu kümmern. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er seinem Bruder die Regentschaft ganz aus den Händen nahm. Gewiss weniger als einen Monat. „Mach dir meinetwegen keine Sorgen“, sagte sie. „Durch deinen wundervollen Garten und den Besuch in der Oase heute habe ich genug Material, um mich mindestens eine Woche zu beschäftigen. Bitte fühl dich nicht verpflichtet, Zeit mit mir zu verbringen.“

„Es ist keine Pflicht, sondern ein Vergnügen. Aber wenn es dir recht ist, dich in der Zwischenzeit mit deiner Katalogisierung zu beschäftigen, dann treffen wir uns in drei Tagen im Garten wieder. Ich werde deine Zofe mit Wasser für ein Bad schicken.“

„Danke, nach so langer Zeit im Sattel, ist mir das sehr willkommen.“

„Warmes Wasser kann sehr wohltuend für müde Glieder sein.“ Mit verruchtem Lächeln streichelte er über ihren Rücken. Als er ihr Gesäß umfasste, stieß er ein leichtes Stöhnen aus, und seine Lippen fanden erneut die ihren.

Dieses Mal gab es kein Zweifeln. Der Kuss war so feurig, dass er ein wahres Inferno in Julia auslöste. Es gab kein sanftes Vorspiel, keine zärtliche Liebkosung. Azhar küsste sie fordernd und stürmisch. Drängend fuhr er mit der Zunge über ihre Lippen, und sie öffnete den Mund für ihn, während sie die Finger Halt suchend in seine Schultern krallte, als er sie fest an sich zog. Deutlich spürte sie seine Erregung zwischen ihren Schenkeln, und Begierde durchströmte sie. Plötzlich wollte sie ihm noch näher sein. Als sie ein Bein um ihn schlang, stöhnte er wieder auf und ließ seine Zunge voller Leidenschaft mit der ihren tanzen, bis sie sich atemlos von ihm losmachte, um Luft zu holen.

Auch sein Atem kam flach und stoßweise. Einen langen Moment blickten sie einander wie benommen an, den Blick verschleiert. Die Stärke ihrer Leidenschaft erschrak sie. Mit einem Mal erinnerte sie sich an Daniels entsetzten Blick, als sie ihn in jener Nacht unter einem anderen fremden Sternenhimmel geküsst hatte. Beschämt trat Julia einen Schritt zurück. „E…es tut mir leid“, stammelte sie. „Ich wollte nicht … ich habe nicht … ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.“

„Hoffentlich das gleiche Gefühl wie über mich.“ Azhar hielt sie fest, als sie sich umdrehen wollte, und zwang sie, ihm ins Gesicht zu blicken. „Leidenschaft. In meiner Kultur wird sie als völlig natürlicher und gesunder Appetit angesehen, und das schon seit Jahrtausenden. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen oder weswegen du dir Vorwürfe machen müsstest.“

„Nein? Ich dachte bloß, dass … Ich dachte, bei einer Frau gelte ein solcher Mangel an Zurückhaltung als …“

„Es war ziemlich berauschend.“

„Du bist nicht entsetzt?“

„Entsetzt! Bei allem, was heilig ist, was für ein Mann war dein Gatte bloß? Nein, du musst nicht antworten, ich kann es mir schon denken.“ Azhar strich ihr die Haare aus der Stirn. „Nichts entfacht die Begierde eines Mannes wirkungsvoller als die stürmische Leidenschaft einer Frau. Wenn ich das Feuer in deinen Augen lodern sehe und es in deinen Berührungen spüre, bin auch ich entflammt. Denkst du wirklich, ich würde es vorziehen, eine Frau zu küssen, die meine Liebkosungen kalt wie ein Fisch nur über sich ergehen lässt? Nein, ganz sicher nicht. Kein heißblütiger Mann würde das wollen. Entschuldige dich nie für deine Leidenschaft. Zurückhaltung hat beim Liebesspiel nichts zu suchen, Julia.“ Azhar gab ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. „Nun muss ich mich aber beeilen. Genieß dein Bad. Es tut mir nur leid, dass ich es nicht mit dir teilen kann.“

„Azhar!“

Er lachte. „Meine englische Rose. So leicht aus der Fassung zu bringen. Es gibt vieles, was du lernen kannst, bevor du abreist. Du musst nur darum bitten. Ich bin auf diesem Gebiet nicht gänzlich unerfahren.“

„Kornisch“, rief sie ihm nach. „Wenn schon eine Rose, dann eine kornische.“ Er lachte jedoch nur, griff sich seinen Turban vom Sofa und schloss die Tür leise hinter sich.

Nicht gänzlich ohne Erfahrung. Die Bemerkung ließ einen Schauer der Sehnsucht durch ihren Körper rieseln. Die Vorstellung, dass Azhar sie in die Liebeskünste einwies, war sündhaft verführerisch. Wie es schien, brachte er eine ganz neue, wagemutige Seite an ihr zum Vorschein.

Zwei Tage später

Zufrieden legte Julia den Pinsel zur Seite und streckte sich. Sie hatte die Zeichnungen von dem Besuch in der Oase fast fertiggestellt. Sie wünschte, sie könnte sich daran erinnern, wie man den Namen der Oase auf Arabisch aussprach, doch obwohl sie das Wort in ihrem Kopf deutlich in Azhars Stimme hören konnte, wollte es ihr nicht über die Lippen kommen.

Sie legte das letzte Bild zum Trocknen zur Seite und ging zum Tisch vor den Terrassenfenstern, auf den Aisha ihr eine Karaffe Zitronenlimonade hingestellt hatte. Sorgsam zog sie die Vorhänge zu, um ihre kostbaren Bilder vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Morgen würde sie Azhar zum ersten Mal wiedersehen. Als sie sich an seine Küsse erinnerte, flatterten tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch auf. Sie wollte nur zu gern mehr von dem Wissen erlangen, das er angedeutet hatte, doch sie war sich nicht sicher, ob sie den Mut aufbringen würde, ihn darum zu bitten. Es erschien ihr unmöglich, ein solches Gespräch bei helllichtem Tag zu führen. Eine praktische Vorführung im Schutze der Dunkelheit allerdings … Aber nein, sie wagte es nicht, auch nur daran zu denken.

Sie nahm einen Schluck der erfrischenden Limonade und schlenderte hinaus zu der Bank unter dem Zitronenbaum. Zurückhaltung habe beim Liebesspiel nichts zu suchen, hatte Azhar gesagt, und doch war sie von ihr gefordert worden. Kein heißblütiger Mann wolle es, dass eine Frau Zärtlichkeiten nur über sich ergehen lässt, hatte er ihr erklärt. Und doch hatte sie die Liebkosungen ihres Gatten bloß erduldet, ohne je darauf zu reagieren oder selbst die Initiative zu ergreifen. Genau, wie Daniel es von ihr erwartet – und auch gewollt – hatte. Machte das ihren Gatten zu einem gefühlskalten Mann? War sie deshalb weniger fraulich?

Sie lehnte den Kopf an den Baumstamm und schloss die Augen. Grübelnd versuchte sie sich daran zu erinnern, was sie beim Liebesspiel mit Daniel empfunden hatte. Verlegenheit, weil sie sich damit nicht auskannte und sich unbeholfen fühlte. Ihre Mutter war gestorben, als sie acht gewesen war, und die einzige andere Frau im Haus ihres Vaters war die Haushälterin gewesen, eine sauertöpfische, unverheiratete Frau. Ja, anfangs war es merkwürdig gewesen, weil Julia nicht wusste, was sie tun und erwarten sollte – und Daniel … Aber hatte Daniel überhaupt mehr Erfahrung gehabt als sie?

Abrupt richtete sie sich auf, öffnete die Augen, überrascht von dem Gedanken, der ihr nie zuvor gekommen war. Warum eigentlich nicht? Julia runzelte die Stirn. War es möglich, dass sie schlicht angenommen hatte, er verstehe mehr davon, weil er ein Mann war – oder weil sie es sich schon vor ihrer Heirat zur Gewohnheit gemacht hatte zu denken, dass er immer alles besser wusste? Julia zuckte zusammen. So ausgedrückt schien es, als hätte sie einen mitleiderregend schwachen Willen. Aber stimmte das auch?

Nachdenklich richtete sie den Blick auf das Eis in ihrem Glas. Wenn sie die Sache genauer betrachtete, kam es ihr höchst unwahrscheinlich vor, dass Daniel vor ihrer Hochzeitsnacht schon einmal mit einer Frau intim gewesen war, es sei denn mit einer der Dirnen, die durch die Straßen der Häfen von Portreath und Hayle streiften. Aber nein, sie konnte sich Daniel beim besten Willen nicht in Gesellschaft solcher Frauen vorstellen. „Gute Güte“, murmelte Julia, halb entsetzt, halb amüsiert. „Vermutlich war der arme Daniel so unerfahren wie ich.“

Nach den ersten ungeschickten Versuchen hatten sie jedoch insoweit Fortschritte gemacht, dass zumindest Daniel Befriedigung fand. Julia hingegen hatte nie mehr als ein leises Schauern verspürt, wenn ihr Gatte sie berührte. Sie hatte durch Versuche selbst herausgefunden, was sie erregte, aber es nicht gewagt, dieses Wissen mit Daniel zu teilen, da sie gewusst hatte, dass sie sich bei einem solchen Gespräch vor Verlegenheit winden würde. Zudem war sie fest davon überzeugt gewesen, dass er sie für verdorben halten würde, wenn sie das Thema angesprochen hätte. Hatte sie durch ihr Schweigen sie beide der Möglichkeit beraubt, wahre Wonne zu erleben? Und hatte ihre Zurückhaltung die Zurückhaltung ihres Gatten womöglich erst hervorgerufen?

Bedauernd musste Julia zugegeben, dass dies durchaus vorstellbar war. Zum ersten Mal seit Wochen überflog sie ein vertrautes Gefühl – eine Mischung aus Hilflosigkeit, weil sie so viele Jahre ihres Lebens verschwendet hatte, und tiefem Bedauern, weil sie nicht den Mut gefunden hatte, Daniel ihre Gefühle zu Lebzeiten zu gestehen und ihre Lage zu ändern. Sie nahm es Daniel übel, und auch in gewissem Maße ihrem Vater, dass sie eine Frau aus ihr gemacht hatten, die ihre Gefühle sorgfältig unter Verschluss hielt. Und sie verachtete sich dafür, dass sie so lange diese Frau geblieben war.

Es war ihre eigene Schuld.

„Nein.“ Sie sprang auf und wedelte mit den Armen, als ob sie dadurch diese zerstörerischen Gedanken vertreiben könnte. Sie hatte dieses Selbstmitleid gründlich satt. Die alte Julia hatte sie hinter sich gelassen, als sie auf Reisen gegangen war. Sie war nun ein neuer Mensch, und wenn sie den letzten Wunsch ihres Gatten erfüllt hatte, würde sie endlich frei sein.

„Und in der Zwischenzeit sollte ich mich daran erinnern, dass ich mich nicht als Einzige zurückgehalten haben“, erzählte sie dem Zitronenbaum. „Daniel war nicht daran interessiert, mir Vergnügen zu bereiten oder meine Leidenschaft zu wecken. Ganz im Gegenteil. Daniel hat meine Leidenschaft sogar erstickt, als ich sie ihm zeigen wollte.“

Julia ging zurück zur Terrasse und stellte ihr Glas energisch auf dem Tablett ab. „Nun, Daniel“, sagte sie und schaute in den blauen Himmel. „Ich bin es leid, meine Leidenschaft zu unterdrücken. Und nun würde ich gern erfahren, wie es ist, wenn sie befriedigt wird.“

Julia verbrachte eine rastlose Nacht voller erschöpfender Träume, in denen sie Fremden hinterherlaufen musste, um ihnen Nachrichten zu überbringen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Schon im Morgengrauen wachte sie auf und schob die schweißnasse Decke von sich und damit auch ihre Zweifel. Sie war entschlossen, keine Zeit mehr damit zu verschwenden, darüber zu grübeln, was hätte sein können oder auch nicht, und wollte sich lieber auf die Beendigung ihrer Aufgabe konzentrieren, damit sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen konnte.

Sie öffnete den lackierten Schrank, in dem ihre neuen Gewänder lagen, und gab sich einen Moment dem wundervollen Anblick hin. Genussvoll strich sie über die Seide und bewunderte die Farbenpracht. Ihre praktische Ader ließ sie gewöhnlich zu Braun, Schwarz oder Grau greifen. Zwar hatte sie als Künstlerin ein Auge für Farben, aber sie hätte sie nie für sich selbst ausgewählt. Aisha hatte die Kleidung für sie besorgt und darauf geachtet, dass sie genug Auswahl für einen Monat hatte und variieren konnte. Außerdem hatte sie in Azhars Auftrag auch berücksichtigt, dass die Gewänder nicht zu prächtig ausfielen, und sie auf eine angemessene Zahl beschränkt, damit Julia sich nicht in Verlegenheit gebracht fühlte. Denn gleich, was Azhar auch behaupten mochte, er würde ihr niemals erlauben, dafür zu bezahlen. Wie es schien, erstreckte sich sein Gespür für Details nicht nur auf sein Handelsgeschäft. Er war eben ein sehr aufmerksamer, feinfühliger Mann. Der in einem Monat wieder aus deinem Leben verschwunden sein wird, erinnerte sie die Stimme der Vernunft. Doch Julia brachte sie zum Schweigen. Sie hatte Besseres zu tun, als die Tage zu zählen.

Sie wählte eine dunkelblaue Pluderhose, die am Bund mit schwarzen Perlen besetzt war. Darüber band sie ein schwarzes Seidentuch. Der türkise Kamiz hatte den gleichen Perlenstreifen am Saum und weit fließende Ärmel. Ihr Haar glänzte von dem Öl, das Aisha darin verteilt hatte, und duftete nach dem Rosenwasser, mit dem sie es ausgespült hatte. Julia hatte ihre Haare noch nie gemocht, denn sie glaubte, dass die auffällige Farbe von ihrem ernsthaften Wesen und ihrer seriösen Arbeit ablenkte. Noch etwas, das sich seit ihrem Aufenthalt in der Wüstenstadt verändert hatte. Nun gefiel ihr die Vorstellung, dass ihre Haarfarbe ihr Temperament spiegelte. Sie ließ ihr Haar offen über die Schultern fallen und schlüpfte in türkise Schuhe. Haare und Gesicht bedeckte sie schicklich mit einem türkisen Seidentuch, da sie auf ihrem Weg durch den Palast womöglich den Blicken anderer ausgesetzt sein würde. Anschließend griff sie sich ihre Zeichenutensilien und verließ das Zimmer, um in den Garten zu gehen.

Azhar saß im Pavillon. Ein Diener hatte ihm dort Kaffee bereitgestellt, und er schenkte sich gerade eine Tasse ein. Als er Schritte vernahm, stand er auf, doch statt Julia kam sein Bruder angestürmt. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war Kamal nicht gekommen, um den Garten zu bewundern. Azhar fluchte leise.

„Du hast mich ausspionieren lassen“, beschwerte sich Kamal, kaum dass er dem Pavillon nahe genug war.

„Guten Morgen, Bruder. Möchtest du eine Tasse Kaffee mit mir trinken?“

Kamal ignorierte ihn. Schnaufend stieg er die flachen Stufen hinauf und warf sich in einen der Stühle. „Was hast du dir dabei gedacht, die Arbeiter in den Minen zu befragen?“

„Man hat dich falsch informiert. Ich bin ins Dorf gegangen, nicht in die Minen“, antwortete Azhar schroff. „Es klingt mir eher danach, als hättest du mir nachspioniert. Und dein Spion ist, wie ich hinzufügen möchte, ziemlich unfähig.“

„Ich bin vorübergehend noch Regent – auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin, wie ich betonen möchte. Natürlich erwarte ich, über ungewöhnliche Vorkommnisse informiert zu werden.“

„Sicher. Aber ich frage mich, was an meinem Besuch in einem meiner Dörfer ungewöhnlich sein soll“, erwiderte Azhar kühl.

Kamal faltete die Hände über seinem üppigen Bauch und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. „Du hast dich nicht angekündigt. Das Protokoll schreibt vor, dass vorab ein Bote entsendet wird, damit ein angemessener Empfang vorbereitet werden kann.“

„Und vermutlich, um jegliche Überraschungen zu vermeiden. Es war jedoch kein offizieller Besuch. Ich habe Madam Trevelyan zu unserer Kräuterkundlerin Johara gebracht.“

Kamal schnaubte. „Zweifellos, damit sie ihrer bizarren Obsession mit unserer Flora huldigen kann. Wie umsichtig von dir. Es wäre wohl besser, wenn du mich zukünftig über deine Ausflüge in Kenntnis setzt.“

„Besser für wen, Kamal?“

Sein Bruder zuckte mit den Schultern. „Ich möchte lediglich unglückliche Missverständnisse vermeiden.“

Azhar betrachtete ihn über den Rand seiner Tasse hinweg und fragte sich, welche Missverständnisse, noch dazu unglückliche, er meinen könnte. Bei seinem Abschied waren die Frauen guter Dinge gewesen, und Johara war von Julia so beeindruckt gewesen, dass sie Azhar gedrängt hatte, sie doch bald einmal wieder mit ihr zu besuchen. Dennoch wirkte Kamal besorgt. Verbarg er etwas, oder war er schlicht nur beleidigt? „Ich habe meine Absichten vor dem Rat klar dargelegt“, sagte Azhar. „Während dieser Übergangszeit will ich die Gelegenheit nutzen, mich mit Qaryma wieder vertraut zu machen.“

„Wenn du vorhast, die anderen Dörfer und Minen zu besuchen …“

Azhar straffte die Schultern. „Ich gehe, wann und wohin ich will, und ich rede, mit wem ich will. Du magst Regent sein, aber ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“

In Kamals Augen blitzte Wut auf. „Nein, aber ich bin diesem Königreich Rechenschaft schuldig.“ Er hievte sich aus dem Stuhl. „Die Dinge haben sich geändert, Azhar.“

„Genau aus diesem Grund habe ich mich ja zu dieser Übergangszeit entschieden, um …“

„Du hast entschieden!“, zischte Kamal. „Zehn Jahre hast du dich nicht blicken lassen, und jetzt glaubst du, du kannst einfach zurückkommen und die Zügel wieder in die Hand nehmen, als seist du nur zehn Minuten weg gewesen. Du nimmst ständig Veränderungen an allen möglichen Dingen vor, obwohl vorher auch alles prächtig ohne deine Einmischung funktioniert hat. Zehn Jahre lang hast du in der Welt dein Glück gesucht und dich einen Dreck darum geschert, was hier geschieht, und dennoch erwartet, dass ich dein Erbe schütze. Zehn Jahre lang war ich hier, habe unseren Vater während seiner Krankheit unterstützt und die Verantwortung übernommen, als er zu schwach dafür war. Und was hast du getan? Du hast kein Recht, mich zu kritisieren oder über mich zu urteilen.“

„Kamal …“

„Du verdienst weder dieses Königreich noch seinen Reichtum. Du hast es nie gewollt. Es sollte mir gehören!“

„Kamal!“ Doch sein Bruder schob die Hand weg, mit der Azhar ihn hatte festhalten wollen, und stürmte die Treppe hinunter. „Trotz all deiner Wut hast du recht“, murmelte Azhar müde. „Ich habe nie regieren wollen und verdiene dieses Königreich nicht.“

Als Julia um die Ecke auf den Pfad zum Pavillon bog, stürmte Kamal ihr entgegen. Heftig schubste er sie zur Seite. Sein Gesicht war scharlachrot und verzerrt vor Zorn. Sie bückte sich, um ihr Kopftuch und ihre Zeichenutensilien aufzuheben, und schaute dem davoneilenden Prinzen verwundert nach.

„Bist du verletzt? Warte, ich helfe dir.“ Azhar, der seinem Bruder offensichtlich nachgeeilt war, bückte sich neben ihr.

„Danke, es ist nichts passiert. Aber warum in aller Welt ist er so aufgebracht?“

Azhar schüttelte den Kopf, geleitete sie zum Pavillon und schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. Auch Julia erwärmte sich allmählich für den bitteren Geschmack des tintenschwarzen Getränks. Schweigend wartete sie, während er in den Garten blickend ein paar Schlucke nahm und dabei mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Unter einem blau gestreiften Kaftan trug er heute eine dunkelblaue Hose. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Die geschwollene Ader an seiner Kehle und die geballte linke Hand waren die einzigen Anzeichen, dass in ihm ein Sturm tobte.

Schließlich bemerkte er ihren forschenden Blick und wandte sich ihr zu. „Zum Abschied hat er mich den Bastard eines Esels genannt, was dir vielleicht wie harmloser Spott erscheinen mag, aber in unserer Kultur eine grobe Beleidigung darstellt. Wenn man die Worte an einen zukünftigen König richtet, gilt es sogar als Hochverrat.“

„Dann wird ihm dieser Gedanke sicher eine schlaflose Nacht bereiten, sobald seine Wut abgekühlt ist und er sich der möglichen Folgen seines Ausbruchs bewusst wird.“

„Kamal weiß sehr gut, dass ich ihn nicht für etwas bestrafen würde, dass er in einem spontanen Wutausbruch geäußert hat, noch dazu in einem privaten Gespräch.“

„Ach ja? Dann hoffe ich, dass er dir dafür auch dankbar ist. Im umgekehrten Fall glaube ich, wäre er nicht so versöhnlich.“

„Nein, nein, du täuschst dich“, meinte Azhar. „Immerhin ist Kamal mein einziger Bruder.“

Julia setzte an, um Azhar ihre Meinung über Kamal zu sagen, überlegte es sich dann aber anders, als ihr der höchst unglückliche Vergleich mit Prinz George wieder in den Sinn kam. „Offenbar kennst du ihn besser als ich“, sagte sie in einem, wie sie hoffte, sachlichen Ton.

Ihre Hoffnung bestätigte sich nicht. „Ebenso offenbar glaubst du nicht daran“, sagte er. „Sag mir doch bitte deine Meinung.“

Die Ader an seinem Hals zuckte immer noch. „Nein“, sagte sie.

Autor

Marguerite Kaye

Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...

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