Die berüchtigten St. Claires

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Die adligen Geschwister St. Claire sind in der Londoner Gesellschaft berüchtigt! Was aber weder die drei Brüder noch ihre Schwester davon abhält, nach der Schlacht von Waterloo endlich die Liebe ihres Lebens zu finden.

EINE SKANDALÖSE LEIDENSCHAFT
Diese lodernde Hitze, dieses lustvolle Verlangen! Schockiert gesteht Jane sich ein, welch erregende Gefühle die berauschenden Zärtlichkeiten von Hawk St Claire, Duke of Stourbridge, in ihr wecken. Doch niemals darf sie seinen Verführungskünsten erliegen! Denn gewiss gedenkt er nicht, eine arme Waise wie sie zu seiner Duchess zu machen – erst recht nicht, wenn er die ganze skandalöse Wahrheit über sie erfährt …

VERFÜHRT VON EINEM SÜNDIGEN LORD
„Nur ein Kuss, Grace! Danach werde ich Ihr Schlafgemach sofort verlassen.“ Die unschuldige Debütantin Grace spürt eine rätselhafte Verlockung ob der unerhörten Forderung von Lord Lucian St Claire. Mit klopfendem Herzen lässt sie den attraktiven Frauenhelden gewähren. Natürlich nur, damit er wieder geht! Aber dann entfacht seine drängende Leidenschaft ein nie gekanntes sinnliches Feuer in ihr. Mit dramatischen Folgen …

WIE VERFÜHRT MAN EINE LADY?
Lady Juliet ist entschlossen, den Freuden der Lust für immer zu entsagen - bis sie Sebastian St Claire begegnet. Ebenso männlich wie charmant, weckt er in ihr sündige Gefühle, die die schöne Witwe selbst in den vertraulicheren Momenten ihrer Ehe nicht empfunden hat! Doch will Sebastian sie erobern, weil er sie begehrt? Weil er sie liebt? Oder weil er herausfinden möchte, warum die Gesellschaft sie als Schwarze Witwe ächtet?

LADY ARABELLAS GEHEIMES VERLANGEN
Skandal um Lady Arabella! Eben noch hat man sie in einer unziemlichen Situation ertappt. Jetzt gibt es nur eine Möglichkeit, ihren Ruf zu retten: Sie muss Darius Wynter, Duke of Carlyne, heiraten! Dabei munkelt man, der Duke sei in jeder Hinsicht alles andere als unschuldig. Sogar seine eigene Frau soll er ermordet haben! Dennoch: Arabella heiratet ihn - und wird schon kurz darauf in eine Reihe scheinbar tragischer Unfälle verwickelt ...


  • Erscheinungstag 10.05.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752915
  • Seitenanzahl 688
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Carole Mortimer

Die berüchtigten St. Claires

1. KAPITEL

1816, St Claire House, London

Ich gedenke nicht, in absehbarer Zeit zu heiraten, Hawk. Am allerwenigsten irgendein junges Ding, kaum aus dem Schulzimmer heraus, das du gnädigerweise für mich auswählst!“

Hawk St Claire, der zehnte Duke of Stourbridge, betrachtete das vor Wut gerötete Gesicht seines jüngsten Bruders. Sie saßen einander gegenüber an dem großen Schreibtisch mit der Lederplatte, der die Bibliothek im Stadthaus der St Claires beherrschte. Hawk verzog den Mund zu einem milden Lächeln, als er das rebellische Funkeln in Sebastians dunkelbraunen Augen bemerkte. „Ich wollte dich lediglich darauf aufmerksam machen, dass es höchste Zeit für dich ist, dir eine Frau zu suchen.“

Lord Sebastian St Claire spürte, wie er unter dem unbeugsamen Blick seines ältesten Bruders noch heftiger errötete. Aber ob es Hawk nun wünschte oder nicht, er war nicht bereit, sich zu einer Ehe zwingen zu lassen, die er nicht wollte. Wenn es ihm auch nicht leichtfiel, denn ein eisiger Blick aus den goldbraunen Augen seines Bruders hatte schon so manchen seiner Widersacher erzittern lassen, wenn dieser im Oberhaus das Wort ergriff.

„Schlag nicht diesen unerträglich herablassenden Ton an, Hawk, denn das zieht bei mir nicht!“ Sebastian lehnte sich scheinbar lässig in dem kunstvoll geschnitzten Sessel zurück. „Oder schenkst du mir jetzt bloß deine Aufmerksamkeit, um davon abzulenken, dass Arabella es nicht geschafft hat, in ihrer ersten Saison eine gute Partie zu machen?“, fügte er listig hinzu, da er wusste, dass seine achtzehnjährige Schwester sich hartnäckig weigerte, einen der vielen Anträge anzunehmen, die sie in den letzten Monaten erhalten hatte.

Ebenso wusste er, wie sehr Hawk seine Rolle als Arabellas gelegentlicher Begleiter gehasst hatte. Denn die Folge war gewesen, dass zur Heirat entschlossene Debütantinnen und deren ehrgeizige Mamas die unübliche Anwesenheit des Duke of Stourbridge als Ermutigung betrachtet hatten, Jagd auf ihn zu machen.

Bis Hawk auf seine selbstherrliche Art unmissverständlich klargestellt hatte, dass keine jener jungen Damen den hohen Ansprüchen genügte, die er an seine zukünftige Duchess stellte.

Hawk presste für einen Moment ungeduldig die Lippen zusammen. „Wir sprechen hier nicht über Arabella.“

„Dann sollten wir das vielleicht tun. Oder wie wäre es mit Lucian?“, brachte Sebastian seinen anderen Bruder ins Spiel. „Obwohl ja eigentlich du an der Reihe bist, Hawk“, fügte er hinzu. „Schließlich bist du der Älteste. Du hast den Titel geerbt, somit ist es für dich sogar noch wichtiger als für uns, dass du heiratest und einen Erben zeugst. Bist du nicht schon einunddreißig?“

Hawk sah mit seinen eins fünfundachtzig wie immer imponierend aus. Heute trug er einen schwarzen Gehrock, der so vollkommen seine breiten Schultern betonte, dass sein Schneider seine helle Freude daran haben musste. Die blassgraue Reithose brachte perfekt geformte Beine zur Geltung, und die Stiefel waren so hochglänzend poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Das dunkelblonde Haar war lässig und doch elegant frisiert; durchdringend blickende goldbraune Augen, eine gerade Nase, hohe Wangenknochen, ein fester, strenger Mund und ein markantes Kinn, das Entschlossenheit verriet, rundeten das eindrucksvolle Bild ab. Alles an Hawk unterstrich seinen Hochmut und seinen entschlossenen Charakter.

Jetzt allerdings hob er nur gelangweilt die Brauen. „In den vergangenen Monaten habe ich oft genug klargemacht, dass mir noch keine Frau begegnet ist, die der schweren Aufgabe, die Duchess of Stourbridge zu werden, gewachsen wäre. Außerdem habe ich in meinen jüngeren Brüdern bereits Erben für den Titel. So wie ihr euch allerdings in letzter Zeit benehmt, würde es mich ganz und gar nicht freuen, sollte einer von euch der nächste Duke of Stourbridge werden.“ Er bedachte Sebastian mit einem zurechtweisenden Blick.

Ein Blick, den Sebastian völlig ignorierte. „Sollten Lucian oder ich jemals der nächste Duke of Stourbridge werden, kann ich dich beruhigen, dass du es nicht mehr erleben wirst, Hawk“, meinte er trocken.

„Sehr amüsant, Sebastian. Aufgrund der … Ereignisse im vergangenen Monat wurde mir bewusst, dass ich es vernachlässigt habe, deine und Lucians Zukunft zu regeln.“

„Im vergangenen Monat? Was haben Lucian und ich denn getan, das so verschieden wäre von … Ah!“ Endlich dämmerte es ihm. „Beziehst du dich womöglich auf die reizende, kürzlich verwitwete Countess of Morefield?“

„Ein Gentleman spricht den Namen einer Dame nicht in diesem respektlosen Ton aus, Sebastian“, tadelte ihn Hawk. „Doch da du den Zwischenfall erwähnst: Ja, es könnte tatsächlich sein, dass ich mich auf dein verwerfliches Benehmen einer bestimmten, uns bekannten Dame gegenüber bezog.“ Sein Ton war eisig.

Sebastian grinste ohne einen Hauch von Reue. „Ich versichere dir, niemand hat unser Interesse ernst genommen, am allerwenigsten die Countess.“

„Wie dem auch sei, der Name der Dame war in mehreren Klubs in aller Munde – einschließlich meines eigenen. Viele eurer Freunde schlossen Wetten ab, wer von euch als Erster den Earl of Whitney im Schlafzimmer der Coun… der Dame ablösen würde.“

„Aber nur, weil weder ich noch Lucian wussten, dass wir beide der Dame Avancen machten.“ Sebastian zuckte die Achseln. „Wenn du dich allerdings dazu herabgelassen hättest, uns anzuvertrauen, dass auch du die Absicht hattest, es dir im besagten Schlafzimmer gemütlich zu machen, dann hätten Lucian und ich uns selbstverständlich zurückgezogen und es dir und Whitney überlassen, die Sache unter euch auszumachen.“

Hawk zuckte schmerzlich zusammen. „Sebastian, einmal mehr muss ich dich auf die Taktlosigkeit deiner Worte hinweisen.“

„Bei dem ganzen Gerede darüber, dass wir uns verheiraten müssten, ging es dir also bloß darum, dass Lucian und ich dir letzten Monat unabsichtlich in die Quere gekommen sind?“ Sebastian konnte kaum seine Belustigung verbergen, lenkte aber schnell ein, als er Hawks finstere Miene sah: „Allerdings glaube ich, du bist der … Reize der Dame bereits überdrüssig, oder?“

„Nach der Aufmerksamkeit, die du und Lucian auf die unglückliche Frau gelenkt habt, hielt ich es für besser, mich zurückzuziehen, um keinen Skandal heraufzubeschwören.“

„Wenn du nicht so verdammt heimlichtuerisch wärst, was deine Mätressen angeht, wäre das alles gar nicht passiert. Aber du kannst Gift darauf nehmen, Hawk, dass ich nicht heiraten werde, nur um deine empfindsamen Gefühle zu besänftigen.“

„Du benimmst dich völlig lächerlich, Sebastian.“

„Nein, Hawk.“ Sebastian wurde plötzlich ernst. „Wenn du nur etwas mehr darüber nachdenkst, würde dir bewusst werden, dass du derjenige bist, der sich lächerlich benimmt, indem du glaubst, du könntest für mich eine Frau aussuchen.“

„Ganz im Gegenteil, Sebastian. Ich bin davon überzeugt, dass ich dir damit sogar einen Gefallen tue. Tatsächlich habe ich für uns bereits eine Einladung von Sir Barnaby und Lady Sulby angenommen.“

„Ich nehme an, das sind die Eltern meiner zukünftigen Braut.“

„Olivia Sulby ist Sir Barnabys und Lady Sulbys Tochter, in der Tat.“

Kopfschüttelnd erhob Sebastian sich. „Dann, fürchte ich, musst du jegliche Einladung, die du in meinem Namen angenommen hast, wieder rückgängig machen.“ Er hielt entschlossen auf die Tür zu.

„Was tust du?“, sagte Hawk drohend.

„Ich gehe.“ Sebastian wandte sich um und betrachtete ihn kurz mitleidig. „Doch bevor ich gehe, habe ich dir noch einen Vorschlag zu machen.“ Er hielt an der offenen Tür inne.

„Einen Vorschlag?“ Hawk konnte, so ungewöhnlich es für ihn war, kaum seine Wut im Zaum halten, so sehr reizte ihn die Sturheit seines Bruders.

Sebastian nickte. „Sobald du verheiratet bist, und zwar glücklich verheiratet, verspreche ich dir, ebenfalls ernsthaft über eine Heirat nachzudenken.“ Beschwingten Schrittes verließ er die Bibliothek und schloss die Tür leise hinter sich.

Erschöpft lehnte Hawk sich im Sessel zurück und betrachtete eine ganze Weile die geschlossene Tür, bevor er nach der Brandykaraffe griff und sich eine beachtliche Menge einschenkte.

Verdammt.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Für gewöhnlich vermied er es, Einladungen aufs Land anzunehmen, sobald die Saison vorüber war und die Mitglieder des Oberhauses sich in die Sommerpause begaben. Auch dieses Mal hatte er nur deswegen eingewilligt, eine Woche bei den Sulbys in Norfolk zu verbringen, weil er Sebastian der jungen Frau vorstellen wollte, die vorzüglich geeignet wäre, dessen Braut zu werden.

Hawk war mit Sir Barnaby Sulby bekannt. Sie hatten schon mehrere Male gemeinsam in ihrem Klub gespeist. Während der Saison hatte sich allerdings keine Gelegenheit ergeben, auch die Frau und Tochter des Gentlemans kennenzulernen. Hawk wusste jedoch, dass Olivia Sulby nach dem Tod ihres Vaters Markham Park und die dazugehörigen tausend Morgen Land erben würde. Für den jüngeren Bruder eines Dukes eine wahrlich vorteilhafte Partie.

Doch Sebastian schien ja nicht die Absicht zu haben, sich zu vermählen, bevor er selbst ihm nicht mit gutem Beispiel vorangegangen war. Das bedeutete, dass er sich völlig grundlos verpflichtet hatte, eine Woche in Norfolk zu verbringen – in einer flachen und abwechslungslosen Moorlandschaft, so ganz anders als sein geliebtes Gloucestershire.

Die Aussicht darauf fand Hawk etwa so reizvoll wie den Gang zum Galgen.

„Da bist du ja, Jane. Trödle doch nicht so auf der Treppe herum, Mädchen!“

Lady Gwendoline Sulby, eine verblasste Schönheit in den Vierzigern, zeigte unumwunden ihre Ungeduld, als der Gegenstand ihrer Kritik auf der Treppe innehielt und weder herunterkam noch hinaufstieg. „Nein, nein, warte. Geh wieder nach oben und hole mir meine Stola, bevor unsere Gäste eintreffen. Das Seidentuch mit den gelben Rosenknospen. Mir scheint, das Wetter schlägt um, Sulby“, wandte sie sich besorgt an ihren beleibten Gatten, der in Erwartung ihrer Gäste neben ihr in der geräumigen Empfangshalle stand.

Sir Barnaby war zwanzig Jahre älter als seine Frau, und in diesem Moment schien er sich in seinem Hemd mit dem hohen Kragen und dem eng gebundenen Krawattentuch recht unbehaglich zu fühlen. Die gelbe Weste spannte sich schon fast gefährlich über seinem runden Bauch; der braune Gehrock und die cremefarbene Kniehose vermochten diesen Umstand kaum zu verbergen.

Armer Sir Barnaby, dachte Jane, während sie gehorsam wieder nach oben ging, um die gewünschte Stola zu holen. Sie wusste, ihr Vormund wäre so viel lieber mit seinem Verwalter draußen auf dem Gut unterwegs, statt in der zugigen Halle von Markham Park zu stehen und die Hausgäste zu begrüßen, die in Kürze eintreffen mussten.

„Bring mir auch meinen weißen Sonnenschirm mit, Jane“, rief Olivia streng. Sie war das Ebenbild ihrer Mama in jüngeren Jahren mit ihrer modisch üppigen Figur, den großen blauen Augen und den goldblonden Locken, die verführerisch das zarte, schöne Gesicht umschmeichelten.

„Schrei doch nicht so, Olivia. Das ist undamenhaft“, erklärte Lady Sulby empört. „Was würde der Duke denken, wenn er dich gehört hätte?“

„Aber du hast doch auch geschrien, Mama“, schmollte Olivia.

„Ich bin die Herrin des Hauses und darf schreien.“

Jane lächelte verhalten, während sie weiter die Treppe hinaufging. Das Gezänk zwischen Mutter und Tochter würde wohl, wie meistens, einige Minuten lang andauern. In der vergangenen Woche, während der Haushalt sich auf die Ankunft der Gäste vorbereitet hatte, war es oft zu Streitigkeiten gekommen, und meistens drehte es sich bei den Wortgefechten um Seine Gnaden.

Denn der Duke of Stourbridge würde der Ehrengast der Sulbys sein. Das Personal war immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass es Markham Park für die Ankunft „Seiner Gnaden, des Dukes“ putzte und schrubbte und polierte.

Jane selbst rechnete nicht damit, an den geplanten Vergnügungen teilnehmen zu dürfen oder dem erlauchten Duke auch nur vorgestellt zu werden. Sie war schließlich nur Jane Smith, eine zweiundzwanzig Jahre alte entfernte Verwandte, derer die Sulbys sich erbarmt hatten und der sie seit ihrem zehnten Lebensjahr, seit sie zu einer armen Waise geworden war, ein Heim boten.

Markham Park war ihr riesig und fremd vorgekommen, als Sir Barnaby und Lady Sulby sie damals hergebracht hatten. Ihre Kindheit hatte sie in viel bescheideneren Umständen in einem kleinen Pfarrhaus an der Südküste verbracht, liebevoll aufgezogen von ihrem verwitweten Vater und seiner ältlichen, mütterlichen Haushälterin.

Allerdings hatte Jane sich damit getröstet, dass das Meer von Markham Park aus leicht zu Fuß zu erreichen war. Wann immer sie den wachsamen Augen Lady Sulbys entkommen konnte, eilte sie an die raue Küste und genoss ihre wilde, ungezähmte Schönheit.

Schon bald hatte Jane festgestellt, dass sie den Winter in Norfolk am liebsten hatte – wenn das Meer sich gegen die Grenzen der Natur aufzubäumen schien, so wie auch ein Teil in ihr sich danach sehnte, sich gegen die gesellschaftlichen Beschränkungen aufzulehnen. Nachdem sie das Spiel- und danach das Schulzimmer mit Olivia geteilt hatte, bis sie etwa sechzehn Jahre alt war, wurde sie auf einmal nicht mehr behandelt, als wäre sie ihr ebenbürtig. Vielmehr war sie plötzlich zur Zofe und Gesellschafterin der verwöhnten, verhätschelten Tochter des Hauses degradiert worden.

Vor dem Standspiegel in Lady Sulbys Schlafzimmer hielt Jane einen Moment inne und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. Nichts an ihr entsprach der gegenwärtigen Mode: Zunächst einmal war sie hochgewachsen, mit langen Beinen und einer schlanken Figur. Ihr Haar, von dem sie gern behauptet hätte, es sei von einem warmen Rotbraun, leuchtete leider unübersehbar rot. Zwar schimmerte ihre Haut zart und makellos, doch die kleine Nase war von unattraktiven Sommersprossen übersät. Noch dazu waren ihre Augen grün.

Die Kleider, die Lady Sulby für sie hatte anfertigen lassen, schienen all diese Nachteile noch zu betonen. Sie waren fast ausschließlich in Pastelltönen gehalten, die überhaupt nicht zu ihrer lebhaften Haarfarbe passten. Auch das Kleid, das sie gerade trug, war vom blassesten Rosa, das man sich nur denken konnte, und biss sich aufs Ärgste mit ihrem roten Haar.

Andererseits ist es ohnehin mehr als unwahrscheinlich, dass ich jemandem begegnen werde, der mich bemerkt oder gar heiraten will, dachte Jane. Es sei denn, der hiesige Pfarrer erbarmte sich ihrer und hielt um sie an. Und da er ein Witwer mittleren Alters und Vater von vier ungebärdigen kleinen Kindern war, hoffte sie von ganzem Herzen, dass er es nicht tat.

Sie seufzte tief auf, während sie Lady Sulbys Stola von der Frisierkommode nahm und dabei bemerkte, dass das Schmuckkästchen noch nicht an seinen Platz in der obersten Schublade zurückgelegt worden war.

Doch dann wurde sie vom Geräusch einer sich nähernden Kutsche abgelenkt. Waren endlich der Duke und sein Bruder Lord Sebastian St Claire angekommen? Oder einer der anderen Gäste?

Voller Neugierde trat Jane ans Fenster. Eine riesige, prächtige schwarze Kutsche, gezogen von den vier schönsten Rappen, die Jane je gesehen hatte, rollte heran. Der Mann auf dem Kutschbock und die zwei Diener, die hinten aufsaßen, trugen ebenfalls schwarze Livreen, und ein herzogliches Wappen prangte an der Tür.

Also war es tatsächlich der Duke.

Offenbar gefällt ihm Schwarz wirklich gut, dachte Jane, gab der Versuchung nach und schob den Brokatvorhang leicht beiseite, um sehen zu können, wie der Duke der Kutsche entstieg.

Ein Diener sprang behände von seinem Sitz, um ihm die Tür aufzuhalten, und aus einem unerklärlichen Grund schien ihr Herz plötzlich schneller zu schlagen. Tatsächlich schlug es sogar recht unregelmäßig, wie sie stirnrunzelnd feststellte. Nur in der Erwartung, einen Duke zu sehen? War ihr Leben wirklich so langweilig?

Sie lächelte über sich selbst, als ihr aufging, dass es in der Tat sehr aufregend sein würde, den berühmten Duke of Stourbridge zumindest einmal zu Gesicht zu bekommen.

Ihr stockte der Atem, als er im nächsten Moment in der Tür erschien, den Kopf leicht gebeugt, sich beim Aussteigen zu seiner beeindruckenden Größe aufrichtete und den Hut von dem wartenden Diener entgegennahm, während er sich mit deutlich gelangweilter Miene umsah.

Liebe Güte, wie groß er ist, war Janes erster atemloser Gedanke. Gleich darauf stellte sie fest, dass er, mit den goldblonden Strähnen im mahagonifarbenen Haar, den breiten Schultern und der athletischen Gestalt, auch der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte. Seine Züge waren selbstverständlich ernst, wie es sich für einen Duke ziemte, der mindestens schon dreißig Jahre zählen mochte, aber dennoch war sein Gesicht so auffallend gut aussehend, dass es Jane die Sprache verschlug.

Tatsächlich schien es ihr nicht möglich zu sein, ihn nicht anzustarren.

Trotz der Arroganz, die er ausstrahlte, während er seine Umgebung mit unverkennbarer Geringschätzung betrachtete, war sein Blick klar und intelligent. Die Farbe seiner Augen konnte Jane allerdings nicht ausmachen. Umso deutlicher sah sie hingegen, wie er fest die Lippen zusammenpresste und die Brauen erstaunt hob, als er seine Gastgeberin hastig die Treppe heruntereilen sah, statt dass sie darauf wartete, dass er ihr angemessen angekündigt wurde.

„Euer Gnaden!“ Lady Sulby versank in einen tiefen Knicks und erhielt nur ein knappes Nicken als Antwort. „Welche Ehre“, plapperte sie weiter. „Ich … Aber wo ist Ihr Bruder Lord St Claire, Euer Gnaden?“ Ihre Stimme klang ein wenig schrill, sobald sie festgestellt hatte, dass kein anderer Gast in der Kutsche des Dukes saß.

Jane konnte seine Antwort nicht verstehen, sondern vernahm nur den Klang seiner tiefen Stimme, während er offenbar seiner Gastgeberin erklärte, weshalb er allein gekommen war.

Ach herrje. Anscheinend verlief nicht alles nach Plan – nicht nach Lady Sulbys Plan zumindest. Und eine bereits verstimmte Lady Sulby durfte man nicht noch weiter verärgern, indem man ihr die Stola zu spät brachte.

Schnell ging Jane den Gang hinunter in Olivias Zimmer und holte den Sonnenschirm, bevor sie die breite Treppe hinuntereilte. Sie sah, dass Sir Barnaby sich zu seinem Gast gesellt hatte.

Lady Sulby hatte oft ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht, Olivia könnte einen vorteilhaften Eindruck auf den jüngsten Bruder des Dukes machen. Und jetzt, da Lord Sebastian St Claire nicht erschienen war, würde Lady Sulby gewiss in jene Missstimmung verfallen, die die Dienerschaft bei der ersten Gelegenheit Zuflucht in der Küche suchen ließ. Jane wusste, dass ihr selbst leider nicht erlaubt sein würde, sich zurückzuziehen, bevor sie Olivia für das Dinner frisiert und ihr beim Ankleiden geholfen hatte.

Gewöhnlich nahm sie die Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie ein, allerdings hatte Lady Sulby sie erst heute Morgen darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie nach der Ankunft der Gäste unten bei den Dienern speisen sollte.

Was ihr nicht das Geringste ausmachte. Besonders, da ich kein einziges Kleid besitze, das ich für ein Mahl mit einem Duke hätte tragen können, sagte Jane sich insgeheim schmunzelnd. Wenn es ihr jetzt gelang, die Stola zu überreichen, während der Duke noch in ein Gespräch mit seinen Gastgebern versunken war, konnte sie vielleicht einer Zurechtweisung durch Lady Sulby entgehen.

Später konnte Jane sich nicht erklären, wie es geschehen war. Oder warum. Sie wusste nur, dass sie plötzlich die Treppenstufen nicht mehr unter ihren Füßen spürte. Statt die Treppe hinunterzulaufen, taumelte sie und wäre beinahe nach unten gestürzt – wenn sie nicht zwei starke Arme gepackt und gerade noch rechtzeitig festgehalten hätten.

Im nächsten Moment schlug sie gegen eine harte Männerbrust, ihre Nase schob sich zwischen die weichen Falten eines kunstvoll gebundenen, makellos weißen Krawattentuchs, aus dem ihr der angenehme Duft nach Cologne, Seife und Tabak entgegenschwebte.

Zu ihrem Entsetzen handelte es sich um die Brust des Duke of Stourbridge und um sein Krawattentuch. Hastig bemühte sich Jane, sich wieder aufzurichten, blickte in sein aristokratisch strenges Gesicht und stellte fest, dass seine Augen die außergewöhnlichste Farbe aufwiesen, die sie je gesehen hatte. Sie waren von einem auffallend kräftigen Goldton, weder braun noch haselnussbraun, sondern tiefes, durchdringendes Gold, umgeben von einem viel dunkleren Braun, das ihn irgendwie aussehen ließ wie einen Raubvogel – einen großen, gefährlichen Raubvogel …

Hawk presste unwillkürlich die Lippen zusammen bei diesem unerwarteten Zusammenstoß. Die letzten zwei Tage hatte er fast ununterbrochen in seiner Kutsche verbringen müssen, um sich trotz bequemer Federung auf den unebenen Straßen kräftig durchrütteln zu lassen. In diesem Augenblick wünschte er sich nur, auf sein Zimmer geführt zu werden und ein Bad nehmen zu dürfen, bevor er zum Dinner wieder herunterkam und ihm die übrigen Gäste vorgestellt wurden. Leider hatte seine Gastgeberin, eine ihm bis heute noch völlig unbekannte Frau, vor wenigen Minuten einen erschreckenden Mangel an guter Erziehung bewiesen, indem sie ihn regelrecht überfallen hatte, kaum dass er der Kutsche entstiegen war.

Er hatte lange überlegt, ob es weise wäre, nach Markham Park zu kommen. Dass sich ihm jetzt auch noch eine der Bediensteten des Sulby-Haushalts praktisch in die Arme warf, zeigte doch nur, wie gerechtfertigt seine Bedenken gewesen waren.

„Es tut mir sehr leid, Euer Gnaden.“ Das Mädchen war atemlos, ihre Miene verriet Entsetzen, ihr Blick glitt besorgt zu Sir Barnaby und Lady Sulby, die sich gerade mit Lord und Lady Tillton unterhielten. Das Paar war mit seinem Sohn Simon angekommen, gerade als Hawk einem Lakaien folgen wollte, der ihn zu seiner Suite führen sollte. Doch jetzt war der Diener diskret zur Seite getreten und wartete wohl auf Anweisungen.

Gewiss war Hawk es nicht gewohnt, so rücksichtslos angerempelt zu werden, aber jetzt erkannte er, dass das Mädchen tatsächlich gestolpert sein musste. Hätte er nicht zufällig am Fuß der Treppe gestanden, das arme Ding wäre böse gestürzt. Seinetwegen brauchte sie also auf keinen Fall so ängstlich auszusehen.

Allerdings galt ihre Nervosität wohl eher Sir Barnaby und Lady Sulby. Hawk presste die Lippen nur noch grimmiger zusammen. Bei den seltenen Gelegenheiten, da er mit Sir Barnaby gespeist hatte, hatte dieser sich als angenehmer, ja sogar gemütlicher Gentleman erwiesen. Also musste er annehmen, dass es Lady Sulby war, die dem armen Dienstmädchen solche Angst machte.

„Es tut mir wirklich sehr leid, Euer Gnaden“, wiederholte die junge Frau und bückte sich nach etwas, das ihr beim Zusammenstoß aus den Händen gefallen sein musste. „Ich … Oh, verzeihen Sie, Euer Gnaden!“ Sie keuchte erschrocken auf, als sie ihm den Sonnenschirm versehentlich in den Magen rammte.

Hawk sog scharf den Atem ein und fragte sich ungläubig, ob die letzten Minuten ein Vorgeschmack auf seinen Aufenthalt in diesem grauenhaften Haus sein würden, das noch dazu in einer Gegend stand, die genauso flach und uninteressant war, wie er gefürchtet hatte.

Auch Briefe schienen nicht prompt geliefert zu werden. Seine Nachricht, dass sein Bruder Sebastian nicht mit ihm kommen konnte, war ja offensichtlich nicht angekommen, und er war gezwungen gewesen, Sebastians Entschuldigung persönlich vorzubringen.

Lady Sulby hatte keinen besonders guten Eindruck auf ihn gemacht, und auch Olivia Sulby schien genau zu jener Art alberner junger Damen zu gehören, die er unaussprechlich ermüdend fand. Unwillkürlich fragte Hawk sich gereizt, ob Sebastian irgendetwas über diese Familie wusste, das er ihm nicht mitgeteilt hatte.

Jane unterdrückte ein Aufstöhnen, als sie den ärgerlichen Gesichtsausdruck des Dukes sah. Sie hatte ihn nicht nur fast umgerissen, sondern ihm auch noch den dummen Sonnenschirm in den Bauch gestochen.

Zum Glück hatten weder Lady Sulby noch Olivia etwas gemerkt, da sie sich noch immer einige Meter entfernt mit den Tilltons unterhielten. Flehentlich sah sie den Lakaien an, wandte aber hastig wieder den Blick ab, als der sonst so ausdruckslose John ihr amüsiert zuzwinkerte.

„Wenn Sie mir bitte hier entlang folgen wollen, Euer Gnaden? Ich zeige Ihnen Ihre Räume.“ John trat beiseite, damit der Duke an der vor Schreck erstarrten Jane vorbeischlüpfen konnte, und führte ihn die breite Treppe hinauf.

Jane entspannte sich ein wenig. Erleichtert schenkte sie John ein dankbares Lächeln, doch plötzlich wandte der Duke sich halb um und bedachte sie wieder mit einem kühlen Blick aus jenen durchdringenden goldbraunen Augen.

Ihr Lächeln erstarb. Sie drückte den Sonnenschirm und die Stola an sich und war einige Augenblicke lang wie gebannt von dem durchdringenden Blick des Dukes. Er musterte sie vom roten Haar bis zu den Füßen, presste die wohlgeformten Lippen noch fester zusammen und wandte sich ab, um auf seine unnachahmbar elegante Art weiter die Treppe hinaufzugehen.

Jane atmete zitternd, noch immer den Blick auf ihn geheftet. Ihr war seltsam heiß, ihr Puls raste, während sie die breiten Schultern des Dukes bewunderte und sein dunkelblondes Haar, das sich modisch im Nacken …

„Du meine Güte, Jane. Ich bat dich um mein Tuch mit den rosa Rosen, nicht den gelben.“ Lady Sulby hatte sie offenbar auf der Treppe entdeckt. „Wirklich!“ Sie wandte sich vertraulich an die Tilltons. „Ich muss schon sagen, das Mädchen versteht nicht einmal die einfachsten Anweisungen.“

Jane wandte sich wortlos zur Treppe um, obwohl sie wusste, dass sie Lady Sulby keineswegs missverstanden hatte. Aber es hätte keinen Sinn, ihr zu widersprechen. Ganz besonders nicht vor Gästen. Sie errötete noch heftiger, als sie die oberste Stufe erreichte, wo der Duke stehen geblieben war und den Flur hinunterschaute.

„Euer Gnaden.“ Jane neigte höflich den Kopf und eilte an ihm vorbei, sich nur allzu sehr bewusst, wie deutlich ihre Sommersprossen zu sehen waren, wenn sie rot wurde. Nicht dass sie annahm, dass es dem Duke of Stourbridge auffallen würde. Sie war viel zu unbedeutend, als dass er einen Grund hätte, ihre Existenz zu bemerken.

Falls es ihr gelang, hieß das, ihm während der Zeit seines Aufenthalts nicht noch einmal in die Arme zu fallen oder ihn mit einem Sonnenschirm anzugreifen.

Wie konnte ich mich nur so unbeholfen, so unelegant, so völlig ohne Anmut verhalten? Jane setzte sich auf Lady Sulbys Himmelbett, weil ihr die Knie zitterten, ließ Schultertuch und Sonnenschirm auf die Decke neben sich fallen und legte beide Hände an die heißen Wangen. Der Duke musste sich dieselbe Frage gestellt haben, wie sie seinem verächtlichen Blick hatte ansehen können.

Oh nein, es war fürchterlich. Zu entsetzlich, um auch nur daran zu denken. Am liebsten würde sie sich in ihrem Zimmer verstecken und nicht herauskommen, bis jene schöne schwarze Kutsche mit dem herzoglichen Wappen und ihrem erlauchten Insassen sich wieder auf den Weg nach London begab.

„Was tust du denn nur, Jane?“ Verblüfft hielt Lady Sulby an der offenen Tür zu ihrem Schlafgemach inne. Schuldbewusst sprang Jane auf.

Der misstrauische Blick ihrer Tante blieb an dem Schmuckkästchen hängen, das nach wie vor auf der Kommode stand. Jane hatte es vorhin schon in die noch immer offene Schublade legen wollen, es in der Aufregung um die Ankunft des Dukes jedoch völlig vergessen.

„Hast du dir etwa meine Juwelen angesehen?“ Lady Sulby durchquerte schnell den Raum und öffnete den Deckel des Kästchens.

„Nein, selbstverständlich nicht“, antwortete Jane, fassungslos über die Anschuldigung.

„Bist du sicher?“

„Vollkommen. Clara muss das Schmuckkästchen draußen gelassen haben.“

Nach einem weiteren forschenden Blick legte Lady Sulby die Schatulle in die Schublade zurück und schloss sie heftig. „Wo ist meine Stola, Mädchen? Und du hast Olivia noch nicht den Sonnenschirm gebracht.“

„Den brauche ich, um Lady Tillton und Simon Tillton in den Rosengarten zu begleiten.“ Olivia stand lächelnd an der offenen Tür.

Jane hatte das Mädchen bis zu diesem Moment nicht bemerkt. Zu sehr kreisten ihre Gedanken um Lady Sulbys Vorwürfe. Schnell reichte sie Olivia den Sonnenschirm.

Wie kommt Lady Sulby auch nur auf den Gedanken, mich so zu verdächtigen, fragte sich Jane. Soweit sie wusste, befanden sich in dem Kästchen der kostbare Familienschmuck der Sulbys und einige Dokumente. Weder das eine noch das andere war für Jane von irgendeinem Interesse.

„Es ist wirklich zu schade, dass Lord St Claire Seine Gnaden nicht begleitet“, bemerkte Lady Sulby seufzend, nachdem Olivia nach unten geeilt war. „Besonders, da ich nun gezwungen bin, meine gesamte Tischordnung für heute Abend umzustellen. Nun, gegen die Grippe kann man nichts tun. Und ich glaube sogar, der Duke war selbst ganz eingenommen von Olivia“, fügte sie triumphierend hinzu. „Wäre das nicht eine großartige Partie?“

Darauf antwortete Jane wohlweislich nichts, da Lady Sulby wohl kaum Wert auf ihre Meinung legte. Allerdings hieß das nicht, dass sie keine hatte. Der Gedanke, ein so hochmütiger, stolzer Mann wie der Duke könnte sich je zu der hübschen, aber völlig eigensüchtigen Olivia hingezogen fühlen, geschweige denn sie heiraten wollen, war schlicht und einfach lächerlich.

„Warum stehst du immer noch da rum, Jane?“, fuhr Lady Sulby sie gereizt an. „Siehst du denn nicht, wie aufgebracht ich bin? Sehr wahrscheinlich werde ich meine Migräne bekommen und mich den ganzen Abend nicht um meine Gäste kümmern können!“

„Soll ich Clara kommen lassen?“ Jane wusste, dass Lady Sulbys Zofe, eine Dame mittleren Alters, die Gwendoline Simmons bei ihrer Heirat mit Sir Barnaby vor fünfundzwanzig Jahren zu ihrem neuen Haus begleitet hatte, der einzige Mensch war, der mit Lady Sulby fertigwurde, wenn jene von ihren „Migränen“ heimgesucht wurde.

Was häufig genug geschah, sich gewöhnlich aber schon durch ein oder zwei Gläser von Sir Barnabys bestem Cognac lindern ließ. Natürlich nur aus medizinischen Gründen, dachte Jane belustigt.

„Ich weiß nicht, welchen Anlass du haben könntest, zu lächeln, Jane.“ Lady Sulby sank in einen Sessel nieder, die Hand dramatisch an die Stirn gehoben, um die Augen vor der Sonne zu schützen. „Du tätest besser daran, dich auf dein Zimmer zu begeben und dich zum Dinner umzuziehen. Du weißt, ich kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen.“

Verwundert runzelte Jane die Stirn. „Sagten Sie nicht, dass ich heute Abend unten mit der Dienerschaft …“

„Hörst du mir denn überhaupt nicht zu, Mädchen?“ Lady Sulbys Stimme bekam wieder einen schrillen Unterton. „Der Duke ist ohne seinen Bruder erschienen, sodass wir dreizehn Person bei Tisch wären. Etwas, das ich nicht einen Moment in Betracht ziehen möchte.“ Sie erschauderte. „Also wirst du dich zu uns gesellen müssen. Natürlich gibt es so weniger Herren als Damen, was völlig unmöglich ist, aber es wird nun einmal sein müssen, bis morgen unsere anderen Gäste eintreffen.“

Jane wurde blass, sobald ihr der Sinn dieser Worte aufging. „Sie meinen, Ma’am, dass ich heute Abend am Dinner teilnehmen soll, weil Lord St Claire unpässlich ist?“

„Ja, ja, das sage ich doch. Was ist nur los mit dir, Mädchen?“

Schon der Gedanke, am selben Tisch sitzen zu müssen wie der einschüchternde Duke of Stourbridge, ließ Jane unruhig schlucken. Nach ihrer unglücklichen Begegnung auf der Treppe war es gewiss sein innigster Wunsch, sie nie wieder zu Gesicht zu bekommen!

Wie Lady Sulby bereits bemerkte, es wäre wirklich völlig unmöglich.

„Ich habe nichts Passendes anzuziehen …“

„Unsinn, Kind“, unterbrach Lady Sulby sie ungehalten. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach. „Was ist mit meinem gelben Kleid, das Clara für dich geändert hat? Das würde gewiss genügen.“

Bei dem Gedanken an das abgelegte gelbe Kleid sank Jane der Mut. „Ich würde mich wirklich nicht wohlfühlen unter Ihren vornehmen Gästen …“

„Deine Gefühle stehen hier nicht zur Debatte!“ Die Röte in Lady Sulbys Gesicht vertiefte sich beunruhigend. „Du wirst tun, was man dir sagt, Jane, und uns unten beim Dinner Gesellschaft leisten. Hast du verstanden?“

„Ja, Ma’am.“ Janes Magen zog sich unruhig zusammen.

„Gut. Und nun schick Clara zu mir.“ Lady Sulby ließ sich erneut in die Polster sinken und schloss die Augen. „Sag ihr, dass ich wieder eins ihrer Mittel benötige.“

Erst draußen auf dem Gang erlaubte Jane sich, der Verzweiflung nachzugeben. In diesem schrecklichen gelben Kleid sollte sie zum Dinner hinuntergehen! Und sich darin ausgerechnet dem kritischen Blick des arroganten, aber verheerend attraktiven Duke of Stourbridge stellen.

2. KAPITEL

Ist das eine Art Partyspiel? Oder überlegen Sie lediglich, welche außerordentlichen Freuden Sie mir später am Abend bereiten können?“, wandte Hawk sich spöttisch an die Frau, die hinter einer Topfpflanze zu seiner Linken stand – oder versteckte sie sich gar? „Womöglich beabsichtigen Sie, während des Essens ein Glas Wasser über mich zu schütten? Oder vielleicht wäre heißer Tee später am Abend mehr nach Ihrem Geschmack? Ja, ich bin sicher, heißer Tee würde sehr viel größeres Unbehagen hervorrufen als ein Glas Wasser. Die Topfpflanze ist wirklich kein sehr gutes Versteck, wissen Sie“, fügte er hinzu, als keine Antwort kam.

Seine Laune hatte sich seit seiner Ankunft nicht gebessert. Sein Badewasser war heiß gewesen, aber die Wanne nicht voll genug. Auch sein Kammerdiener Dolton war nicht besonders glücklich über ihre Unterkunft. Er hatte ihn in seiner Aufregung doch tatsächlich beim Rasieren geschnitten, zum ersten Mal in all den Jahren seines Dienstes bei ihm.

Inzwischen hatte sich seine Stimmung allerdings ein wenig gehoben. Hawk hatte sich gerade mit Lady Ambridge unterhalten, einer älteren und recht freimütigen Dame, die er seit Langem kannte, als plötzlich eine fast geisterhaft anmutende, gelb gewandete Gestalt von einer übergroßen Topfpflanze zur nächsten huschte. Sie versucht wohl, nicht bemerkt zu werden, vermutete er. Allerdings erreichte sie selbstverständlich genau das Gegenteil.

Neugierig hatte er sich bei Lady Ambridge entschuldigt, war an das andere Ende des Raums geschlendert und neben der Pflanze stehen geblieben, hinter der sich das flüchtende Geschöpf gerade verbarg.

Ein einziger Blick hatte genügt, um ihm zu enthüllen, dass es sich um niemand anderen als die junge Frau handelte, die vorhin so schmerzhaft mit ihm zusammengestoßen war und ihm gleich darauf einen noch schmerzhafteren Hieb mit dem Sonnenschirm verabreicht hatte. Die Tatsache, dass sie offenbar doch kein Hausmädchen war, sondern vielmehr einer der Gäste, überraschte ihn ebenso wie das eigentümliche Benehmen, das sie seit ihrer Ankunft im Salon an den Tag legte.

Zu seinem eigenen Erstaunen war er mehr als neugierig, den Grund dafür zu erfahren. „Sie können genauso gut hervorkommen, wissen Sie“, meinte Hawk gelassen.

Dieses Mal erhielt er zumindest eine Antwort. „Das möchte ich lieber nicht!“

„Sie ziehen nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich, wenn Sie es nicht tun“, fügte er sachlich hinzu.

„Ich denke, es sind eher Sie, der Aufmerksamkeit auf uns beide zieht!“, widersprach sie ihm entrüstet.

Wahrscheinlich stimmte das sogar. Hawk musste zugeben, dass er als Lady Sulbys prominentester Gast die meisten Blicke auf sich zog. Als Duke of Stourbridge war er selbstverständlich an derartige Aufmerksamkeit gewohnt und hatte im Lauf der Jahre gelernt, nicht darauf zu achten. Die junge Dame hinter der Topfpflanze verfügte allerdings kaum über diesen gesellschaftlichen Vorteil.

„Vielleicht möchten Sie mir erklären, warum Sie das Bedürfnis verspüren, sich hinter Topfpflanzen zu verstecken?“

„Könnten Sie bitte einfach gehen und mich in Ruhe lassen? Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Euer Gnaden“, fügte sie schuldbewusst hinzu, da ihr wohl etwas verspätet einfiel, mit wem sie in diesem Ton sprach.

Aus einem unerklärlichen Grund verspürte Hawk plötzlich den Wunsch, laut aufzulachen.

Und da er in letzter Zeit kaum Gelegenheit hatte, im Gespräch mit einer Frau zu lächeln, geschweige denn zu lachen, überraschte ihn dieser Wunsch durchaus. Seit er vor zehn Jahren, nach dem Tod seiner Eltern, den Titel geerbt hatte, hatte er erkennen müssen, dass Frauen eher selten zu seiner Erheiterung beitrugen.

Er seufzte. „Sie können sich wirklich nicht den ganzen Abend über verstecken, wissen Sie.“

„Ich kann es versuchen.“

„Aber warum wollen Sie das tun?“ Seine Neugier war endgültig geweckt.

„Wie können Sie mich das fragen?“

Erstaunt hob er die Augenbrauen. „Weil es eine vernünftige Frage ist unter diesen Umständen?“

„Das Kleid“, antwortete sie in tragischem Ton. „Ihnen ist doch gewiss das Kleid aufgefallen.“

Nun ja, es wäre schwierig gewesen, ein so grellgelbes Gebilde nicht zu bemerken, zumal alle anderen Damen heute Abend sanfte Pastellfarben trugen und Miss Olivia Sulby jungfräuliches Weiß. Das Gelb wirkte außerdem recht unvorteilhaft in Kombination mit dem leuchtend roten Haar des Mädchens.

„Bitte gehen Sie, Euer Gnaden!“

„Ich fürchte, das kann ich nicht.“

„Warum nicht?“

Hawk wollte nicht zugeben, dass er ein unerklärliches Interesse an dieser seltsamen jungen Frau hatte. Er warf ihr einen forschenden Blick zu. „Hat Ihnen Ihre Schneiderin nicht gesagt, wie wenig Ihnen Gelb steht, als Sie das Kleid bestellten?“

„Nicht ich habe das Kleid bestellt, sondern Lady Sulby.“ Sie klang verärgert, dass er nicht von selbst darauf gekommen war. „Keine Schneiderin, die ihr Geld wert ist, würde einer rothaarigen Kundin ein knallgelbes Kleid aufschwatzen und die arme Frau wie eine wandelnde Zitrone herumlaufen lassen!“

Dieses Mal konnte Hawk sein Lachen nicht unterdrücken. Mehrere Gäste wandten neugierig den Kopf. Jane war sich der Blicke nur allzu bewusst und wünschte von ganzem Herzen, der Duke möge endlich gehen.

Das Kleid sah sogar noch schlimmer an ihr aus, als sie befürchtet hatte, und das gelbe Haarband, das Lady Sulby ihr dazugegeben hatte, machte das Unglück noch größer.

Jane hatte keine Wahl gehabt. Sie musste am Dinner teilnehmen, wenn sie nicht wollte, dass Lady Sulby ihr das Leben zur Hölle machte. Sosehr sie allerdings versucht hatte, sich im Verborgenen zu halten, die unerwünschte und ganz und gar unerklärliche Neugier des Duke of Stourbridge hatte sie nicht vorhersehen können. Und jetzt machte er sich auch noch auf ihre Kosten lustig, was unter den Umständen besonders grausam war.

„Sie sollten wirklich herauskommen“, fuhr er ungerührt fort. „Wir können wohl sicher davon ausgehen, dass es keine einzige Person im Raum gibt, der mein Gespräch mit der farbenfrohen Topfpflanze nicht aufgefallen wäre.“

Jane presste betroffen die Lippen zusammen. Er hatte natürlich recht. Es hatten wohl alle mitbekommen, wie er offenbar mit einer Grünpflanze sprach und sogar laut über deren Bemerkungen lachte. Umso unfreundlicher von ihm, sich jetzt nicht zurückzuziehen und sie in ihrem Elend in Ruhe zu lassen.

Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als auf seinen Rat zu hören und aus ihrem Versteck hervorzutreten. Empört stellte sie fest, dass der Duke sich keine Mühe gab, seinen Abscheu zu verbergen, während er bedächtig ihre Erscheinung erfasste – von der gelben Schleife, die ihr rotes Haar schmückte, bis zur Spitzenrüsche am Saum über ihren Slippern.

„Du meine Güte, es ist schlimmer, als ich dachte.“ Er verzog den Mund.

„Sie sind ausgesprochen unfreundlich, Euer Gnaden.“ In ihrer Empörung liefen ihre Wangen noch dunkler an.

Er neigte nur hochmütig den Kopf. „Ich fürchte sehr, das stimmt.“

Verblüfft starrte sie ihn an. „Sie entschuldigen sich nicht einmal dafür?“

„Was hätte das für einen Sinn?“ Er zuckte mit den breiten Schultern, die durch den exquisiten Schnitt seines schwarzen Abendfracks noch betont wurden. „Doch ich bin Ihnen gegenüber im Nachteil …“

Jane schnappte nach Luft. „Ganz im Gegenteil, Euer Gnaden. Wenn sich hier jemand im Nachteil befindet, dann ich.“

Flüchtig glitt Hawks Blick zum tiefen Ausschnitt ihres Kleides und dem Ansatz ihrer Brüste – verlockend volle Brüste, wenn man ihre ansonsten so schlanke Erscheinung bedachte –, dann sah er ihr wieder forschend ins Gesicht. Wie ihre Haarfarbe und ihre Figur entsprach auch ihr Gesicht nicht dem aktuellen Geschmack. Dennoch fand er die dunkelgrünen Augen mit den dichten Wimpern fesselnd. Ihre schmale Nase war gesprenkelt mit Sommersprossen, wie man es bei ihrer lebhaften Haarfarbe erwarten durfte, und ihr Mund war zwar ein wenig zu groß, wirkte jedoch dank der vollen Lippen sinnlich.

Nein, sie entsprach nicht dem süßen blonden Schönheitsideal, das gerade en vogue war – und das er an Olivia Sulby so wenig ansprechend fand –, aber diese junge Dame besaß jene Art von Schönheit, die selbst in hohem Alter nicht verloren ging.

In nur wenigen Augenblicken kam er zu diesem Schluss, was an sich schon erstaunlich war, denn gemeinhin sah er in Frauen lediglich einen praktischen Nutzen. Mit einer Frau vergnügte man sich in den wenigen freien Stunden, die man sich neben seinen Pflichten gestattete.

Seine Verbindung mit der Countess of Morefield war kurz und eher unbefriedigend verlaufen, sodass er zu der Überzeugung gelangt war, die Ansprüche einer Geliebten stünden einfach in keinem Vergleich zu der Mühe, die es kostete, sie überhaupt zu gewinnen.

Was diese junge Frau anging, stellte er fest, sie könnte tatsächlich – unter den richtigen Umständen, und wenn man sie angemessen kleidete und frisierte – seiner Aufmerksamkeit wert sein.

Nur dass er noch immer nicht wusste, wer sie war. In jedem Fall war sie einige Jahre älter als die kleinen Hohlköpfe von Olivia Sulbys Format, die Almack’s unsicher machten. So wie Lady Sulby vorhin mit ihr gesprochen hatte, schien sie zum Haushalt zu gehören, wenn er sich auch nicht denken konnte, in welcher Stellung. Olivia Sulby, so viel wusste er bereits, war ein Einzelkind, also konnte dieses ungewöhnlich freimütige Geschöpf nicht Sir Barnabys Tochter sein.

Vielleicht Lady Sulbys Tochter aus einer früheren Ehe? Andererseits gab es nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen der drallen Gastgeberin und seinem aufregenden schlanken Rotschopf.

Wenn sie tatsächlich eine junge, unverheiratete Dame aus gutem Hause war, konnte er sie nicht zu seiner Geliebten machen, sosehr sie auch sein Interesse geweckt haben mochte. Dass er überhaupt mit dem Gedanken spielte, war Grund genug für ihn, gebührenden Abstand zu ihr zu wahren. Und je eher das geschah, desto besser.

Bevor er sich dezent zurückziehen konnte, gesellte sich eine offensichtlich aufgebrachte Lady Sulby zu ihnen. „Wie ich sehe, haben Sie Jane Smith, das Mündel meines Gatten, kennengelernt, Euer Gnaden. Die liebe Jane kam von einem entfernten Verwandten Sir Barnabys zu uns. Einem verarmten Pastor in einer kleinen Landgemeinde“, fügte sie abfällig hinzu und bedachte den Gegenstand ihrer Rede mit einem kühlen Blick. „Du siehst sehr gut aus in diesem Kleid, Jane.“

Hawk hob unwillkürlich die Brauen über die Unaufrichtigkeit ihres Kompliments. Jane Smith? Der farblose Name passte ganz und gar nicht zu dieser ungewöhnlichen jungen Frau.

„Miss Smith.“ Er verbeugte sich förmlich. „Wäre es mir wohl erlaubt, Sir Barnabys Mündel zu Tisch zu geleiten, Lady Sulby?“, fragte er, als der Gong zum Mahl rief.

Selbstverständlich hätte diese Ehre Lady Sulby als Gastgeberin gebührt, doch aus einem unerfindlichen Grund empfand Hawk trotz seiner Entscheidung, sich von Jane Smith fernzuhalten, den Wunsch, seine Gastgeberin zurechtzuweisen.

Vielleicht, weil sie, gewiss mit voller Absicht, auf das Kleid aufmerksam gemacht hatte, in dem Jane sich so unbehaglich fühlte. Oder weil sie auf so herablassende Art über Janes verarmten Vater gesprochen hatte. Aus welchem Grund auch immer, Hawk war nicht geneigt, Lady Sulbys ärgerliche Aufmerksamkeiten über sich ergehen zu lassen – nicht einmal für die kurze Zeit, die es gedauert hätte, sie zu Tisch zu begleiten.

Andererseits verriet ihm der Ausdruck in Jane Smiths Augen, dass es vielleicht doch unklug von ihm gewesen war, ihr den Vorzug zu geben. Ihre nächsten Worte bestätigten seinen Verdacht.

„Wirklich, Euer Gnaden, das sollten Sie nicht.“

Nachdenklich betrachtete er sie, die plötzliche Blässe ihrer Wangen, die Verzweiflung in ihren dunkelgrünen Augen. Ganz im Gegensatz zu jeder anderen Frau aus seinem Bekanntenkreis versuchte Jane Smith eindeutig nicht, die besondere Aufmerksamkeit des Duke of Stourbridge zu gewinnen. Vielmehr flehte sie ihn wortlos an, sie in Ruhe zu lassen.

„In dem Fall … Lady Sulby?“ Er bot ihr den Arm, ein höfliches Lächeln auf den Lippen, das nicht ganz die Augen erreichte.

Es kostete seine Gastgeberin sichtlich Mühe, den eisigen Blick von Jane Smith zu nehmen, doch dann lächelte sie ihn schmeichelnd an. „Selbstverständlich, Euer Gnaden.“ Sie legte die Hand besitzergreifend auf seinen Arm und schritt majestätisch neben ihm zum Speiseraum.

Jane sah ihnen nach. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Lady Sulbys Blick hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie schon bald für diesen Affront würde zahlen müssen.

Warum hatte der Duke vorgeschlagen, sie zu Tisch zu geleiten? Er musste doch wissen, dass die Etikette vom Ehrengast verlangte, die Gastgeberin zu begleiten. Alles andere hätte einen kleinen Aufruhr verursacht.

Doch so sehr wünschte sich Jane, sie hätte sein Angebot annehmen können. Trotz seines Spotts auf ihre Kosten hätte sie sich nichts lieber gewünscht, als am Arm des vornehmen Duke of Stourbridge aus dem Raum geführt zu werden. Er war trotz seines Hochmuts so attraktiv, so eindrucksvoll und direkt, dass Jane wusste, sie würde später von seinen strengen und doch so faszinierenden Gesichtszügen träumen.

„Was fällt dir ein, dich so unmöglich aufzuführen, Jane?“ Olivia war an ihrer Seite erschienen, das Gesicht halb hinter ihrem Fächer verborgen, damit keiner der Gäste sah, mit welcher Wut sie sie anfuhr. „Mama wird fuchsteufelswild sein darüber, dass du auf so schamlose Weise versucht hast, das Interesse des Dukes zu erregen.“

Die Ungerechtigkeit ließ Jane nach Luft schnappen. „Aber ich habe nichts getan, um …“

„Lüge nicht, Jane. Wir haben alle mit angesehen, wie du aufs Schamloseste mit dem Mann geflirtet hast.“ Olivia presste wütend die Lippen zusammen und sah ihrer Mama in diesem Moment sehr ähnlich. „Dieses Kleid steht dir übrigens überhaupt nicht“, fügte sie bissig hinzu, bevor sie sich abwandte und dem wartenden Anthony Ambridge, Enkelsohn von Lady Ambridge und daher eine großartige Partie, strahlend lächelnd die Hand auf den Arm legte.

Das Dinner wurde, wie Jane befürchtet hatte, ausgesprochen ungemütlich für sie. Lord Tillton saß zu ihrer Linken und versuchte ständig, ihr die Hand auf den Schenkel zu legen, bis sie dem ein Ende bereitete, indem sie ihm die Nägel ins Handgelenk grub. Zu ihrer Rechten saß eine taube ältere Dame, die sich in einem unendlichen Monolog erging. Glücklicherweise brauchte sie nicht zu antworten; die alte Dame hätte sie sowieso nicht gehört.

Dass der Duke sie nicht im Geringsten beachtete, sondern sich selbstvergessen mit Lady Sulby und Olivia unterhielt, die ihn in ihre Mitte genommen hatten, als wäre er eine wertvolle Beute, die es zu bewachen galt, empfand Jane als noch schlimmer.

Als es für die Damen so weit war, sich in den Salon zurückzuziehen und die Männer ihrem Brandy oder Cognac zu überlassen, spürte Jane einen pochenden Kopfschmerz. Sie sehnte sich nur noch danach, auf ihr Zimmer zu fliehen, wo sie endlich die Haarnadeln entfernen und sich die Stirn mit Wasser benetzen konnte.

„Ich denke, das ist eine sehr kluge Entscheidung, Jane.“ Lady Sulby unterbrach ihr Gespräch mit Lady Tillton und nickte knapp, als Jane sich aufgrund ihrer Kopfschmerzen entschuldigte. „Tatsächlich halte ich es sogar für das Beste, wenn du auf deinem Zimmer bleiben würdest, bis wir sicher sein können, dass du nicht irgendetwas Ansteckendes hast.“

Jane wurde blass bei dieser offensichtlichen Beleidigung, wandte sich aber nur stumm ab, hob den Saum ihres Kleides und eilte fast im Laufschritt aus dem Salon.

Hawk war davon überzeugt, in seinem ganzen Leben noch nie einen Abend so abgrundtiefer Langeweile verbracht zu haben. Nach nur zwei Minuten in der Gesellschaft von Lady Sulby und der hohlen, ichbezogenen Olivia erkannte er, dass die Mutter all das verkörperte, was er verachtete. Sie war ein geschwätziger, engstirniger Emporkömmling ohne ein einziges freundliches Wort für andere Menschen, und in zwanzig Jahren, wenn nicht schon früher, würde ihre Tochter genauso sein.

Das Mahl jedoch, ganz im Gegensatz zu der Gesellschaft, die er ertragen musste, hatte sich als vorzüglich erwiesen – und das in einem solchen Maß, dass Hawk überlegte, ob er vor seiner Abreise am Ende der Woche nicht versuchen sollte, den Koch der Sulbys dazu zu überreden, in seine Dienste zu treten.

Und dann war da natürlich noch jener seltsam denkwürdige Zwischenfall mit Jane Smith gewesen. Wenngleich Hawk sich eingestehen musste, dass er sich unklug benommen hatte. Der begehrte Duke of Stourbridge durfte keine unverheiratete junge Dame in ein Gespräch verwickeln, der er noch nicht einmal vorgestellt worden war. Die Tatsache, dass sie Sir Barnabys Mündel war, bedeutete zweifellos, dass sie ganz eigene ehrgeizige Pläne für eine günstige Partie hegen mochte.

Seine schlimmsten Befürchtungen waren bestätigt worden, als er sie zu Beginn des Dinners mehrere Minuten unter halb gesenkten Lidern beobachtet hatte. Sie hatte auf unverschämte Weise mit James Tillton geflirtet – einem Mann, der bereits über zwei Mätressen verfügte, wie Hawk wusste – und sich fortwährend ihm zugewandt, ohne die arme Dame auf ihrer anderen Seite zu beachten, die tapfer versucht hatte, Jane Smith in ein Gespräch zu ziehen.

„Was meinen Sie, Stourbridge?“

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Herren zu, die noch mit ihm am Tisch saßen und sich am vorzüglichen Brandy gütlich taten. „Ich stimme Ihnen vollkommen zu, Ambridge“, antwortete er dem älteren Gentleman, der sich, wie er glaubte, über ein Pferd geäußert hatte. Anschließend erhob er sich gemächlich, sein Glas noch in der Hand. „Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Gentlemen? Ich würde mir gern ein wenig von dem frischen Wind Norfolks um die Nase wehen lassen, von dem unsere Gastgeberin vorhin so geschwärmt hat.“ Er schlenderte durch den Raum, öffnete eine der Verandatüren und trat hinaus, froh, der banalen Konversation für kurze Zeit entfliehen zu können.

Wie sollte er es nur weitere sechs Tage hier aushalten? Vielleicht könnte er vorgeben, Sebastian hätte einen „Rückfall“ erlitten, und sich so unter dem Vorwand brüderlicher Sorge entschuldigen. Dafür musste er allerdings jemanden dazu bringen, ihm eine Nachricht zu schicken. Aber das war gewiss einer Woche quälender Eintönigkeit vorzuziehen.

Doch auch die erfrischende Luft hier in Norfolk hat ihre Vorzüge, stellte er fest. Er atmete tief ein, und sofort fühlte er sich besser. Vielleicht sollte er doch ein Gut in Norfolk in Betracht ziehen. Dann aber ganz gewiss nicht dieses hier.

Nachdem er Olivia Sulby kennengelernt hatte, kam eine Heirat zwischen ihr und Sebastian auf keinen Fall infrage. Schließlich liebte er seinen jüngsten Bruder zu sehr, um ihm und dem Rest der Familie eine solch alberne Gans zuzumuten – ganz zu schweigen von ihrer ehrgeizigen Mutter.

Eine Bewegung irgendwo im linken Bereich des mondbeschienenen Gartens erregte seine Aufmerksamkeit. Eine winzige Veränderung in den Schatten neben der hohen Hecke, die ihm verriet, dass er nicht der Einzige war, der die frische Luft genießen wollte. Ein Fuchs hatte sich zu ihm gesellt. Oder vielleicht ein Dachs.

Doch nein, der dahinhuschende Schatten war zu groß dafür. Der Störenfried seiner Einsamkeit gehörte eindeutig der zweibeinigen Spezies an, und er bewegte sich auf das Gartentor zu, das zum Strandweg führte, wie Hawk vorhin von Dolton erfahren hatte.

Also war es ein Mann. Oder auch eine Frau. Womöglich auf dem Weg zu einem romantischen Stelldichein? Oder könnte es sich um etwas Ernsteres handeln, zum Beispiel einen Schmuggler? Hawk vermutete, dass der Freihandel hier in Norfolk ein ebenso weitverbreitetes Phänomen war wie in Cornwall.

Zwar erfüllte er gewissenhaft seine Pflicht als Friedensrichter in Gloucestershire, aber diese Sache hier ging ihn nichts an. Trotzdem erwachte seine Neugier, als eine heftige Windbö den Umhang der geheimnisvollen Person anhob und eine sehr viel lebhaftere Farbe darunter enthüllte.

Grelles Gelb …

Konnte das womöglich Jane Smith sein, die heimlich zum Strand eilte? Und wenn ja, dann zu welchem Zweck?

Hawk erinnerte sich daran, dass ihn auch das nichts anging. Sie war das unverheiratete Mündel Sir Barnabys, und er täte gut daran, sich für den Rest seines Aufenthalts von ihr fernzuhalten, wollte er nicht unversehens in die Ehefalle tappen. Denn dazu war er erst bereit, wenn seine Geschwister alle glücklich verheiratet waren. Ganz zu schweigen davon, dass er gewiss nicht das verarmte Mündel eines unbedeutenden Baronets zu seiner Duchess zu machen gedachte. Seine Gattin musste von hohem Rang sein, eine stille, bescheidene Frau, die ihm einen Erben schenken und ansonsten keine Ansprüche an seine Zeit oder gar seine Gefühle stellen würde.

Jane Smith nachzulaufen, einer jungen Frau, die ihn heute Abend schon dazu gebracht hatte, sich auf völlig uncharakteristische Art zu benehmen, wäre entschieden unklug von ihm. Viel besser wäre es, sich wieder zu den Gentlemen im Haus zu gesellen und zu vergessen, dass es Jane Smith überhaupt gab.

Doch der Impuls – die Narrheit, die ihn vorhin überfallen hatte, als er Jane Smith voller Neugier angesprochen hatte – erfasste ihn wieder, und so stellte er sein Glas auf das Geländer der Veranda und folgte Jane Smith – gegen jede Vernunft – durch den Garten, um herauszufinden, wo sie so spät am Abend hinging.

Und aus welchem Grund.

3. KAPITEL

Gelten Ihre Tränen dem Geliebten, der nicht zu Ihrem geheimen Stelldichein erschienen ist, oder der Tatsache, dass es diesen Geliebten gar nicht gibt?“

Jane erstarrte, da sie sofort die tiefe Stimme des Duke of Stourbridge erkannt hatte. Wie immer klang er leicht gelangweilt, und anscheinend stand er direkt hinter ihr. Sie saß in den Dünen, das Kinn auf die hochgezogenen Knie gestützt, das Haar offen im Wind flatternd, und blickte auf die wild gegen die Küste schlagenden Wellen hinaus, während ihr kaum bewusst war, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Hastig zog sie den Umhang enger um sich. „Der Grund für meine Tränen ist nicht Ihre Sache, Euer Gnaden.“

„Und wenn ich beschließe, sie zu meiner Sache zu machen?“

„Dann würde ich Sie bitten, es nicht zu tun. Tatsächlich wäre es mir lieb, wenn Sie mich allein ließen.“ Jane war in diesem Moment zu unglücklich, um auch nur zu versuchen, höflich zu bleiben. Selbst oder vielleicht sogar besonders dem erhabenen Duke of Stourbridge gegenüber.

„Sie schicken mich fort, Jane? Schon wieder?“, spottete er leichthin.

Er trat zu ihr in den Schutz der Düne, wobei er sich sehr wahrscheinlich die Abendschuhe ruinierte. Aber das war ihr gleichgültig. Sie war zu unglücklich, zu verzweifelt, um sich Sorgen um den Duke zu machen. Schließlich hatte sie ihn nicht eingeladen, sich zu ihr zu gesellen.

„So ist es, Euer Gnaden.“ Sie nickte entschieden.

„Leider ist es mir nicht möglich, Jane.“ Er seufzte leise und ließ sich im selben Moment, ohne auf seine teure Kleidung zu achten, neben sie in den Sand sinken. „Es wäre eines Gentlemans nicht würdig, eine Dame in solch einer Lage zu entdecken und einfach weiterzugehen, noch dazu an einem Ort, wo jeder, der zufällig vorbeikommt, versuchen könnte, diese Lage auszunutzen.“

Verärgert sah Jane ihn an. „Selbst wenn sie Sie bäte, sie allein zu lassen? Selbst wenn sie gar keine Dame ist?“ Sie wandte schnell das Gesicht ab.

„Ist es wegen des Kleides, Jane?“ Ungeduld schwang in seiner Stimme mit, und er fuhr verächtlich fort: „Wenn es das ist, so brauchen Sie nur einen Blick auf Lady Sulby zu werfen oder sie in ein Gespräch verwickeln, um zu wissen, dass ein schönes Kleid nicht ausreicht, um eine Dame aus jemandem zu machen.“

Jane gab einen erstickten Laut von sich, halb Schluchzen, halb Lachen. „Diese Bemerkung ziemt sich gewiss nicht für einen Gentleman, Euer Gnaden!“

Wieder seufzte der Duke. „Es fällt mir immer schwerer, mich wie ein Gentleman zu benehmen, seit ich in Norfolk angekommen bin.“

Nachdenklich betrachtete Jane ihn aus dem Augenwinkel. Das Mondlicht ließ die aristokratischen Züge seines Gesichts noch deutlicher hervortreten.

Er war in Schwarz gekleidet, dazu trug er ein weißes Hemd mit hohem Kragen und das perfekt geknüpfte Krawattentuch. Die graue Satinweste gab seiner Erscheinung eine noch elegantere Note. Aber der Wind hatte sein Haar zerzaust und verlieh ihm das Aussehen eines Piraten, was ihn weniger hochmütig und unnahbar erscheinen ließ.

Trotzdem durfte sie nicht vergessen, wer er war. Jane rief sich insgeheim zur Ordnung. So untröstlich sie sich jetzt auch fühlte, so verständnisvoll er in diesem Moment scheinen mochte, am Ende der Woche würde er nach London zurückkehren, doch sie würde weiterhin hier unter Lady Sulbys tyrannischer Herrschaft leben müssen.

Der Gedanke daran genügte, um ihr erneut Tränen in die Augen zu treiben.

„Kommen Sie, Jane, was ist geschehen? Es kann doch unmöglich so schlimm …“

„Und woher wollen Sie das wissen, Euer Gnaden?“

Kummer und Verzweiflung gaben ihr den Mut, dem Duke die Stirn zu bieten. „Ihnen hat man gewiss noch nie das Gefühl gegeben, unerwünscht zu sein, und das, obwohl Sie sich keiner Schuld bewusst waren!“

Hawk betrachtete sie fasziniert. Das Mondlicht brach in diesem Moment hinter einer Wolke hervor und traf auf die ungebändigten roten Locken, die leuchtenden grünen Augen und die vollen, sinnlichen Lippen.

Lieber Himmel, wie sehr sehnte er sich danach, diese Lippen zu küssen!

Und er wusste, dass ein Kuss ihm nicht genügen würde. Dieses unkontrollierte Verlangen beunruhigte ihn zutiefst. Seit er vor zehn Jahren den Titel geerbt hatte, war er nicht mehr das Opfer so wilder Gefühl geworden. Seit damals hatte er jeden seiner Gedanken sorgfältig auf seine Folgen geprüft und erst dann gehandelt.

Doch in diesem Augenblick konnte er nur daran denken, dass er Jane Smiths einladende Lippen küssen, ihren schlanken Leib an seinen pressen und unter seinem fühlen wollte, während er ihr Gesicht mit heißen Küssen bedeckte und die Hände in ihr flammend rotes Haar schob. Gleich danach würde er ihre vollen Brüste, ihre schmale Taille und die langen Beine mit den Händen erkunden. Er erinnerte sich nicht, wann er eine Frau so brennend begehrt hätte wie sie.

Bevor er dem Impuls, sie an sich zu reißen, nachgeben konnte, sprang er abrupt auf, noch ganz schockiert von der Heftigkeit seines Verlangens, und entfernte sich einige Schritte von ihr. „Dann überlasse ich Sie Ihrer Einsamkeit, Jane.“

„Ich hoffe, ich habe Sie nicht verärgert, Euer Gnaden.“ Sie erhob sich ebenfalls. Der Umhang öffnete sich vorn und zeigte darunter tatsächlich das verhasste gelbe Kleid. Der Wind presste den dünnen Stoff gegen die schlanke Taille und die langen, wohlgeformten Beine.

„Ich bin nicht im Geringsten verärgert.“ Hawk wandte hastig den Blick von der Versuchung ab, die sie für ihn darstellte. „Mir wird nur bewusst, dass ich mich Ihnen ungebeten aufgedrängt habe.“

„Aber das wollte ich doch nicht …“

„Kommen Sie nicht näher, Jane!“, warnte er sie brüsk, als sie die Hand ausstreckte. Sie ahnte nicht, welche Hitze seinen Leib erfüllte, ahnte nichts von der Erregung, die sie in ihm erweckt hatte.

Fehlte ihm so sehr die warme Umarmung einer Frau – trotz der kurzen, unbefriedigenden Affäre mit der Countess of Morefield –, dass er sogar Gefahr lief, sich einem verletzlichen, unbeschützten jungen Mädchen aufzuzwingen? Hatten die Jahre der Einschränkung und erzwungenen Einsamkeit als Duke of Stourbridge ihn so tief sinken lassen? Wenn dem so war, war das natürlich untragbar. Hawk nahm sich insgeheim vor, sich in London sofort nach einer Geliebten umzusehen.

Betroffen war Jane stehen geblieben, als der Duke sie derart angefahren hatte. Glaubte er ebenfalls, dass die verwaiste Tochter eines verarmten Landpfarrers seiner Beachtung nicht wert war? Dass der äußerst vornehme Duke of Stourbridge sie nicht einmal höflich behandeln musste?

„Dann gehen Sie, Euer Gnaden.“ Sie hob trotzig das Kinn. „Und ich werde mich bemühen, Sie während Ihres Aufenthalts auf Markham Park nicht wieder mit meiner unwillkommenen Gegenwart zu belästigen.“

„Jane, Sie haben mich missverstanden …“

„Das glaube ich nicht, Euer Gnaden.“

„Hören Sie sofort auf, mich in diesem verächtlichen Tonfall ‚Euer Gnaden‘ zu nennen.“

„Ganz gewiss nicht!“ Sie vergaß jede Vernunft, zu sehr war sie verletzt worden, zu sehr wünschte sie, ihn ebenfalls zu verletzen.

„Sie spielen mit dem Feuer, Jane“, warnte er sie mit plötzlich rauer Stimme, die Hände zu Fäusten geballt.

„Feuer, Euer Gnaden?“ Sie war all dessen so müde. In den vergangenen zehn Jahren war sie immer demütig und gehorsam gewesen. Nie wurde ihr gestattet, ihre Meinung zu äußern. „Was wissen Sie schon von Feuer? Sie, der Sie so kalt und stolz sind und auf jeden geringschätzig herabblicken? Was … was tun Sie da, Euer Gnaden?“ Sie keuchte ungläubig auf, als der Duke sie plötzlich bei den Armen packte und an sich riss.

„Hawk“, stieß er hervor. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange. „Mein Name ist Hawk“, fügte er barsch hinzu.

Hawk? Wie der Falke? Jane blinzelte kurz verblüfft. Der Duke of Stourbridge war nach einem Raubvogel benannt worden?

„Ein Einfall meiner fantasievollen Mutter.“ Sein Ton war noch immer grimmig, und noch immer hielt er Jane fest an seine harte Brust gepresst.

In diesem Moment kümmerte es sie wenig, wie er zu seinem ungewöhnlichen Namen gekommen war. Viel wichtiger schien ihr, dass sein Blick sich plötzlich auf ihren Mund heftete. Alles wies darauf hin, dass der arrogante Duke of Stourbridge im Begriff war, sie zu küssen!

Das war undenkbar. Unvorstellbar …

Und doch stellte Jane fest, dass sie es sich sehr wohl vorstellen konnte. Fast konnte sie schon spüren, wie hart und unnachgiebig diese vollkommen geformten Lippen sein würden, wenn sie ihren Mund in Besitz nahmen. Er würde keine Gnade kennen, das sah sie an dem Blitzen seiner goldbraunen Augen, und das spürte sie an der Art, wie sein Atem sich beschleunigte.

„Sie hätten nicht allein hierherkommen sollen, Jane.“ Sein Blick glitt verlangend über ihr Gesicht. Langsam beugte er den Kopf.

Mehrere Augenblicke war sie wie erstarrt und öffnete schon die Lippen, um seinen Kuss zu empfangen.

Ein Kuss. Nur ein Kuss. Ihr erster Kuss.

Gewiss war es doch nicht zu viel verlangt, sich danach zu sehnen, nachdem sie so viele Jahre lang auf die Berührung, die Wärme eines anderen Menschen hatte verzichten müssen?

Doch eine innere Stimme riet ihr, auf der Hut zu sein. Hawk St Claire, der mächtige Duke of Stourbridge, würde sich nicht mit einem Kuss zufriedengeben. Männer in seinem Alter und mit seiner Erfahrung verlangten mehr, sehr viel mehr. Männer wie er nahmen, was sie kriegen konnten, ohne jemals etwas zurückzugeben.

„Nein!“ Sie wandte den Kopf ab, um dem Kuss auszuweichen, und stieß den Duke mit aller Kraft von sich. Doch er war zu stark, riss sie wieder an sich, und sie fand sich noch intimer an ihn gedrückt. „Nein!“ Das Verlangen in seinen Augen machte ihr Angst. „Sie dürfen nicht! Bitte, Hawk, Sie dürfen nicht …“

Ihr Flehen drang schließlich durch den Schleier der Leidenschaft, die in ihm brannte. Er hielt inne und blinzelte benommen. Diese Frau – nein, im Grunde war sie ein Mädchen – war das jungfräuliche Mündel seines Gastgebers.

Sofort ließ er sie los und wich zurück. „Sie hätten nicht allein hierherkommen dürfen, Jane“, wiederholte er rau.

Sie schluckte mühsam. „Vielleicht nicht. Aber ich rechnete nicht damit, dass mir jemand folgen würde.“

„Nein, Jane? Rührt Ihre Empörung nicht vielmehr daher, dass der falsche Mann Ihrer Einladung gefolgt ist?“

Verwundert schüttelte sie den Kopf. „Der falsche Mann? Ich verstehe nicht.“

„Sollte nicht James Tillton sich hier zu Ihnen gesellen?“ Das war ihm gerade erst klar geworden, als ihm wieder die schamlose Tändelei einfiel, die bei Tisch stattgefunden hatte. Janes Bestürzung musste tatsächlich darauf zurückzuführen sein, dass ihr Geliebter – sehr wahrscheinlich James Tillton – nicht zu ihrem vereinbarten Stelldichein erschienen war.

„Lord Tillton?“ Jane schnappte empört nach Luft. „Ich verabscheue Lord Tillton! Er benahm sich während des Dinners auf unverschämteste Weise. Am Ende war ich gezwungen gewesen, ihn zu kratzen, damit er aufhörte, mich unter dem Tisch zu befingern. Außerdem ist er ein verheirateter Mann!“, fügte sie finster hinzu.

„Gesellschaften auf dem Lande wie diese hier bieten sich geradezu an für heimliche Treffen zwischen Menschen, die verheiratet sind – nur eben nicht miteinander“, bemerkte Hawk bissig.

„Was Sie nicht sagen, Euer Gnaden“, antwortete sie kühl. „Und mit welchem weiblichen Gast haben Sie also ein heimliches Treffen arrangiert?“

Selbst jetzt, in ihrer Wut, fiel Hawk auf, wie wirklich schön, wie verführerisch Miss Jane Smith tatsächlich war. Die Jahre, die sie unter der Fuchtel der herrischen Lady Sulby hatte verbringen müssen, hatten ihre temperamentvolle Seite zwar unterdrückt, aber noch nicht ganz erstickt. Trotz ihrer benachteiligten Lage forderte Jane ihn ohne Furcht heraus, ohne vor seinem Rang und seiner Autorität zurückzuschrecken. So etwas begegnete dem Duke of Stourbridge äußerst selten.

Jane Smith war sehr ungewöhnlich, weil sie in ihm nicht seinen Titel zu sehen schien, sondern den Mann, der er war. Und gegen diesen Mann richtete sie ihre Empörung, diesen Mann faszinierte sie mit ihrer Schönheit. So sehr sogar, dass Hawk fast jene Vorsicht in den Wind geschlagen hätte, die ihm in den letzten zehn Jahren so gute Dienste geleistet hatte.

Das durfte auf keinen Fall geschehen.

„Ich habe kein romantisches Interesse an irgendeiner der Damen, die zurzeit auf Markham Park verweilen“, sagte er verächtlich und erkannte an Janes Zusammenzucken, dass sie seine unausgesprochene Zurückweisung ihrer eigenen Reize sehr wohl verstanden hatte. „Wenn Sie erlauben, entschuldige ich mich kurz bei den Sulbys, bevor ich mich zur Nacht zurückziehe.“ Er verbeugte sich knapp und wandte sich ab.

„Nicht, bevor Sie sich bei mir entschuldigt haben, Euer Gnaden!“

Hawk drehte sich langsam wieder zu ihr um. In stolzer Haltung sah sie ihm furchtlos ins Gesicht.

„Weil ich Sie fast geküsst hätte?“

Sie schnaubte verächtlich. „Weil Sie mich fälschlicherweise beschuldigt haben, Lord Tillton zu ermutigen.“

War es möglich, dass er sich geirrt hatte? Hatte Jane Tilltons Annäherungsversuche nicht ermuntert, sondern nur versucht, sie abzuwehren? Immerhin war sie schutzlos. Ihr Vormund kümmerte sich offensichtlich nicht um sie, also war sie für jeden gewissenlosen Schurken eine leichte Beute.

„Falls ich mich geirrt haben sollte …“

„Sie haben sich geirrt!“

„Dann entschuldige ich mich.“ Hawk nickte knapp. „Aber in Zukunft würde ich Ihnen raten, nicht allein hierherzukommen. Sie könnten sich in größerer Gefahr wiederfinden als heute.“

„Bis jetzt waren diese Dünen immer ein Zufluchtsort für mich.“

Bevor er hier eingedrungen war. Bevor er sie in die Arme genommen und versucht hatte, sie zu küssen. Doch dafür hatte sie keine Entschuldigung von ihm verlangt.

Sie war einfach hinreißend. Widerwillig gestand Hawk es sich ein, trotz seiner Entschlossenheit, ihr nicht wieder nahezukommen. Ihr ungebändigtes Haar wehte im Wind wie ein Vorhang aus Feuer, ihre schönen Augen blitzten herausfordernd, und ihre sinnlichen Lippen waren trotzig zusammengepresst.

All das ließ ihn vermuten, dass sie eine wundervolle Geliebte sein würde und seiner eigenen Leidenschaft mehr als gewachsen – einer Leidenschaft, die er sich so große Mühe gab, vor allen anderen zu verbergen, und die Jane so leicht zu erwecken wusste.

Jane Smith stellte entschieden eine große Gefahr für den Duke of Stourbridge dar – und sogar eine noch größere für den Mann, der im Innersten noch immer der sinnliche Hawk St Claire war.

„Offensichtlich bieten die Dünen Ihnen nun keine Zuflucht mehr“, erwiderte er kühl, mitleidlos. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Miss Smith.“ Wieder wandte er sich ab, und dieses Mal zögerte er nicht, sondern ging entschlossen zum Herrenhaus zurück.

Jane sah seiner hochgewachsenen, abweisenden Gestalt nach, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Sie wusste, dass der Duke nicht nur in den Zufluchtsort, den die Dünen für sie bedeutet hatten, eingedrungen war. Als er sie berührt hatte, beinahe geküsst, hatte er tief in ihr eine Sehnsucht geweckt, ein Verlangen, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Noch immer fühlten ihre Brüste sich schwerer und voller an, noch immer brannte eine nie gekannte Hitze zwischen ihren Schenkeln, die sie dazu gedrängt hatte, jede Vorsicht in den Wind zu schlagen und sich der Leidenschaft seines Kusses hinzugeben. In jenem Moment hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihm in den weichen Sand zu sinken und Hawk seinen Hochmut auszutreiben, während sie einander entkleideten und erforschten, küssten und sinnlich liebkosten …

An dieser Stelle hielt Jane erregt inne. Weil sie nicht wusste, was nach dem Küssen und Liebkosen geschah. Sie erinnerte sich, dass Lady Sulby zu Beginn der Saison Olivia vor den verwegeneren Gentlemen des ton gewarnt hatte. „Eine Dame mag sich nach der Heirat und der Geburt des Stammhalters so viele Geliebte nehmen, wie sie wünscht“, hatte sie gesagt, „aber keinen einzigen, bevor sie nicht den Ehering am Finger trägt.“

Bedeutet mein heftiges Verlangen nach dem Duke of Stourbridge, dass ich doch nicht die Dame bin, für die ich mich immer gehalten habe?

„Sie haben nach mir geschickt, Lady Sulby?“ Am folgenden Morgen stand Jane gehorsam vor der Gattin ihres Vormunds, die in ihrem Privatsalon saß und in der Korrespondenz blätterte, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet lag.

Sie fixierte sie mit einem kühlen Blick. „Hast du dich von deinen Kopfschmerzen erholt?“

Der Ton und ihr Betragen waren ungewöhnlich sanft. Jane merkte, dass ihre Unruhe wuchs. Sie hatte eigentlich mit weiterem Tadel gerechnet wegen der angeblichen Tändelei zwischen ihr und dem Duke of Stourbridge. Eine innere Stimme riet ihr, auf der Hut zu sein.

„Ich fühle mich wieder sehr gut, vielen Dank, Lady Sulby.“

Diese neigte leicht den Kopf. „Hast du wohl geschlafen?“

„Ein wenig unruhig.“ Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie von Hawk geträumt. Ihre Träume waren so erregend gewesen, dass sie aus dem Schlaf geschreckt war, am ganzen Leib zitternd, schwer atmend, mit empfindsamen Brüsten und einer ungewohnten Feuchtigkeit zwischen den Schenkeln.

„Ach ja?“ Lady Sulby lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Der Ausdruck des einst schönen Gesichts war hart und unnachgiebig, während sie Jane aus halb geschlossenen Augen musterte. „Könnte das daran liegen, dass du nicht allein geschlafen hast?“

Entsetzt sah Jane sie an. Die Farbe wich aus ihren Wangen. Lady Sulby konnte doch unmöglich den gleichen Fehler begangen haben wie der Duke und denken, sie hätte Lord Tillton gestern Abend ermutigt!

Oder bezog sie sich gar auf den Duke selbst? Bei dem Gedanken an ihre erotischen Träume von ihm spürte Jane, wie ihre Wangen heiß wurden.

„Gib dir nicht die Mühe zu antworten, Jane“, fuhr Lady Sulby sie an. „Die schmutzigen Einzelheiten interessieren mich nicht.“

„Aber es gibt keine schmutzigen Einzelheiten“, verteidigte Jane sich.

„Ich sagte, ich will nichts hören! Es genügt, dass du trotz all unserer Bemühungen und nach all der Hilfe und Fürsorge, die Sulby und ich dir in den vergangenen zwölf Jahren großzügigerweise zukommen ließen, genauso geworden bist wie deine schändliche, liederliche Mutter!“

Jane wurde weiß wie ein Laken. Sie spürte, wie sich alles um sie herum zu drehen begann. „Meine … Mutter?“

„Deine Mutter, Jane.“ Lady Sulby verzog angewidert den Mund. „Eine Frau wie du. Ohne Moral und …“

„Wie können Sie es wagen?“ Diese Anschuldigungen übertrafen ihre schlimmsten Befürchtungen bei Weitem. Mit einem so hasserfüllten Angriff gegen ihre Mutter hatte sie nicht gerechnet. „Meine Mutter war gut und freundlich und …“

„Wer hat dir denn das gesagt?“ Lady Sulby schnaubte höhnisch. „Jener Dummkopf von einem Pfarrer, der sie heiratete? Joseph Smith – so wie jeder andere Mann aus Fleisch und Blut, wie es scheint – konnte keinen Fehl an seiner schönen Janette entdecken. Aber ich wusste Bescheid. Ich wusste schon immer, dass sie nichts als eine schamlose Dirne war.“ Ihre Augen glitzerten. „Und habe ich am Ende nicht recht behalten?“ Sie sprang auf, das Gesicht vor Wut verzerrt und hässlich.

Unwillkürlich wich Jane vor diesem Zornausbruch zurück und schüttelte den Kopf über die grässlichen Dinge, die sie über ihre Mutter hörte – eine Frau, die sie nie kennengelernt hatte, da sie gleich nach der Niederkunft gestorben war, die sie aber ihr Leben lang geliebt und verehrt hatte. „Meine Mutter war liebenswert und schön und …“

„Deine Mutter war eine Schlampe! Eine Verführerin und eine Dirne!“

„Nein!“ Jane zuckte zusammen wie unter einem Schlag ins Gesicht.

„Oh doch.“ Lady Sulby betrachtete sie verächtlich. „Und du bist genau wie sie, Jane. Ich habe Sulby gewarnt, als er darauf bestand, dich bei uns aufzunehmen. Ich prophezeite ihm, was geschehen würde. Dass du uns nur Schande machen würdest, genau wie Janette. Und gestern Abend sah ich mich in meiner Befürchtung bestätigt.“

„Aber ich habe gestern nichts getan, dessen ich mich schämen müsste!“, verteidigte sich Jane. Der Hass in Lady Sulbys Augen traf sie bis ins Innerste.

„Janette hat sich auch nie geschämt. Sie entschuldigte sich nicht einmal dafür, dass sie bereits ein Kind erwartete, als sie ihren leichtgläubigen Pfarrer ehelichte!“

Jane taumelte. Bei dieser grausamen Anschuldigung war ihr zumute, als müsste sie das Bewusstsein verlieren. Ihre Mutter hatte bereits ein Kind erwartet, als sie heiratete? Aber das machte noch lange keine Dirne aus ihr. Es bedeutete nur, dass ihre Eltern wie so viele Paare die Hochzeitsnacht vorweggenommen hatten. Gewiss bin ich nicht das erste Kind, das schon sechs Monate nach der Trauung zur Welt gekommen ist, dachte Jane. Trotzig schüttelte sie den Kopf. „Der einzige Mensch, den das etwas angehen sollte, bin ich, und ich …“

„Natürlich denkst du so darüber! Wie ähnlich du ihr doch bist. Kein Gedanke an die Schande, die du mit deinem liederlichen Verhalten auf diese Familie lädst.“

„Ich habe nichts getan!“

„Du hast sehr wohl etwas getan!“ Lady Sulby ballte die Hände zu Fäusten. „Der Kammerdiener des Dukes hat unseren Butler davon unterrichtet, dass sie noch heute Morgen abreisen wollen, und …“

„Der Duke reist ab?“, wiederholte Jane tonlos, selbst ganz erstaunt darüber, wie sehr diese Nachricht sie bedrückte, während doch heute ihr ganzes Leben aus den Fugen zu geraten schien. Es war wie ein Albtraum ohne Erwachen.

„Spiel nicht die Unschuldige, Jane Smith. Wir alle können bezeugen, dass du gestern Abend versucht hast, den Duke einzufangen. Zweifellos wolltest du ihn in dein Bett locken, um ihn dann zur Ehe zu zwingen. Wenn du das allerdings gehofft hast, dann muss dir seine überstürzte Abreise heute sagen, dass deine ganze Mühe umsonst war. Der Duke lässt sich in keine Falle locken. Was für ein böses, verachtenswertes Geschöpf du doch bist, Jane Smith!“ Lady Sulbys Stimme wurde immer lauter. „Eine wahre Schlange, die wir an unserem Busen genährt haben! Und es kümmert dich nicht im Geringsten, dass du Olivias Chancen, die Duchess of Stourbridge zu werden, völlig zerstört hast! Du musst noch heute das Haus verlassen, Jane“, schrie Lady Sulby schrill. „Noch heute, hörst du?“

„Das ist auch mein innigster Wunsch.“ Nach diesem Gespräch wusste Jane, dass sie unmöglich noch einen Tag länger bleiben könnte – keine Stunde, keinen Augenblick länger als unbedingt nötig.

„Und bilde dir ja nicht ein, du könntest wieder zurückgekrochen kommen, sobald du, genau wie deine Mutter, einen Bastard in dir trägst!“, höhnte Lady Sulby. „Es gibt hier keinen bereitwilligen Pfarrer, der dich heiraten könnte, Jane. Keinen Narren, den du dazu verlocken könntest, deinem Bastard einen Namen zu geben!“

Lady Sulby kniff leicht die Augen zusammen, als sie Janes ungläubiges Entsetzen sah. „Das hast du nicht gewusst?“ Triumph ließ ihre Stimme erzittern. „Selbst als sie bei deiner Geburt starb, brachte Joseph Smith es nicht über sich, das Ansehen seiner geliebten Janette zu beschmutzen. Also verriet er dir nicht, dass er gar nicht dein wahrer Vater war!“

„Er war mein Vater. Er war …“ Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Sie hatte ihre Mutter nicht kennengelernt, aber Vater war eine Seele von Mensch gewesen, voller Güte und Freundlichkeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so liebevoll zu ihr hätte sein können, wenn er nicht wirklich ihr Vater gewesen wäre.

Oder vielleicht doch?

„Nein, ganz gewiss nicht.“ Lady Sulby betrachtete sie halb triumphierend, halb bedauernd. „Deine Mutter lockte deinen echten Vater, einen reichen, aristokratischen Gentleman, in ihr Bett in der Hoffnung, er würde seine Gattin ihr zuliebe verstoßen. Aber er weigerte sich, das zu tun, selbst als Janette entdeckte, dass sie sein Kind erwartete!“

„Ich glaube Ihnen nicht.“ Jane schüttelte in verzweifelter Ablehnung den Kopf. „Sie wollen mir nur wehtun …“

„Und tue ich dir weh, Jane? Das hoffe ich doch. Du siehst ihr sehr ähnlich, weißt du? Sie besaß genau die gleiche wilde Schönheit, den gleichen unbezähmbaren Stolz.“

Plötzlich erkannte Jane mit fast unerträglicher Deutlichkeit, dass Lady Sulby in all diesen Jahren versucht hatte, den Stolz in ihr, Janettes Tochter, zu brechen. Sie hatte versucht, die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter zu verhöhnen, indem sie sie auf eine Weise gekleidet hatte, die ihre natürliche Schönheit verbarg. Lady Sulby hasst mich genauso heftig, wie sie meine Mutter gehasst hat.

„Janette war verzogen und eigensinnig“, fuhr ihre Erzfeindin kühl fort. „Sie konnte jeden Mann um ihren kleinen Finger wickeln, doch bei der Wahl ihres Geliebten beging sie einen schrecklichen Fehler. Denn er zögerte nicht, sie aus seinem Leben zu verbannen, als sie ein Kind erwartete. Dich, Jane.“

„Sie lügen!“, wiederholte Jane heftig. „Ich weiß nicht, warum Sie das tun und was Janette Ihnen getan hat, aber ich weiß, dass Sie lügen.“

„Ach?“ Lady Sulby musterte sie spöttisch und griff nach einem der Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Dann solltest du vielleicht das hier lesen. Dann wirst du ja sehen, wer und was deine Mutter wirklich war.“

„Was ist das?“ Ein Brief, den jemand zweiundzwanzig Jahre nach Janettes Tod an Lady Sulby geschrieben hatte?

„Ein Brief, den Janette vor dreiundzwanzig Jahren an ihren Geliebten schrieb. Natürlich ist er nie abgeschickt worden. Wie hätte sie ihn schicken können, wenn ihr Geliebter bereits verheiratet war?“ Lady Sulby schnaubte verächtlich.

„Wie sind Sie an ihren Brief gekommen?“, fragte Jane benommen.

Lady Sulby lachte böse. „Erinnere dich an damals, als Sulby und ich nach Joseph Smiths Tod kamen, um dich zu holen.“ Es kümmerte sie offensichtlich nicht, dass Jane zusammenzuckte. „Damals fand ich unter Janettes Sachen Briefe, die sie an ihren Geliebten geschrieben, aber nie geschickt hatte. Gemeine, abscheuliche Briefe …“

„Mehr als ein Brief?“

„Vier, und in jedem davon erzählt sie ihrem Liebhaber von dem Kind, das sie gemeinsam in Sünde gezeugt hatten …“

„Geben Sie ihn mir!“ Jane entriss Lady Sulby das Blatt und drückte es an die Brust. „Sie hatten nicht das Recht, die Briefe meiner Mutter zu lesen. Wo sind die anderen?“ Entschlossen trat sie an den Schreibtisch und suchte in den Papieren, bis sie die drei weiteren Briefe gefunden hatte. „Weiß Sir Barnaby von diesen Briefen?“

„Natürlich nicht. Ich habe sie die ganze Zeit vor ihm versteckt. Warum, glaubst du denn, war ich so aufgeregt, als ich dich gestern mit meinem Schmuckkästchen ertappte?“

Darin hatte sie also die Briefe versteckt!

„Wie konnten Sie nur?“ Zornig blitzte Jane ihre Feindin an. „Sie sind es nicht wert, die Sachen meiner Mutter auch nur zu berühren, geschweige denn, ihre persönlichen Briefe zu lesen!“

Lady Sulby wich vor ihr zurück, die Hand erschrocken an die Brust gepresst. „Bleib mir vom Leib, du böses, böses Mädchen!“

„Ich habe nicht die Absicht, jemals wieder in Ihre Nähe zu kommen, und ich will mir nicht die Finger schmutzig machen, indem ich Sie berühre. All die Jahre habe ich mich so bemüht, Sie gern zu haben, aber es gelang mir einfach nicht. Nur Sir Barnaby war je freundlich zu mir. Wie sehr bedaure ich, dass ein so liebevoller Mann eine bösartige, rachsüchtige Frau wie Sie zur Gattin hat.“

„Fort mit dir, du entsetzliches Mädchen!“

„Ich gehe, keine Sorge.“ Hoch erhobenen Hauptes schritt Jane zur Tür. Kurz wandte sie sich um, bevor sie den Salon verließ. „Seien Sie versichert, dass ich dieses Haus verlassen werde, sobald ich die wenigen Dinge gepackt habe, die wirklich mir gehören.“ Einschließlich der Briefe ihrer Mutter!

Während sie den Gang entlang zu ihrem winzigen Zimmer im hinteren Teil des Hauses eilte, spürte Jane, wie froh sie war, wie unendlich erleichtert, dass sie endlich einen Grund hatte, Markham Park zu verlassen. Was immer die Zukunft für sie bereithielt, wusste sie doch, dass es nie so fürchterlich sein könnte wie die Jahre, die sie hier an der Seite dieser verhassten Frau hatte verbringen müssen.

4. KAPITEL

Hawk lehnte sich genüsslich in der Wanne zurück. Heute war das Wasser heiß genug und reichte ihm bis zu den Schultern – zweifellos nur, weil der unermüdliche Dolton sich darum gekümmert hatte.

Er war früh aufgestanden und hatte sich für einen Ausritt angezogen. Dolton hatte das Pferd bereits für ihn satteln lassen, und Hawk hatte den Ritt über den sandigen Strand sehr genossen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte sich seine Stimmung zusehends gehoben, als die salzige Meeresbrise ihm durch das Haar gefahren war und wie auf magische Weise seine Gedanken geklärt hatte.

Ganz kurz hatte er sich sogar erlaubt, an Jane Smith zu denken. Das Morgenlicht hatte ihm geholfen, die Begegnung vom gestrigen Abend etwas nüchterner zu sehen. Die plötzliche Leidenschaft, die ihn gepackt hatte, konnte nur ein dummer Impuls gewesen sein. Er hatte sich gelangweilt und war verärgert über seine Lage gewesen. Die süße Jane mit ihren aufregenden Rundungen und der scharfen Zunge war für ihn eine Ablenkung gewesen. Nicht unbedingt eine, die er willkommen hieß, aber dennoch eine Ablenkung.

Seine Stimmung hatte sich weiter gebessert, als er bei seiner Rückkehr nach Markham Park einen Brief ausgehändigt bekam. Es handelte sich dabei nur um den wöchentlichen Bericht seines Sekretärs Andrew Windham aus London, allerdings konnten die Sulbys das nicht wissen. Und so hatten sie seine Erklärung bereitwillig geglaubt, er müsse leider unverzüglich abreisen.

Zumindest sobald er gebadet hatte. Zufrieden seufzend beugte Hawk sich vor, griff nach dem Krug neben der Wanne und schüttete sich den Inhalt übers Haar. In einer Stunde würde er Markham Park verlassen haben. Windhams Brief hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt eintreffen können.

Schon morgen würde er in Mulberry Hall sein. Wieder zu Hause in Gloucestershire, wo ihm Umgebung und Menschen vertraut waren.

Und in sicherer Entfernung zu Jane Smith. Schnell verbannte er sie und ihre bezaubernden grünen Augen aus seinen Gedanken, stieg aus dem Wasser, wickelte sich ein Tuch um die Hüften und ergriff dann ein zweites, um sein Haar zu trocknen. Er würde nach Dolton klingeln, damit er ihm beim Ankleiden und Rasieren half. Umso schnell wie möglich abzufahren, beschloss er, nicht einmal zu warten, bis Dolton sein Gepäck in der zweiten Kutsche verstaut hatte. Hauptsache, er konnte endlich von den Sulbys fort – und von der Versuchung, die Jane Smith darstellte.

Sein Entschluss, Jane nicht wiederzusehen, hatte nichts mit Feigheit zu tun, sondern vielmehr mit Notwehr. Ein so heftiges Verlangen empfand man für eine Mätresse, nicht für eine junge, unverheiratete Dame, die gewiss auf eine Heirat aus war und nicht auf einige wenige leidenschaftliche Nächte.

Ganz im Gegensatz zu ihm, dem im Moment nur die Art von Vergnügen vorschwebte, die ihm eine erfahrene Frau im Bett bieten konnte, ohne im Gegenzug mehr von ihm zu erwarten als ein paar kostbare Schmuckstücke. Einige Nächte dieser Art, und er würde Jane Smith gewiss vergessen haben.

Verwundert drehte er sich zu seiner Schlafzimmertür um, die nach knappem Anklopfen plötzlich aufgerissen wurde. Jane Smith, ausgerechnet sie, kam hereingestürzt, die Wangen gerötet, die Augen vor Tränen schimmernd und ihr wunderschönes rotes Haar zerzaust, einzelne Strähnen fielen auf ihre Wange und ihren zarten Hals.

„Oh!“ Sie blieb abrupt stehen, die Röte ihrer Wangen vertiefte sich noch, als sie bemerkte, dass der Duke fast nackt vor ihr stand.

Sein erster Impuls war, schnell in den Morgenrock zu schlüpfen, der auf einem der Sessel lag. Doch dann hielt Hawk inne. Er befand sich immerhin in seinem Schlafzimmer, in das Jane ungebeten eingedrungen war. Warum sollte er also etwas gegen ihre offensichtliche Verlegenheit tun?

Er hob eine Augenbraue. „Ich nehme an, Sie haben einen sehr guten Grund, um meine Morgentoilette auf diese Weise zu unterbrechen.“

Einen Moment lang konnte Jane ihn nur stumm anstarren. Hatte sie denn einen guten Grund? Ihr fiel jedenfalls keiner ein. Sie wusste nicht mehr, warum sie gekommen war. Und Hawk sah so …

Schon in seinen meisterhaft geschneiderten Frackröcken hatten seine Schultern breit und kraftvoll ausgesehen, aber seine nackte Haut zu betrachten war so viel aufregender. Seine Oberarme waren muskulös, dunkle Härchen bedeckten die breite Brust, und das Badetuch umhüllte schmale Hüften.

Hastig hob sie wieder den Blick zu seinem Gesicht. Das frisch gewaschene Haar, das noch feucht war und ihm in die Stirn fiel, nahm ihm viel von seiner Strenge und verlieh ihm etwas Jugendliches, Verwegenes.

Eben noch war es ihr so wichtig erschienen, den Duke zu sehen, bevor er abreiste. Doch nun erinnerte sie sich nicht einmal, was sie ihm hatte sagen wollen!

„Jane?“

Sie schluckte unruhig und versuchte, sich zu erinnern. „Ich möchte, dass Sie mich mitnehmen, wenn Sie heute abreisen, Euer Gnaden!“ Die Worte sprudelten aus ihr heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

Nach dem Gespräch mit Lady Sulby hatte Jane auf ihrem Zimmer die Briefe ihrer Mutter gelesen. Es waren keine gemeinen oder abscheulichen Briefe, sondern Briefe einer jungen Frau, die ihrem Geliebten das Herz ausschüttete, ihm von dem Kind erzählte, das sie erwartete, und ihm versicherte, dass sie es so sehr liebte wie ihn. Wer immer er war. Denn alle vier Briefe begannen schlicht mit „Mein Geliebter“ und endeten mit „Ewig die Deine, Janette“.

Jane hatte beim Lesen geweint. Um Janette und um Joseph Smith, für den ihre Mutter offensichtlich große Zuneigung empfunden hatte, den sie aber nicht auf die Art hatte lieben können wie ihren verheirateten Geliebten. Und sie weinte um ihren wirklichen Vater, den sie nie kennengelernt hatte.

Später war ihr jedoch ihr Versprechen eingefallen, Markham Park noch heute zu verlassen. Und dass es jemanden gab, der auch heute abreiste und der sie mitnehmen könnte, wenn sie ihn darum bat.

Der Duke of Stourbridge.

Nur dass er heute gar nicht wie der Duke aussah mit seinem noch feuchten Haar und nichts als einem Badetuch um die schmalen Hüften.

„Ich soll Sie mitnehmen?“, wiederholte er ungläubig.

Jane nickte. „Wenn es Ihnen recht ist, Euer Gnaden.“

Ob es ihm recht wäre!

Sie platzte einfach herein, unangekündigt und ohne Rücksicht darauf, ob sie ihn vielleicht störte, und bat ihn dann noch, mit ihm reisen zu dürfen!

Was bezweckte sie mit diesem Verhalten?

Gewiss, Hawk musste zugeben, dass er sich am vorigen Abend impulsiv und unbedacht benommen hatte, Jane in seine Arme zu ziehen. Aber das gab ihr nicht das Recht zu glauben, er könnte eine engere Beziehung zu ihr in Betracht ziehen. Und ganz gewiss nicht, dass er sie mit sich nehmen könnte, wenn er heute abreiste!

Er verzog spöttisch den Mund. „Jane, stellen Sie sich womöglich vor, ich wollte Sie zu meiner Geliebten machen?“

„Nein, selbstverständlich nicht!“ Der Gedanke empörte sie offensichtlich.

Sie sah wunderschön aus in ihrem Zorn. Eine Tatsache, die Hawk zu seinem Ärger nicht entging. Er nahm das Tuch von seiner Schulter, um sich damit das Haar zu trocknen. „Was wollen Sie dann von mir, Jane?“

„Lediglich in Ihrer Kutsche mitfahren. Ich habe eine kleine Summe gespart, falls Sie Geld dafür …“

„Nein, ich verlange keine Bezahlung, Jane! Welcher Art auch immer.“ Seine Stimme klang eisig. „Weil Sie nicht mit mir kommen werden.“ Er warf das Handtuch ungeduldig auf einen Sessel und zog sich jetzt doch den Morgenrock über. „Wie alt sind Sie, Jane?“

„Wie … Ich bin zweiundzwanzig, Euer Gnaden.“

„Tatsächlich?“ Er nickte knapp. „Also alt genug, um zu wissen, dass man nicht unangemeldet in das Schlafzimmer eines Gentlemans stürmt oder, obwohl man ihn in relativ unbekleidetem Zustand vorfindet, ihn dann auch noch darum bittet, von ihm mitgenommen zu werden!“

So gesehen ist seine Annahme, ich wolle seine Geliebte werden, vielleicht doch verständlich, musste Jane widerwillig zugeben. Wenn auch völlig falsch.

„Ich wünsche nicht, dass Sie mich mitnehmen, Euer Gnaden. Ich bitte Sie lediglich um einen Platz in Ihrer Kutsche, wenn Sie abreisen.“ Und sie wünschte, sie hätte ihn nicht mit ihrem plötzlichen Erscheinen in Verlegenheit gebracht.

Allerdings sah der Duke nicht gerade verlegen aus, während er im Zimmer auf und ab ging. Selbst in nichts als einen schwarzen Morgenrock gekleidet, strahlte er jenes überragende Selbstbewusstsein aus, das ihn stets zu umgeben schien.

Unwillkürlich erinnerte sie sich an das Gefühl, an seinen harten Körper gepresst zu werden, an die festen Muskeln seiner Brust, denen gewiss keine Frau widerstehen konnte. Vor allem jene Frau nicht, die noch gestern Nacht auf die schamloseste Weise von ihm geträumt hatte.

Bei der Erinnerung an diese Träume spürte Jane, wie ihre Brustspitzen sich zusammenzogen und sich gegen den weichen Musselinstoff ihres Kleides drückten. Ihre Brüste hoben und senkten sich, und zwischen den Schenkeln fühlte sie wieder dieses warme, erregende Kribbeln.

Jane glaubte Lady Sulby, die ihre Mutter als Dirne bezeichnet hatte, kein Wort. In den Briefen zeigte sich, dass sie nur einen Mann je geliebt hatte, ihren verheirateten Geliebten. Doch während sie jetzt Hawk betrachtete, fragte sich Jane insgeheim, ob sie selbst nicht eine moralisch lockerere Frau war als ihre Mutter. Sie hatte gestern Nacht von diesem Mann geträumt – zügellose, sinnliche Träume. Und auch jetzt war sie sich seiner Gegenwart wieder so intensiv bewusst, dass ihr ganz heiß wurde.

„Sie wissen nicht, was Sie da verlangen, Jane!“

Mutig hielt sie seinem Blick stand. „Ich verspreche Ihnen, ich werde versuchen, Ihnen keine Umstände zu bereiten.“

Hawk unterbrach sie mit einem trockenen Lachen. „Glauben Sie mir, Jane, das brauchen Sie nicht einmal zu versuchen!“ Er konnte unmöglich Stunden, ja Tage in einer engen Kutsche mit der Frau verbringen, die in ihm ein solches Feuer entfachte.

Wenn er sich wieder so vergaß, so wie gestern, würde er sie womöglich, kaum dass sie allein waren, auf den Polstern der Kutsche verführen!

„Warum so eilig, Jane? Was ist seit gestern geschehen, dass Sie unbedingt fortwollen?“

Unwillkürlich wandte sie sich ab. „Ich kann nicht länger unter einem Dach mit Lady Sulby leben. Das ist alles.“

Nein, verdammt, das war sicher nicht alles. Was hatte diese Hexe getan, um Jane so unglücklich zu machen? Hawk spürte regelrecht ihre Verzweiflung.

Es geht dich nichts an, sagte er sich streng. Er mochte Lady Sulby nicht und hielt sie für eine anmaßende, boshafte Frau, aber dennoch war sie die Gattin von Janes Vormund, und damit hatte er kein Recht, sich einzumischen.

Sosehr ihn der Blick in Janes Augen auch berührte. Und obwohl der Gedanke, sie hier zurückzulassen, ständig Lady Sulbys Launen ausgesetzt, Wut in ihm aufsteigen ließ.

Aber wenn Jane das Heim ihres Vormunds gemeinsam mit dem Duke of Stourbridge verließ – immerhin einem Junggesellen –, dann würde zweifellos von ihm erwartet, dass er sie heiratete.

Und das lag ganz gewiss nicht in seiner Absicht!

Er wandte sich ab, um ihr nicht länger in die flehenden Augen schauen zu müssen. „Nein, Jane. Ich fürchte, es ist nicht möglich. Welche Meinungsverschiedenheit Sie und Lady Sulby auch gehabt haben, Sie müssen auf andere Weise damit fertigwerden. Es löst Ihre Probleme nicht, wenn Sie davor davonlaufen.“ Doch obwohl er wusste, dass er das Richtige tat, verachtete er sich insgeheim für seine großspurigen Worte.

Aber hatte er denn eine andere Wahl?

Wenn Jane ihn nur nicht so enttäuscht angesehen hätte, kurz bevor sie sich abwandte, den Kopf gesenkt, die schmalen Schultern traurig herunterhängend.

Hawk stieß resignierend die Luft aus. „Vielleicht wollen Sie mir ja sagen, was der Grund für Ihren Kummer …“

„Nein, danke, Euer Gnaden.“ Jetzt straffte sie die Schultern und hob stolz den Kopf. „Es bleibt mir nur, Ihnen eine gute Reise zu wünschen.“ Und damit ging sie auf die Tür zu.

„Jane!“

„Leben Sie wohl, Euer Gnaden.“ Die Würde in ihrer Stimme traf ihn wie ein Messerstich.

In wenigen Schritten war er bei ihr und legte die Hand auf die geschlossene Tür. „Sie müssen doch einsehen, Jane, wie unziemlich es wäre, wenn Sie und ich gemeinsam ohne Begleitung in meiner Kutsche reisen würden.“

„Ich verstehe vollkommen, Euer Gnaden.“

„Ich sagte doch, Sie sollen aufhören, mich auf diese herablassende Art mit ‚Euer Gnaden‘ anzureden!“ Hawk packte sie bei den Schultern. „Ich sehe, dass Sie bekümmert sind.“ Seine Stimme wurde weicher. „Aber der Kummer wird bald vergehen. Lady Sulby wollte sicher nicht grausam sein …“

„Was wissen Sie schon?“ Die Niedergeschlagenheit von eben war verschwunden. „Sie ist eine verbitterte, hasserfüllte Frau, die jeden mit ihrer Boshaftigkeit quält, den sie für minderwertig hält. Ich glaube nicht, dass Sie auch nur einen Ihrer Hunde so grausam behandeln, wie sie mit mir umspringt!“

Mit einem Ruck befreite sie sich aus Hawks Griff, riss die Tür auf und eilte den Gang hinunter in ihr eigenes Zimmer.

Der Duke hatte ihre Bitte abgeschlagen, aber das änderte nichts an ihrem Entschluss, das Haus noch heute zu verlassen. Sie wollte keinen einzigen Tag länger hierbleiben.

Wenn sie doch nur irgendwie nach London kommen könnte! Dann würde sie von dort eine Postkutsche nach Somerset nehmen, wo Bessie, die alte Haushälterin ihres Vaters, jetzt mit ihrem Sohn wohnte, nur zwei Meilen von dem Ort entfernt, in dem sie früher im Pfarrhaus gelebt hatte.

Jane erinnerte sich, dass Bessie ihre Eltern gekannt hatte, bevor sie selbst zur Welt kam. Und aus ihrer Erfahrung bei den Sulbys wusste sie, dass eine Haushälterin oft besser über ihre Herrschaft informiert war, als dieser recht war. Vielleicht wusste Bessie ja mehr über Janettes Geliebten als Lady Sulby.

Nach der schmerzhaften Lektüre der Briefe hatte Jane einen Entschluss getroffen: Ihr leiblicher Vater hatte vielleicht nie den Wunsch gehabt, sie kennenzulernen, und er hatte womöglich sogar seine Geliebte verstoßen, weil sie sein Kind erwartete. Das bedeutete jedoch nicht, dass dieses Kind nicht das Recht hatte, ihn aufzusuchen.

Als verheirateter Mann würde es ihm sicher nicht gefallen, plötzlich mit einer zweiundzwanzigjährigen Tochter konfrontiert zu werden, aber hatte er sich denn um Janettes Gefühle gekümmert, als sie ihn gebraucht hatte?

Der Duke weigerte sich also, sie mitzunehmen. Sie war indes so entschlossen, nach London zu kommen, dass sie zu Fuß gehen würde, wenn es nötig war.

„Noch etwas Wein, Euer Gnaden?“ Das Serviermädchen im Gasthof, in dem Hawk die Nacht verbringen wollte, blieb erwartungsvoll neben seinem Tisch stehen, den Weinkrug in der Hand.

Hawk nickte geistesabwesend. Er hatte von den Speisen, die ihm zusammen mit dem Wein in einem privaten Raum serviert worden waren, nicht viel gekostet. Nicht, weil irgendetwas mit dem Essen nicht gestimmt hätte, sondern weil ihm nur der Wein in seiner düsteren Stimmung helfen konnte.

Er hatte Markham Park kurz nach der unerfreulichen Unterhaltung mit Jane verlassen. Statt jedoch wie erwartet erleichtert zu sein, musste er ständig an Janes letzten gequälten Blick denken, kurz bevor sie sich von ihm abgewandt hatte. Je weiter er sich von Markham Park entfernt hatte, desto drückender wurde sein schlechtes Gewissen. Und jetzt, zehn Stunden später, quälte ihn der Gedanke, dass er Jane einfach ihrem Schicksal überlassen hatte.

Hinzu kam noch die Reue darüber, dass er sie beschuldigt hatte, Lord Tillton verführen zu wollen. Jetzt wusste er, wie sehr er sich da geirrt hatte.

Als er sich am Morgen von den übrigen Gästen verabschiedet hatte, waren ihm vier halbmondförmige Male am Handgelenk des Mannes aufgefallen – wie von vier Fingernägeln. Janes Fingernägeln.

Heute Morgen in seinem Schlafzimmer hatte Jane auch nicht versucht, ihn zu verführen oder mit weiblichen Tricks zu überreden, sie mitzunehmen. Ihre einzigen Waffen waren die Blässe ihrer Wangen und die Verzweiflung in ihrem Blick gewesen.

Verdammt, er hätte ja doch nichts für sie tun können!

Dass er aber nichts getan hatte, passte ihm ganz und gar nicht …

„Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Euer Gnaden?“

„Nein.“ Er seufzte und nickte, als sie den Teller mit dem kaum angerührten Essen abservieren wollte. „Außer vielleicht einen weiteren Krug Wein. Und …“ Sie blieb an der Tür stehen. „Schick mir meinen Kammerdiener her, sobald er ankommt, ja?“

Sehr zu seinem Ärger hatte Dolton ihn mit der Gepäckkutsche noch nicht eingeholt. Wodurch wurde der Mann nur so lange aufgehalten? Vielleicht hatte er Neues über Jane zu berichten. Vielleicht würde er ja sagen, dass sie wieder lächelte und glücklich war …

Nein, unmöglich, wies Hawk sich selbst zurecht. Ebenso gut könnte Dolton ihm mitteilen, Lady Sulby sei plötzlich eine herzensgute Frau geworden. Hawk wollte sich nichts vormachen. Dass er hoffte, Erfreuliches aus Markham Park zu hören, sollte nur sein schlechtes Gewissen beruhigen. Aber die Wirklichkeit sah anders aus – er hatte Jane im Stich gelassen, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte.

Was würde sie jetzt tun? Würde sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen und das einzige Heim verlassen, das sie seit zwölf Jahren kannte? Wo würde sie hingehen? Und zu wem?

„Euer Gnaden?“

Tief in Gedanken versunken, bemerkte Hawk nicht sofort, dass Dolton hereingekommen war. Er lächelte erleichtert, bis der überraschte Blick seines Kammerdieners ihn daran erinnerte, dass er gemeinhin nicht so vertraulich mit ihm umging. „Dolton.“ Seine Miene wurde ernst. „Ich hoffe, die Reise verlief ohne Zwischenfälle?“

„Äh … nicht ganz, Euer Gnaden.“ Dolton, ein kleiner, schlanker Mann mittleren Alters mit blassblauen Augen und leicht schütterem Haar, schien sich im Moment entschieden unbehaglich zu fühlen und wich dem Blick des Dukes aus.

„Nein?“ Hawk hob die Augenbrauen. Er hatte nur aus Höflichkeit gefragt, da er gewohnt war, dass Dolton jedes Problem leicht aus dem Weg schaffte, ohne seinen Herrn damit zu behelligen.

Noch immer sah Dolton ihm nicht in die Augen. „Nein, Euer Gnaden. Ich … vielleicht sprechen wir lieber oben in Ihrem Zimmer weiter, Sir“, fügte er verlegen hinzu, als das Serviermädchen mit dem zweiten Krug Wein zurückkam.

Doltons Verhalten war wirklich eigenartig. „Wie Sie sehen können, habe ich mein Mahl noch nicht beendet.“

„Ja, Euer Gnaden.“ Dolton kaute unruhig auf der Unterlippe. „Es ist nur so, dass ich lieber allein mit Ihnen sprechen würde. Wenn es Ihnen recht ist, Sir?“

„Lass uns bitte allein.“ Hawk schickte das Mädchen fort. Sobald die Bedienung verschwunden war, wandte er sich wieder an seinen Diener: „Nun, wollen Sie so freundlich sein und mir sagen, was Sie so durcheinandergebracht hat?“

Sein Kammerdiener atmete tief durch. „Ich möchte es Ihnen lieber zeigen, Euer Gnaden.“

„Was kann Sie denn nur so verstört haben, Dolton?“ Hawk schüttelte den Kopf, stand aber auf. „Haben Sie auf einer meiner Westen einen Fleck gefunden, der sich nicht entfernen lässt? Oder vielleicht einen Kratzer auf meinen besten Stiefeln?“ Es war nichts Ungewöhnliches für Dolton, über ein derartiges Malheur schier zu verzweifeln.

„Nichts so Einfaches, fürchte ich, Euer Gnaden“, meinte Dolton bekümmert, bevor er die Tür öffnete.

„Hat die Kutsche ein Rad verloren?“, riet Hawk, ein wenig spöttisch, während sie gemeinsam die Treppe hinaufgingen.

„Nein, Euer Gnaden.“ Sein Kammerdiener seufzte tief.

„Um Himmels willen, Mann. Hören Sie doch endlich auf, um den heißen Brei herumzureden, und sagen Sie mir, was hier vor sich …“

Hawk unterbrach sich, als er die Tür zum Schlafzimmer öffnete, blieb abrupt stehen und starrte verständnislos die in Hut und Mantel gekleidete schlanke Dame an, die sittsam in der Mitte des dürftig möblierten Raums stand.

Jane Smith sah auf und bedachte ihn mit einem alles andere als sittsamen Blick aus ihren grünen Augen.

„Was hat das zu bedeuten?“ Hawk erinnerte sich nicht, je so wütend gewesen zu sein.

„Ich habe die Kutsche nur einen Moment unbeaufsichtigt gelassen, Euer Gnaden. Als ich den Picknickkorb holen ging, den die Köchin für unsere Reise gefüllt hatte“, erklärte Dolton hastig. „Sie muss sich hineingeschlichen haben, während ich im Haus war. Wie Sie wissen, Euer Gnaden, wird mir in der Kutsche übel, also reise ich lieber oben auf dem Bock. Und so entdeckten wir Miss Smiths Anwesenheit erst vor einer Stunde, als es kalt wurde und ich die Kutsche halten ließ, um meinen Umhang zu holen. Miss Smith hatte sich zwischen Ihren Koffern versteckt, Euer Gnaden“, schloss er kläglich.

Hawk hörte ihm kaum zu. Er wusste nur, dass Jane Smith nicht hier sein sollte. Nicht im Gasthof und erst recht nicht – schon wieder – in seinem Schlafzimmer.

„Sie scheinen es sich zur Gewohnheit zu machen, Miss Smith“, meinte er eiskalt.

„So ist es, Euer Gnaden.“ Unerschrocken begegnete sie seinem Blick.

„Ich sollte Sie verprügeln und sofort wieder nach Markham Park zurückbringen lassen!“

Jane hob trotzig das Kinn. „Versuchen Sie es ruhig, Euer Gnaden.“

„Ich hatte nicht vor, mich selbst darum zu kümmern, Jane.“ Er bedachte seinen Kammerdiener mit einem strengen Blick.

Sosehr sie es auch versuchte, Jane konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie die offensichtliche Bestürztheit auf Mr Doltons Gesicht sah.

„Es ist wirklich sehr grausam von Ihnen, sich mit dem armen Mr Dolton so einen Spaß zu erlauben, Euer Gnaden.“ Je länger sie von Markham Park fort war und je größer die Entfernung zu der Frau wurde, die sie so viele Jahre lang mit ihrem Hass gequält hatte, desto freier fühlte Jane sich. Obwohl ihre Zukunft sehr unsicher war, war ihr lange nicht mehr so leicht ums Herz gewesen.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich scherze?“, meinte Hawk hochmütig.

„Weil ich mindestens sechs Zentimeter größer bin als Mr Dolton, und vermutlich sogar kräftiger?“ Belustigt sah sie dem Duke ins finstere Gesicht.

Irgendwie konnte sie seinen Ärger ja auch verstehen. Kaum glaubte er, sie ein für alle Mal losgeworden zu sein, da tauchte sie auch schon wieder auf.

„Miss Smith bleibt nicht“, wandte er sich jetzt an seinen bebenden Diener.

„Miss Smith bleibt sehr wohl.“ Um ihre Worte zu bekräftigen, löste Jane die Schleife ihres Hutes, nahm ihn ab und legte ihn auf einen Sessel, dann löste sie die Bänder ihres Umhangs. „Vielleicht nicht genau in diesem Zimmer“, lenkte sie in spöttischem Ton ein. „Aber ich bin sicher, der Gastwirt wird mir ein anderes zur Verfügung stellen können, in dem ich die Nacht verbringen kann.“

„Und was dann?“, fragte Hawk wütend. „Beabsichtigen Sie etwa, den Rest Ihrer Reise zu Fuß fortzusetzen?“

„Wenn es nötig ist.“ Jane setzte sich auf den äußersten Rand des Himmelbetts und betrachtete Hawk ruhig.

Er presste kurz die Lippen zusammen. „Sie sind ohne Zweifel die unverantwortlichste, starrköpfigste …“

„Ich denke, das wäre ein guter Zeitpunkt, sich zurückzuziehen und dem weiteren Unmut des Dukes zu entkommen, Mr Dolton.“ Jane lächelte den aufgeregten Mann freundlich an.

„Ja, Sie können uns allein lassen, Dolton“, bestätigte Hawk. „Für den Moment“, fügte er streng hinzu.

„Gehen Sie doch hinunter und lassen Sie sich etwas zu essen geben, Mr Dolton.“ Jane schenkte ihm wieder ein ermutigendes Lächeln. „Ich werde mich bald zu Ihnen gesellen.“ Es war ein langer Tag gewesen, und sie war hungrig und durstig. Vorher musste sie allerdings mit dem Duke sprechen.

„Ich erinnere mich nicht, Ihnen erlaubt zu haben, meinem Bediensteten Befehle zu erteilen.“

Sobald sie mit Hawk allein war, wandte Jane sich ihm ruhig zu. „Sie haben den armen Mann ganz unnötig gequält.“

„Miss Smith!“

„Euer Gnaden?“

Dass sie ihn derart ungerührt ansah, trug nicht dazu bei, seinen Zorn zu besänftigen. Hawk stellte fest, dass er noch immer so wütend war wie in dem Moment, als er sie völlig unerwartet in seinem Zimmer vorgefunden hatte. Am liebsten hätte er sie bei den Schultern gepackt und tüchtig geschüttelt.

Allerdings wusste er nicht, ob es klug von ihm wäre, Jane jetzt zu berühren. Würde er sie wirklich schütteln – oder küssen?

So viele Stunden hatte er sich mit dem Gedanken gequält, sie müsste weiter unter der Grausamkeit Lady Sulbys leiden, und nun stellte sich heraus, dass sie gar nicht mehr auf Markham Park weilte, sondern ihm gemütlich in seiner zweitbesten Kutsche hinterherreiste.

Er runzelte die Stirn, als Jane lächelte. „Wahrscheinlich gratulieren Sie sich gerade dazu, wie wunderbar Sie es geschafft haben, sich über meine Anweisungen hinwegzusetzen.“

Zwar war „gratulieren“ nicht ganz das richtige Wort, aber Jane musste zugeben, dass sie sehr zufrieden darüber war, Markham Park hinter sich gelassen zu haben. „Ihre Anweisungen kamen mir, glaube ich, gar nicht in den Sinn, als ich heute Morgen in die Kutsche geklettert bin.“

„Davon bin ich überzeugt!“

„Allerdings“, fuhr sie ungerührt fort, „kann ich nicht leugnen, dass ich überaus froh darüber bin, die Sulbys verlassen zu haben.“

Hawk schnaubte gereizt. „Es wird doch jedem auffallen, dass Sie kurz nach meiner Abreise verschwunden sind. Das ist Ihnen ja wohl bewusst? Sir Barnaby wird sicher nach Ihnen suchen lassen.“

Beim Gedanken an Lady Sulbys bösartige Worte schüttelte Jane den Kopf. „Das glaube ich nicht, Euer Gnaden.“

„Jane, sehen Sie denn nicht, wie unbesonnen Ihr Verhalten ist?“ Mit zwei Schritten war er bei ihr und sah ihr eindringlich ins Gesicht. „Sie sind eine junge Frau, allein mit einem unverheirateten Mann. Wenn jemand Sie hier mit mir entdeckt …“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Euer Gnaden.“ Jane erhob sich abrupt und trat ein paar Schritte zurück. Seine Nähe brachte sie ein wenig aus der Fassung. „Falls es nötig sein sollte, können wir Mr Dolton sicher dazu überreden, mich als seine Verwandte auszugeben.“

Er runzelte die Stirn. „Wie lange haben Sie und Dolton überhaupt gemeinsam in der Kutsche verbracht?“

Zuerst glaubte sie schon, er wollte sie schon wieder beschuldigen, sie flirte mit einem Mann, aber dann sah sie widerwillige Belustigung in seinen goldbraunen Augen und entspannte sich wieder. „Nur etwa eine Stunde. Ich denke jedoch, er hat mich ganz gern und wird bereit sein, mich als seine Nichte auszugeben, sollte jemand fragen.“

„Da bin ich sicher.“ Hawk spürte, dass sich sein Ärger ein wenig legte. Er konnte sich vorstellen, dass Dolton protestieren würde, sollte er vorschlagen, Jane aus dem Haus zu weisen.

Natürlich war ihm klar, dass es seine Pflicht wäre, Jane sofort zu ihrem Vormund zurückzuschicken. Alles andere wäre Wahnsinn. Aber Janes Verzweiflung war ihm noch deutlich in Erinnerung. Er brachte es einfach nicht über sich, ihr erneut seine Hilfe zu verweigern.

Stattdessen seufzte er tief. „Sind Sie hungrig, Jane?“

„Völlig ausgehungert.“

„Nun gut.“ Er nickte knapp. „Dann sollten wir unten das Dinner …“

„Oh, vielen Dank, Euer Gnaden.“ Sie kam zu ihm und nahm seine Hände in ihre. „Danke! Danke!“ Jedes Wort unterstrich sie mit einem Kuss auf seine Hände und presste sich schließlich eine davon an die Wange.

Hawk, der bei der ersten Berührung zusammengezuckt war, stockte der Atem. Wie weich ihre Wange sich anfühlte, wie sinnlich zart. Wie von selbst strich sein Daumen über die seidig warme Haut und berührte schließlich ihre rosigen Lippen. Und diese Lippen öffneten sich leicht. Ihr warmer Atem auf seiner Haut war die reinste Verlockung, der Blick aus ihren schönen grünen Augen strahlte nichts als tiefstes Vertrauen aus.

Eine ganze Weile lang wusste Hawk selbst nicht, was er als Nächstes tun würde. Fasziniert heftete er den Blick auf jene leicht geöffneten Lippen, mit aller Kraft kämpfte er gegen den heftigen Impuls an, Jane zu küssen, sie überall zu küssen. Von der Stirn bis zu den zierlichen Füßen. In diesem Moment würde sie ihm in ihrer Dankbarkeit wahrscheinlich nichts verweigern.

Aber wie könnte er ihre Dankbarkeit derart ausnutzen? Es würde ihn zu einem Schurken stempeln, wenig besser als jene Menschen, vor denen sie davongelaufen war.

„Hören Sie auf, Jane!“ Abrupt entzog er ihr seine Hände und wandte sich ab, um den Schmerz in ihren Augen nicht zu sehen. „Ich schlage vor, Sie warten hier, während ich Dolton anweise, eine Übernachtungsmöglichkeit für mein Mündel zu arrangieren …“

„Ihr Mündel, Euer Gnaden?“, wiederholte Jane verständnislos.

Er nickte knapp. „Mir fällt keine bessere Erklärung dafür ein, dass eine unverheiratete junge Dame allein in der Gesellschaft des Duke of Stourbridge reist. Da Dolton ja neuerdings eine Vorliebe für derlei Täuschungen zu entwickeln scheint, wird er sicher eine Entschuldigung dafür finden, weswegen Sie ohne Zofe unterwegs sind“, fügte er trocken hinzu. „Vielleicht eine unerwartete Krankheit, die Ihr Mädchen davon abgehalten hat, uns nach Gloucestershire zu begleiten?“

„Gloucestershire? Aber ich dachte … Sie kehren nicht nach London zurück?“

„Nein, Jane. Mein Landsitz Mulberry Hall befindet sich in Gloucestershire, und ich beabsichtigte, dort den Rest des Sommers zu verbringen. Da ich nicht vorhabe, Sie weiterhin allein durch die Weltgeschichte reisen zu lassen, werden Sie mich dorthin begleiten müssen.“

Ungläubig starrte Jane ihn an. So viel zu ihrem Plan, in London die Kutsche nach Somerset zu nehmen und zu ihrer lieben Bessie zu fahren. Jetzt sah es so aus, als würde sie zusammen mit dem Duke nach Gloucestershire reisen – einem Mann, der die heißesten Sehnsüchte in ihr weckte …

5. KAPITEL

Sie sind heute Morgen sehr still, Euer Gnaden.“

Seine einzige Antwort auf ihre Bemerkung bestand in dem kaum hörbaren Zähneknirschen, das Jane schon mehrere Male vernommen hatte in den letzten zwei Stunden. Seit Hawk und sie sich auf den Weg zum herzoglichen Landsitz gemacht hatten, ja, im Grunde seit ihrem gemeinsamen Dinner am vorigen Abend hüllte er sich in beunruhigendes Schweigen.

Selbstverständlich hatten sie sich während des gesamten Mahls gestritten. Jane hatte sich geweigert, mit ihm nach Gloucestershire zu fahren, und er war ebenso entschlossen gewesen, sie auf keinen Fall irgendwo an einer Poststation aussteigen zu lassen, damit sie allein nach London weiterreisen konnte.

Erst nachdem er erklärt hatte, die einzige andere Möglichkeit, die in seinen Augen akzeptabel wäre, sei, sie nach Markham Park zurückzubringen, hatte Jane schließlich nachgegeben.

Beim Abschied hatten sie sich eher kühl eine gute Nacht gewünscht. Jane hatte sich erst dann ein wenig besänftigt gefühlt, als sie das schöne Schlafzimmer betreten hatte, das Mr Dolton für sie hatte vorbereiten lassen. Und es war ihm tatsächlich gelungen, die Tochter des Gastwirts zu überreden, ihr als Zofe zur Verfügung zu stehen und ihr ein wundervoll heißes Bad zu bereiten.

Ausgeschlafen und guter Dinge war sie heute Morgen aufgestanden, entschlossen, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Immerhin war Gloucestershire im Grunde sogar näher an ihrem wahren Ziel als London, auch wenn der Duke das natürlich nicht wissen konnte.

Mary, die Tochter des Wirts, hatte ihr ein Tablett mit dem Frühstück auf ihr Zimmer gebracht, also hatte Jane keine Gelegenheit gehabt, mit dem Duke zu sprechen, bevor sie gemeinsam in die Kutsche gestiegen waren.

Wie erwartet, war die Kutsche innen ebenso luxuriös ausgestattet wie von außen, und die Sitze waren so weich, dass der Reisende höchste Bequemlichkeit genoss. Selbst die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen, um gute Laune zu verbreiten. Wahrscheinlich wäre es eine sehr angenehme Reise geworden, wenn der Duke nicht so hartnäckig geschwiegen hätte.

Verstohlen betrachtete Jane ihn. Mehrere Male hatte sie nun schon versucht, ihn in ein Gespräch zu ziehen. Sie hatte eine Bemerkung zum Wetter gemacht, als sie ihren Umhang ablegte, und in ihrem zunehmenden Unbehagen über sein Schweigen sogar erklärt, dass Sir Barnaby ihr das grüne Kleid, das sie heute trug – eins ihrer Lieblingskleider –, im vorigen Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. In beiden Fällen hatte sie nur ein Stirnrunzeln und ein unartikuliertes Brummen zur Antwort bekommen. Danach hatte sie nicht mehr den Mut gefunden, ein neues Thema anzuschlagen.

Jetzt beugte sie sich leicht vor. „Habe ich heute Morgen irgendetwas getan, das Sie verärgert hat, Euer Gnaden?“

„Habe ich Sie nicht schon des Öfteren gebeten, mich nicht andauernd mit ‚Euer Gnaden‘ anzusprechen?“

Jane blinzelte erschrocken über seinen scharfen Tonfall. „Ich weiß nicht, wie ich Sie sonst anreden soll, Euer … Sir …“

Er schnaubte. „Habe ich Sie nicht gebeten, mich Hawk zu nennen?“ Seine Miene wurde, wenn möglich, noch finsterer.

„Doch.“ Sie errötete, als ihr einfiel, bei welcher Gelegenheit er das getan hatte. „Und das mag ja angehen, wenn wir allein sind, aber in Gesellschaft anderer wäre es höchst unangebracht.“

„Es kann Ihnen unmöglich entgangen sein, Jane, dass wir uns im Moment nicht in Gesellschaft anderer befinden!“, stieß er spöttisch hervor.

Natürlich war ihm bewusst, dass er sich wie ein Rüpel benahm. Trotzdem schien er einfach nichts dagegen tun zu können. Genau, wie er befürchtet hatte, als er Janes Bitte abgelehnt hatte, sie in der Kutsche mitzunehmen, erwies sich ihre Nähe als reine Tortur.

Es fing schon damit an, dass sie heute Morgen so ungemein glücklich aussah. Kein Vergleich zu dem eingeschüchterten Geschöpf, das er vor zwei Tagen kennengelernt hatte. War es wirklich erst zwei Tage her, seit diese junge Frau im wahrsten Sinne des Wortes in sein Leben gestolpert war? Es kam ihm so viel länger vor. Heute strahlten ihre Augen vor Freude, ihre Wangen waren gerötet, und auf ihren schönen Lippen lag ein liebliches, zufriedenes Lächeln.

Seiner Meinung nach hatte sie nicht das Recht, so glücklich zu sein, nachdem sie sein sonst so friedliches Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte!

Als sie vorhin ihren Umhang abgelegt hatte, war ein blassgrünes Kleid darunter zum Vorschein gekommen, das ihre Haut schimmern ließ und die Farbe ihres hochgesteckten feuerroten Haars betonte. Dass es ein Geschenk Sir Barnabys war, bestätigte Hawk wenigstens, dass er sich nicht völlig in dem Mann getäuscht hatte. Wie es aussah, hatte Sir Barnaby sich nur ein einziges Mal einen schweren Fehltritt gestattet, was den guten Geschmack anging: als er sich vor fünfundzwanzig Jahren eine Frau erwählt hatte.

Doch jetzt saß Jane ihm gegenüber, sah entspannt und wunderschön aus und machte es ihm unmöglich, die aufregenden Rundungen unter dem Kleid zu übersehen. Ihre vollen Brüste bewegten sich jedes Mal so verlockend, wenn die Kutsche durch eine Furche in der Straße fuhr, dass Hawk seine Sitzposition verändern musste, weil sein Körper ausgesprochen heftig reagierte.

Er wusste, dass sein Schneider stolz darauf war, ihm jedes Kleidungsstück auf den Leib zu schneidern. Was immer er trug, schmiegte sich fast wie eine zweite Haut an seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und die kräftigen Schenkel. Doch in diesem Moment wünschte Hawk wirklich, der Mann hätte ihm beim Zuschneiden der Hose ein wenig mehr Spielraum gelassen!

Jane, noch immer eine wahre Unschuld, trotz ihrer Behauptung, schon zweiundzwanzig zu sein, erkannte natürlich nicht den Grund für sein Unbehagen. Gereizt sah er sie an. „Ausgerechnet Sie wagen es, mich wegen meines Schweigens zu tadeln, Jane?“

Leichte Röte stieg ihr in die Wangen, da sie wusste, worauf er anspielte. Gestern Abend hatte er wiederholt versucht zu erfahren, weshalb sie Markham Park so plötzlich verlassen hatte und was sie zu tun beabsichtigte, sobald sie in London angekommen war. Dennoch war sie hartnäckig geblieben und hatte keine seiner Fragen beantwortet.

Wie sollte sie einem Mann, der wahrscheinlich seine Ahnen bis ins Mittelalter zurückverfolgen konnte, erklären, dass sie nur nach London und Somerset wollte, um herauszufinden, wer ihr wirklicher Vater war? Das konnte sie einfach nicht. Danach würde er sich vermutlich weigern, sich weiterhin mit ihr abzugeben. Außerdem wäre es illoyal ihrer Mutter gegenüber, wenn sie jetzt zugab, dass diese einen Mann geheiratet hatte, den sie nicht liebte, nur um ihrer Tochter einen Namen zu geben.

Und so war sie, sehr zum Leidwesen des Dukes, stumm geblieben. Wie es aussah, ärgerte ihr Schweigen ihn sogar jetzt noch.

„Ich habe Sie nicht getadelt, Euer Gnaden.“ Sie ignorierte sein spöttisches Schnauben. „Ich habe lediglich angemerkt, dass Sie heute ungewöhnlich verschlossen sind.“

„Im Gegensatz zu manchen Leuten, Jane, verspüre ich nicht das Bedürfnis, jeden wachen Moment meines Lebens mit albernem Geschwätz zu verbringen.“

Sie zuckte unter seinem absichtlich beleidigenden Ton zusammen. „In dem Fall erlaube ich Ihnen, wieder in Ihr Schweigen zu verfallen, Euer Gnaden.“ Damit wandte sie sich von ihm ab und blickte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen, da ihr völlig unerwartet Tränen in die Augen stiegen.

War es falsch, sich ihm nicht anzuvertrauen?

Wenn er nur Hawk St Claire wäre, der Mann, mit dem sie sich vor zwei Abenden am Strand unterhalten hatte, wäre es ihr vielleicht leichter gefallen. Allerdings war es ihr unmöglich zu vergessen, dass er auch der Duke of Stourbridge war, ein reicher, mächtiger Aristokrat, der für die Umstände ihrer Geburt ganz gewiss kein Verständnis haben würde.

Unerwarteterweise empfand Hawk einen schmerzhaften Stich, als er feststellte, dass Jane gegen die Tränen ankämpfte, die er mit seiner Grobheit verursacht hatte.

Seit dem Tod seiner Mutter vor zehn Jahren war seine Schwester Arabella die einzige Frau, die ein fester Bestandteil seines Lebens war. Als Kind war sie süß und liebenswert gewesen, doch während der letzten Monate, ihrer ersten Saison in London, hatte sie sich als ebenso eigensinnig und willensstark entpuppt wie ihre zwei älteren Brüder. Ihre Tante, Lady Hammond, die sie für die Saison unter ihre Fittiche genommen hatte, hatte sie zu einem höchst widerspenstigen Wildfang erklärt und sich in ihr Londoner Domizil zurückgezogen, um sich von den Strapazen zu erholen. Was bedeutete, dass Arabella zurzeit ohne Anstandsdame war.

Auch Jane konnte sehr widerspenstig werden, wenn es die Situation ihrer Meinung nach erforderte. Anders als Arabella hatte sie dabei aber offensichtlich nicht das Bedürfnis, mit jedem die Klingen zu kreuzen. Die vielen Jahre, die Jane unter der Herrschaft der scharfzüngigen Lady Sulby verbracht hatte, hatten ihren Widerspruchsgeist offenbar etwas gedämpft. Im besten Fall war sie wie eine arme Verwandte behandelt worden, und im schlimmsten Fall – er hatte es selbst miterlebt – wie wenig mehr als eine Bedienstete.

Er seufzte schwer. „Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Jane.“

Erstaunt sah sie ihn an, noch immer Tränen in den Augen. „Entschuldigen, Euer Gnaden?“

Dieses Mal zog er es vor, sie nicht für ihre Förmlichkeit zu schelten. „Ich bin in ausgesprochen … reizbarer Stimmung. Aber ich sollte meine schlechte Laune wirklich nicht an Ihnen auslassen.“

Sie lächelte zaghaft. „Selbst dann nicht, wenn ich der Grund für Ihre schlechte Laune bin?“

„Aber das sind Sie doch gar nicht. Zumindest nicht ausschließlich“, fügte er neckend hinzu. „Sie haben keine Geschwister, Jane, oder?“

„Nein, Euer Gnaden“, bestätigte sie mit plötzlich heiser klingender Stimme.

Was hatte er nur gesagt, dass Jane die Augen senkte und die Hände so verkrampfte? Sosehr es ihn störte, dass sie ihm ihre Probleme nicht anvertrauen wollte, konnte er es doch nicht ertragen, ihr noch mehr Kummer zu bereiten.

Übertrieben dramatisch schüttelte er den Kopf. „Jane, Sie ahnen ja nicht, wie glücklich Sie sich schätzen können.“

„Glücklich, Euer Gnaden?“

Er verzog das Gesicht zu einer kläglichen Grimasse. „Ich habe zwei jüngere Brüder und eine noch jüngere Schwester. Und sie alle scheinen entschlossen zu sein, mich vor meiner Zeit altern zu lassen!“

Jane musste lächeln. „Auf welche Weise, Euer Gnaden?“

„Auf jede Weise!“

„Erzählen Sie mir von ihnen“, bat Jane, gegen ihren Willen amüsiert.

Er lehnte sich in die Polster zurück. „Lucian ist achtundzwanzig Jahre alt und, seit er gleich nach Bonapartes Niederlage sein Offizierspatent verkaufte, mürrisch und unnahbar. Sebastian ist sechsundzwanzig und genießt nichts mehr, als sich in jeden Skandal verwickeln zu lassen, den Sie sich vorstellen können, und in manche, von denen ich hoffe, dass Sie davon keinerlei Vorstellung haben.“ Er schüttelte voller Abscheu den Kopf. „Was Arabella angeht … Meine Schwester zählt erst achtzehn Jahre und hatte kürzlich ihre erste Londoner Saison.“

Seine letzte Bemerkung wurde mit so viel Gefühl ausgesprochen, dass Lady Arabellas erste Saison wohl nicht so erfolgreich verlaufen war, wie der Duke es sich vorgestellt hatte.

„Sie ist sehr jung, Euer Gnaden. Es wird noch viele Gelegenheiten für sie geben, einen Heiratsantrag zu bekommen.“

Hawk schmunzelte. „Sie haben mich missverstanden, Jane. Meine Schwester hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Anträge erhalten, sich aber geweigert, einen davon anzunehmen!“

Dass er ihr das erlaubt hatte, zeigte zumindest, dass er nachsichtiger mit seinen jüngeren Geschwistern war, als er zugeben wollte. Jane zuckte die Achseln. „Vermutlich hat Lady Arabella keinen dieser Männer lieben können.“

„Lieben, Jane? Was hat eine Ehe denn mit Liebe zu tun?“

„Oh. Aber …“ Sie unterbrach sich betroffen. Ihre eigene Mutter hatte schließlich auch nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil sie ein Kind erwartete.

Diente die Ehe wirklich nur dem Zweck, Kinder in die Welt zu setzen, die man aus Pflichtgefühl gebar, nicht aus Liebe? Erwartete auch der Duke genau das von seiner Ehe – eine Gattin, die ihm legitime Kinder schenkte, vor allem den nötigen Erben seines Titels, während er sich zweifellos eine Geliebte in der Stadt hielt und sein Leben lebte, wie es ihm gefiel?

War es etwa das, was alle Gentlemen des ton sich von ihrer Ehe versprachen?

Dann war Jane froh, dass sie nicht zur feinen Gesellschaft gehörte.

Mit ihren zweiundzwanzig Jahren wusste sie bereits nur zu gut, was es hieß, nicht geliebt zu werden, als dass sie sich für den Rest ihres Lebens mit einer solchen Gefühlskälte zufriedengeben könnte. Lieber blieb sie eine alte Jungfer, als in einer lieblosen Ehe lediglich geduldet zu sein.

Aber wer würde sie schon heiraten wollen? Sie war die Tochter einer Frau, die während der Schwangerschaft von ihrem verheirateten Liebhaber im Stich gelassen worden war.

„Jane?“

Sie zuckte zusammen. Sie war unvorsichtig gewesen und hatte ihre Gedanken schweifen lassen, erkannte sie mit Schrecken. Und die seltsamen goldbraunen Augen des Dukes sahen viel zu viel, als dass man sich eine solche Unachtsamkeit erlauben dürfte.

Heute sah er wieder unglaublich gut aus in seinem königsblauen Gehrock, dem schneeweißen Hemd, der blassblauen Satinweste und den cremefarbenen Pantalons. Energisch wies sie sich zurecht. Solche Gedanken konnte sie sich nun wirklich nicht erlauben, nachdem sie sich gerade klargemacht hatte, wie schlecht es um ihre Heiratschancen stand.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ihre Geschwister klingen gar nicht so übel, Euer Gnaden.“

Er schnaubte spöttisch. „Das sagen Sie nur, weil Sie sie nicht kennen.“

Hawk war aufgefallen, wie bedrückt Jane für einen Moment ausgesehen hatte. Dass mehr vorgefallen war als eine bloße Meinungsverschiedenheit mit Lady Sulby, daran hatte er keinen Zweifel. Und er war ebenso sicher, dass sie ihm auf keinen Fall davon erzählen würde.

Nachdenklich betrachtete er sie einen Augenblick. „Aber Sie werden sie bald kennenlernen. Zumindest Arabella“, fügte er hinzu, da ihm der Gedanke, sie könnte dem attraktiv-melancholischen Lucian oder dem spitzbübischen Sebastian begegnen, gar nicht so sehr gefiel.

Trotz all seiner Klagen mochte Hawk seine Brüder sehr, allerdings kannte er auch ihre Schwächen, und die Vorstellung, einer der beiden gut aussehenden Schurken könnte sich für die hübsche, unschuldige Jane interessieren, war ihm mehr als unangenehm.

„Wann sollte ich dazu Gelegenheit haben, Euer Gnaden?“, fragte Jane verwundert.

„Die Saison ist vorüber, und meine Schwester Arabella ist nach Mulberry Hall zurückgekehrt.“

Also würde Lady Arabella St Claire bereits ungeduldig auf die Ankunft ihres ältesten Bruders warten? Nein, nach dem Wenigen, was Jane von der willensstarken jungen Frau gehört hatte, war das wohl nicht sehr wahrscheinlich.

Doch ob nun in freudiger Erwartung oder nicht, Lady Arabella würde auf Mulberry Hall sein, wenn der Duke ankam. Und mit mir an seiner Seite, dachte Jane. Wie wollte er die Anwesenheit einer unbekannten Frau erklären, die den langen Weg aus Gloucestershire mit ihm gemeinsam – und ohne Anstandsdame – in der Kutsche gereist war?

„Oh, sicher“, sagte sie nur leise und senkte den Blick. „Ich …“ Sie benetzte die plötzlich trockenen Lippen. „Welche Erklärung werden Sie Lady Arabella für meine Anwesenheit geben, Euer Gnaden?“ Sie sah ängstlich auf. „Schließlich wird sie wissen, dass ich nicht Ihr Mündel bin.“

Er hob die dunklen Augenbrauen. „Warum sage ich ihr nicht einfach die Wahrheit, Jane? Dass Sie mich angefleht haben, Sie mitzunehmen.“

Fassungslos starrte sie ihn an.

Was er seiner Dienerschaft über sie mitteilen wollte, war ihr recht gleichgültig gewesen. Sie hatte kaum einen Gedanken daran verschwendet. Schließlich konnte sie davon ausgehen, dass keiner der Diener es wagen würde, den Duke wegen seiner Handlungen zur Rede zu stellen. Eine eigenwillige junge Schwester hingegen würde ihre Anwesenheit wohl kaum wortlos zur Kenntnis nehmen.

Aha, dachte Hawk. Endlich hatte er sie also aus ihrer kühlen Reserviertheit herausgerissen. Andererseits kränkte es ihn, dass Jane, ihrem betroffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, jetzt seine Motive infrage zu stellen schien. Und dass sie befürchtete, dass seine kleine Schwester diese Zweifel teilen könnte.

Bevor er den Titel geerbt hatte, hatte er ein ähnlich ausschweifendes Leben geführt wie Sebastian jetzt. Jahrelang hatte er mit seinen leichtlebigen Freunden gezecht und sich mit Dirnen herumgetrieben. Doch als Duke hatte er sein Leben notwendigerweise anders gestalten müssen. Nach außen hin gab er sich kühl und distanziert, und seine Affären hielt er, wie Sebastian neulich zu seinem Leidwesen festgestellt hatte, diskret vor der Öffentlichkeit verborgen. Dass Jane auch nur einen Moment denken konnte, er würde sie als Geliebte mit nach Mulberry Hall bringen, war unerhört.

So unerhört, dass er sie für ihr Misstrauen ein wenig leiden lassen wollte.

„Bleiben Sie unbesorgt, Jane“, meinte er leichthin und lehnte sich gemächlich zurück. „Niemand, nicht einmal meine Schwester, wird es wagen, die Position, für die ich Sie in meinem Haushalt vorgesehen habe, infrage zu stellen.“

Jane erschrak. Was für eine Position meinte er? Hatte sie den Duke bisher missverstanden? Er war doch so besorgt darüber gewesen, dass sie ohne Begleitung in seiner Gesellschaft reiste. Erwartete er etwa von ihr, ihn für seine Hilfe zu entschädigen, indem sie seine Geliebte wurde?

„Kommen Sie, Jane.“ Er beugte sich abrupt vor und ergriff ihre Hände. „Als wir vor zwei Tagen gemeinsam in den Dünen waren, haben Sie mir nicht den Eindruck vermittelt, Sie würden meine … Aufmerksamkeiten abstoßend finden.“

Tatsächlich fand Jane nichts abstoßend am Duke of Stourbridge. Die leichte Berührung ihrer Hände reichte aus, damit sie wieder jenes Verlangen verspürte, das sie in den Dünen so verwirrt hatte. Seitdem hatte sie immer wieder davon geträumt, noch einmal so zu empfinden.

Er hatte Gefühle in ihr erweckt, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Auch jetzt spürte sie seine unvergleichliche Anziehungskraft und konnte sich nicht von seinem Blick lösen.

Natürlich wusste Hawk, dass er sofort aufhören sollte. Er sollte Janes Hände loslassen und sich von ihr fernhalten. Doch als er ihre leicht geöffneten, verführerischen Lippen betrachtete, packte ihn der unwiderstehliche Wunsch, Jane in die Arme zu ziehen und zu küssen. Sein ganzer Körper drängte danach. Vor zwei Tagen, am Strand, hatte er der Versuchung widerstanden, aber jetzt hatte er nicht die Kraft dazu. Die Lider halb gesenkt, zog er sie mühelos, als würde sie nichts wiegen, auf seine Knie, schlang die Arme um sie und küsste sie.

Ihre Lippen waren so weich und zart, wie er sie sich vorgestellt hatte, und die Haut ihrer Arme fühlte sich weich und glatt an wie Satin. Hawk legte ihr eine Hand in den Nacken, um den Kuss noch zu vertiefen.

Heiße Leidenschaft durchflutete ihn, verzehrend und wild, und er drang verlangend mit der Zunge ein. Ein Duft wie von exotischen Blumen ging von ihr aus und ein Hauch von erotischer Erregung, der ihm verriet, dass Jane seine Aufmerksamkeiten alles andere als gleichgültig waren. Dass sie ganz im Gegenteil die gleiche heiße Begierde empfand wie er.

Er stöhnte leise auf, während er sie weiter küsste, als wollte er süßen Nektar von ihren Lippen trinken. Ungeduldig, mit bebenden Fingern strich er ihr über den Rücken und umfasste dann eine ihrer vollen Brüste.

Jane war wie berauscht von Hawks Küssen. Dann spürte sie seine Hand auf ihrer Brust, und ihr Puls begann zu rasen. Der Atem stockte ihr, als er die aufgerichtete Knospe reizte, und jene schon beinahe vertrauten Schauer der Lust ließen sie am ganzen Leib erzittern.

Sie wusste nicht, was zwischen einem Mann und einer Frau ablief, wenn sie gemeinsam im Bett lagen. Sie kannte nur Lady Sulbys Warnung, jene Zusammenkünfte mit dem Gatten seien etwas, das eine Frau nun einmal über sich ergehen lassen musste, wann immer er es von ihr verlangte. Doch das hier – in Hawks Armen zu liegen und von ihm geküsst und auf diese herrliche Weise berührt zu werden –, das war nichts, was man einfach nur ertrug. Es war das Schönste, was sie je erlebt hatte!

Bedeutete das, dass ich tatsächlich nicht für die Ehe geeignet bin? fragte sich Jane. In ihren Briefen an ihren Liebhaber hatte ihre Mutter angedeutet, dass sie die intime Beziehung zu ihm genossen hatte. Gehöre ich also zu jenen schamlosen Frauen, denen es sogar gefällt, wenn ein Mann sie verführt?

Nein, das konnte nicht sein!

In ihr steckte nichts von all den Dingen, deren Lady Sulby sie beschuldigt hatte. Jane weigerte sich, das zu glauben!

Obwohl Hawk vor Begierde kaum mehr einen klaren Gedanken fassen konnte bis auf den, Jane in die Polster zu drücken und sie hier und jetzt zu nehmen, spürte er, dass sie sich plötzlich in seinen Armen anspannte.

Da wurde ihm klar, dass er diesem Wahnsinn sofort ein Ende bereiten musste, wenn er seiner Pflicht als Duke of Stourbridge – und jetzt immerhin auch als selbsternannter Vormund Janes – gerecht werden wollte. Und zwar auf eine Weise, die jede Gefahr einer Wiederholung ausschloss.

Spöttisch lächelnd blickte er ihr in das vor Erregung gerötete Gesicht. „Sehen Sie jetzt, Jane, welchen Gefahren Sie sich aussetzen, wenn Sie allein mit einem Gentleman in seiner Kutsche reisen?“ Im selben Atemzug hob er sie von seinem Schoß und setzte sie auf den Sitz ihm gegenüber.

Jane war blass geworden vor Entsetzen. „Sie … Sie haben mich nur geküsst, um mir eine Lehre zu erteilen, Euer Gnaden?

Er bemühte sich um einen gleichgültigen Ausdruck, damit sie ihm nicht ansah, wie sehr der Schmerz in ihren Augen und das Zittern ihrer leicht geschwollenen Lippen ihn berührten. „Nur zum Teil“, meinte er kühl. „Ich wollte Ihnen auch klarmachen, dass der Duke of Stourbridge es nicht nötig hat, junge Mädchen vom Lande zu erpressen, damit sie das Bett mit ihm teilen. Solche Mittel brauche ich nicht, da jene Mädchen ganz offensichtlich nur allzu willig sind, in meine Arme zu sinken.“

Entrüstet keuchte Jane auf bei dieser Anschuldigung, obwohl sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Sie kam ja wirklich gerade frisch vom Land, und sie war – wenn auch nur für einige Momente – nur allzu willig gewesen, seine Zärtlichkeiten zuzulassen. Doch gerade deswegen zwang sie sich, stolz den Kopf zu heben und seinem Blick zu trotzen. Sie kannte den Duke bereits gut genug, um zu wissen, dass er nur Verachtung für solche Menschen empfand, die nicht den Mut hatten, seinem Hochmut standzuhalten.

„Ich war keineswegs kurz davor, mit Ihnen das Bett zu teilen, Euer Gnaden.“

„Die Tatsachen sprechen gegen Sie, Jane.“

Sie hob gereizt die Augenbrauen. „Ich bin keine Lügnerin!“

„Ach, Jane. Hat Ihnen denn noch niemand gesagt, dass auch Selbsttrug eine Art von Lüge ist?“

Einen Augenblick lang juckte es sie in den Fingern, ihm dieses arrogante Lächeln von den sinnlichen Lippen zu wischen.

„Davon rate ich Ihnen dringend ab, Jane.“ Seine Stimme war leise, aber der warnende Unterton war nicht zu überhören. Ihm war offenbar nicht entgangen, wie sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. „Sie haben mein vormals so friedliches Leben bereits genug auf den Kopf gestellt, da sollten Sie mich jetzt wirklich nicht auch noch schlagen.“

Vor Entrüstung verschlug es ihr beinahe die Sprache. „Darf ich Euer Gnaden daran erinnern, dass es Ihre Entscheidung war und nicht die meine, dass ich Sie nach Gloucestershire begleite?“

„Ja, richtig.“ Er nickte verstimmt. „Eine Entscheidung, die ich bereits bereue, das versichere ich Ihnen.“

Jane schnaubte verärgert. „Das ließe sich leicht beheben.“

„Wenn Sie damit wieder vorschlagen wollen, dass ich Sie allein nach London …“

„Genau das will ich!“

„Dann schlagen Sie sich das ein für alle Mal aus dem Kopf“, fuhr er fort, ohne auf ihren Einwurf zu achten. „Den Sommer verbringen nur noch ausgemachte Wüstlinge in London, die sich auf dem Lande einfach zu sehr langweilen würden. Solche Männer sehen in Frauen wie Ihnen nichts weiter als einen unschuldigen kleinen Leckerbissen – schnell verschlungen und genauso schnell vergessen!“

„Sprechen Sie aus Erfahrung, Euer Gnaden?“, fragte Jane herausfordernd.

„Wenn es so wäre“, antwortete er in eisigem Ton, „würden Sie jetzt nicht dort sitzen, wo Sie sitzen, unberührt und unschuldig.“

„Sie sind unverschämt, Sir!“

„Ich bin ehrlich, Jane.“

Zu gern hätte sie die Anschuldigungen des Dukes bestritten. Doch wie könnte sie, wenn sie innerlich noch immer bebte von seinen Küssen und dem Gefühl seiner Hände auf ihren Brüsten?

Er lächelte selbstgefällig, als wüsste er, was sie dachte. „Haben Sie dazu nichts mehr zu sagen, Jane?“, spottete er. „Sehr schön. In dem Fall müssen Sie mir, bevor wie Mulberry Hall erreichen, versprechen, dass Sie nicht versuchen werden, nach London zu gelangen, bis ich Sie begleiten kann.“

„Sie wollen mich nach London begleiten, Euer Gnaden?“, fragte sie ungläubig.

„Ja“, erwiderte er ungeduldig. „In den nächsten Tagen muss ich mich um dringende Angelegenheiten auf meinem Gut kümmern. Danach jedoch stünde ich Ihnen zur Verfügung. Mit anderen Worten, Jane: Ich will nicht, dass Sie auch nur daran denken, allein nach London zu reisen!“

Sie runzelte die Stirn. Wie hatte der Duke ihre heimliche Absicht erraten?

„Ich möchte Ihr Wort, Jane.“ Er packte sie mit festem Griff am Handgelenk, den Blick unverwandt auf ihr Gesicht geheftet.

Verwirrt versuchte Jane, ihre wilden Gedanken zu ordnen. Wenn sie ihm ihr Versprechen gab, würde sie es halten müssen. Hatte sie ihm nicht gerade erst versichert, sie sei keine Lügnerin? Aber London hatte ja ohnehin nur eine Zwischenstation sein sollen, und ohne es zu wissen, brachte der Duke sie in unmittelbare Nähe ihres wahren Ziels.

Wäre es noch immer eine Lüge, ihm ein solches Versprechen zu geben, wenn London doch gar nicht ihr endgültiger Bestimmungsort war?

Vielleicht. In jedem Fall ließ der Duke ihr gar keine andere Wahl. Weil sie ihm nicht erlauben würde, sie irgendwohin zu begleiten. Die Angelegenheit, die sie nach Somerset führte, ihr Gespräch mit Bessie, war viel zu persönlich. Jane wollte keine Zeugen, am allerwenigsten den unnahbaren, vornehmen Duke of Stourbridge!

Also nickte sie. „Ich verspreche es Ihnen.“

Misstrauisch musterte er sie. „Was versprechen Sie mir?“

Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich verspreche, dass ich nicht versuchen werde, allein nach London zu reisen.“

Hawk fühlte sich nicht besonders beruhigt. Irgendetwas an ihren Worten klang falsch.

Er wusste nur nicht, was.

Noch nicht.

6. KAPITEL

Bevor Sie mich Lady Arabella als ihre neue Gesellschaftsdame vorstellten, hätten Sie sich vielleicht die Mühe machen können, mich davon in Kenntnis zu setzen, Euer Gnaden!“

Hawk wusste, dass er eigentlich damit hätte rechnen müssen, war aber doch erstaunt, als Jane Smith majestätisch in seine Bibliothek rauschte, um dann vor dem breiten Schreibtisch stehen zu bleiben, an dem er saß.

Ganz offensichtlich hatte ihr niemand gesagt, dass der Duke nicht gestört werden durfte, wenn er sich in die Bibliothek begab. Oder – und bei näherer Überlegung fand Hawk das sehr viel wahrscheinlicher – Jane war informiert worden, hatte es aber vorgezogen, es nicht zur Kenntnis zu nehmen.

„Haben Sie nichts zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Euer Gnaden?“, verlangte sie jetzt vorwurfsvoll zu wissen.

Hawk hatte sogar sehr viel zu sagen, zu diesem Thema sowie zu einigen anderen. Andererseits fürchtete er, dass nichts davon für Janes zarte Ohren geeignet wäre.

„Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, Jane“, begann er in trügerisch sanftem Ton, „dass Sie die einzige Person aus meinem Bekanntenkreis sind, die es wagt, mich auf diese respektlose Weise anzusprechen.“

„Tatsächlich, Euer Gnaden?“ Die Röte in ihren Wangen verriet, dass Jane nicht wirklich so unbeeindruckt war, wie sie Hawk glauben machen wollte. „Sie überraschen mich.“

„Ja?“ Hawk erhob sich ruhig und kam langsam um den Schreibtisch herum, ein zufriedenes Lächeln um die Lippen, als Jane unwillkürlich vor ihm zurückwich. „Mir scheint eher, Sie sind wieder einmal entschlossen, sich selbst etwas vorzumachen.“

Stimmt das? dachte Jane, plötzlich ein wenig atemlos. Vielleicht. Sie war bei ihrer Ankunft völlig überwältigt worden, als die Kutsche ein imposantes Eisentor passiert und erst nach einer fünfzehnminütigen Fahrt das eigentliche Herrenhaus erreicht hatte. Sie hatten Rehe und Rinder passiert, die frei auf der leicht hügeligen Parklandschaft grasten, bis die Kutsche über eine mit Eibenbäumen gesäumte Auffahrt einen breiten Hof erreicht hatte und Mulberry Hall, in den sanften Schein der Spätnachmittagssonne getaucht, vor ihnen sichtbar geworden war.

Jane hatte nur staunen können über die Pracht des Herrenhauses, nachdem der Duke ihr aus der Kutsche geholfen hatte. Aus weichem Sandstein erbaut, wies es, wie es schien, Hunderte von Fenster an seiner Fassade auf und einen breiten Balkon über dem breiten Eichenportal.

Ein Türflügel war weit aufgerissen worden, kaum dass der Duke einen auf Hochglanz polierten Stiefel auf die unterste Stufe der Steintreppe gesetzt hatte. Ein ältlicher Butler hatte seinen Herrn begrüßt und sich mit besorgter Herzlichkeit erkundigt, ob die Reise angenehm verlaufen war. Jane hatte weiterhin fasziniert ihre Umgebung bestaunt und war zu dem Schluss gekommen, dass ganz Markham Park leicht in die gigantische Eingangshalle von Mulberry Hall hineingepasst hätte.

Das Schlafzimmer, das man ihr zugeteilt hatte, erwies sich als eine weitere angenehme Überraschung im Vergleich zu dem winzigen Kämmerchen, das sie zwölf Jahre lang auf Markham Park bewohnt hatte. Dieser Raum wies einen glänzenden Parkettboden, helle sonnengelbe Wände und ein Himmelbett auf, das mit dem gleichen goldfarbenen Damaststoff geschmückt war wie die beiden Fenster. Von hier, stellte sie fest, hatte sie einen wunderschönen Ausblick auf die weite Parklandschaft.

Noch ganz bezaubert von ihrer neuen Umgebung, war sie nach unten gegangen, und ein Lakai hatte sie in den Salon geführt, wo der Duke und seine Schwester bereits ihren Tee zu sich nahmen.

Und dann hatte der Duke ihre Stimmung verdorben, als er seiner Schwester verkündet hatte, dass Lady Hammond – wer immer das auch sein mochte – leider seit ihrem Aufenthalt in London unpässlich sei und Jane deswegen von nun an Lady Arabellas neue Gesellschafterin sein würde. Sobald der Duke sich allerdings entschuldigt und die beiden Frauen allein gelassen hatte, hatte Lady Arabella ihr prompt mitgeteilt, dass sie keinesfalls eine Gesellschafterin benötigte!

Lady Arabella war um einiges größer als Jane und trug die gleichen schönen, aristokratischen Züge wie ihr Bruder, doch ihre Augen waren dunkelbraun, und ihr Haar war blond, mit Strähnen in einem Honigton, während das Haar des Dukes dunkler war und hier und da hellere Strähnen aufwies.

Einige Momente in der Gesellschaft der jungen Dame hatten Jane außerdem gezeigt, dass Lady Arabella auch die herrische Art ihres Bruders geerbt hatte.

Verstimmt presste sie die Lippen zusammen, als sie an das unbehagliche Gespräch zurückdachte, und wandte sich erneut steif an den Duke. „Es tut mir sehr leid, wenn Ihnen mein Ton nicht gefällt, Euer Gnaden …“

„Nein, Jane, er gefällt mir ganz und gar nicht“, versicherte er ihr ruhig. „Und muss ich Sie schon wieder darauf hinweisen, dass wir uns auch jetzt nicht in Gesellschaft anderer Leute befinden?“

Er mochte sie so oft darauf hinweisen, wie es ihm gefiel, aber seit sie auf dem Familiensitz des Dukes angekommen war und erlebt hatte, mit welcher Ehrerbietung, ihm das Personal begegnete, war sie sich noch viel mehr der gesellschaftlichen Kluft bewusst geworden, die sie beide trennte.

Auf ganz andere Weise wurde ihr nun bewusst, dass sie allein mit ihm im Raum war. Vor allem jetzt, da er sich erhoben hatte und vor dem riesigen Mahagonischreibtisch stand. Denn dadurch erkannte sie, dass der Duke wirklich nicht damit gerechnet hatte, gestört zu werden. Er hatte den königsblauen Rock und die Weste, die Jane zuvor so bewundert hatte, abgelegt und sein Krawattentuch gelockert. So kurz nach dem Kuss in der Kutsche fand Jane seine etwas zwanglose Erscheinung mehr als nur ein wenig aufwühlend.

Hawk runzelte die Stirn, als er sah, dass ihr heftige Röte in die Wangen stieg. „Beunruhigt Sie irgendetwas, Jane?“

„Außer der Tatsache, dass Sie mich einfach zur Gesellschafterin Ihrer Schwester ernennen, ohne es mir zuvor mitzuteilen?“

Spöttisch lächelnd verschränkte Hawk die Arme vor der Brust. Zu seiner Befriedigung wandte Jane hastig den Blick ab. „Wenn ich mich recht erinnere, wurde unser Gespräch darüber, welchen Platz Sie hier auf Mulberry Hall einnehmen sollten, irgendwie … unterbrochen.“

Er wurde mit einem noch heftigeren Erröten belohnt. „Das mag ja sein“, wiegelte Jane ab. „Aber meine angebliche Aufgabe hier war ja offensichtlich genau so eine Überraschung für Lady Arabella wie für mich!“

Sein Lächeln verschwand. „Hat meine Schwester etwas gesagt, das Sie bekümmert hat?“

Jane wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Lady Arabella ist ganz zu Recht verstimmt darüber, dass man ihr so plötzlich eine ihr völlig unbekannte Person aufzwingt, noch dazu …“

„Wie verstimmt?“

Jane schluckte betroffen, da sie inzwischen gelernt hatte, den täuschend sanften Ton des Dukes nicht zu unterschätzen. Seine kühle Miene verhieß nichts Gutes für Lady Arabella.

„Kommen Sie schon, Jane. Auf welche Weise hat meine Schwester ihr Missfallen ausgedrückt?“

Jane fühlte sich in Gegenwart des Dukes auf einmal sehr unwohl. Sie hätte das Thema am liebsten einfach fallen gelassen. Tatsächlich wünschte sie, sie hätte gewartet, bis ihre eigene Wut verraucht war, bevor sie ihn damit behelligte.

Allerdings war es dafür zu spät. Der Duke wartete auf ihre Antwort, äußerlich scheinbar gelassen.

Trotzig hob sie das Kinn. „Ich wollte keinesfalls andeuten, Lady Arabella hätte ihrem Missfallen Ausdruck verliehen. Mir schien ganz einfach nur – obwohl Ihre Schwester dies nicht direkt sagte –, dass sie mich für eine Art Spion in Ihren Diensten hält, Euer Gnaden.“

Hawk richtete sich zu seiner beachtlichen Größe auf und sah finster auf Jane hinab. „Ein Spion, Jane? Und warum sollte meine Schwester annehmen, ich würde einen Spion auf sie ansetzen? Es sei denn …“ Er brach ab, und seine Miene wurde noch finsterer. „Verdammt, was hat dieses Mädchen jetzt schon wieder ausgeheckt?“

„Euer Gnaden?“

Er wandte sich ab und trat ans Fenster, obwohl er in seinem Zorn sowieso nichts von der wunderschönen Aussicht wahrnahm. „Lassen Sie mich jetzt allein, Jane. Kehren Sie in den Salon zurück, und sagen Sie Lady Arabella, dass ich sie zu sehen wünsche. Jetzt. Sofort. Haben Sie gehört, Jane?“ Er wandte sich verärgert um, als er bemerkte, dass sie keine Anstalten machte, seiner Anweisung zu folgen.

„Ich … Zu welchem Zweck, Euer Gnaden?“

Hawk blieb regungslos, während er ihr trotzig gerecktes Kinn betrachtete, die fest zusammengepressten Lippen und das herausfordernde Glitzern ihrer dunkelgrünen Augen, die seinem Blick keinen Moment auswichen.

Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn, wie er selbst zugeben musste. Für gewöhnlich wurden seine Wünsche erfüllt, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. Umso außerordentlicher war es, wenn sich ihm jemand widersetzte, wie es Jane unentwegt tat. Meist hatte diese unerwartete Haltung ihn eher belustigt, doch jetzt, da es um seine junge Schwester ging, konnte er sie unmöglich dulden!

Er hob hochmütig die Augenbrauen. „Der Zweck meiner Anweisung geht Sie nichts an, Jane.“

„Das tut er sehr wohl, da sie eine Reaktion auf etwas ist, das ich gesagt habe. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Lady Arabella eine solche Anweisung zu geben, wenn Sie vorhaben, ihr einen ungerechtfertigten Verweis zu erteilen oder gar grausam zu ihr zu …“ Sie brach ab, erschrocken über die Art, wie die Miene des Dukes sich bedrohlich verfinsterte.

Als er zum Tisch zurückging, sich auf die geballten Fäuste aufstützte und vorbeugte, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, stockte Jane der Atem.

Seine Augen blitzten gefährlich, die Lippen waren zu einer unnachgiebigen Linie zusammengepresst, und seine Stimme klang leise, aber vernichtend, als er schließlich sprach. „Ich kann mir nicht vorstellen, Jane – und zwar beim besten Willen nicht –, was ich bloß getan habe während unserer kurzen Bekanntschaft, das Sie glauben macht, ich könnte meiner Schwester – wie nannten Sie es noch gleich? – einen ungerechtfertigten Verweis erteilen, geschweige denn grausam ihr gegenüber sein. Das waren doch Ihre Worte, oder?“

„Hören Sie auf, Euer Gnaden!“, rief Jane bestürzt, da sie ihn noch nie so zornig gesehen hatte. „Wenn Sie mich anschreien wollen, dann wäre es mir lieber, Sie täten es einfach und brächten es hinter sich. Aber spielen Sie um Himmels willen nicht mit mir wie die Katze mit der Maus.“ Sie hielt inne, als er ein humorloses Lachen ausstieß. „Amüsiere ich Sie, Euer Gnaden?“, fragte sie ein wenig ungehalten.

Autor

Carole Mortimer
Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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